Die Eröffnung 100 Jahre Salzburger Festspiele – im Balkon des Gloria-Palasts an Münchens Karlsplatz auf einem bequemen, weichen Sessel mit viel Beinfreiheit – hat etwas. Neben sich auf dem Tischchen ein Kir Royal. Unter Wahrung der in Bayern geltenden Abstandsregeln ist noch viel mehr Platz als sonst. Wenige Tage später dann das live-Erlebnis in der Felsenreitschule, wo das Prinzip des Schachbretts mit jedem zweiten Platz gilt. Der riesige Raum wirkt dennoch gut gefüllt. Das Erlebnis der Bühne, 1693 für die Reitschule des Erzbischofs in den Fels des Mönchsbergs gehauen, und seit 1926 zunächst für Schauspiel-Aufführungen unter freiem Himmel genutzt, passt perfekt zur Archaik der „Elektra“ von Hofmannsthal/Strauss. Und Mozarts „Così fan tutte“: auf der großen Bühne im Festspielhaus! (Von Klaus Kalchschmid)
(1./ 3./ 6./ 7. August 2020, Salzburg/ München) Was im Kino etwas befremdet hat, entwickelt in der live-Elektra sofort große Wirkung. Klytämnestra (Tanja Ariane Baumgartner) tritt noch vor dem unerbittlich eröffnenden Musikdrama ans Mikro. Minutenlang erklärt sie an der Rampe, bebend wie im Blutrausch, mit dem Text der Tragödie des Aischylos, auf dem Drama und Libretto Hugo von Hofmannsthals ja fußen, warum sie eben ihren Gatten umgebracht hat und welche Befriedigung sie dabei fühlt. Später ist sie ein großartig raumfüllend singendes und agierendes, durchaus elegantes Muttermonster, aber nichts weniger als eine Karikatur. Im Finale dann spritzt mit der dritten Messer-Attacke gegen sie durch Sohn Orest ihr Blut über die ganze Rückfront der Felsenreitschule. Immer mehr Fliegen saugen es auf. Die Kamera fährt zurück und der stetig größer werdende Schwarm dieser Insekten dreht sich immer schneller, während Elektras (Todes-)Tanz sich halb im Liegen ereignet. Der finale Fortissimo-Schrei des Orchesters lässt nach dem Blackout das Publikum mit deutlich erhöhtem Herzschlag zurück.
Auch die Nebenfiguren sind zeitlos elegant und teuer gekleidet. Das passt für Salzburg, wo heuer das Schaulaufen und die Pracht der Gewandung allerdings deutlich sparsamer ausfällt
In der Nahaufnahme und noch dazu auf Großleinwand kann man jeder
seelischen Erregung Elektras folgen, auch wenn sie in diesem
riesigen Warte- oder Umkleidesaal mit metallisch verspiegelten, halbhoch vor den Stein der Felsenreitschule gebauten Wänden nur am Rand sitzt und wartet.
Das gelingt auch live aus Reihe 26, denn vieles zeigen Körperhaltung und -drehung. Noch beeindruckender als sonst gelingt die Erkennungsszene Elektra-Orest. Derek Waltons Auftritt mit sattem, wunderbar weichem Bariton zum Klang der tiefen, bronzenen Holzbläser ist nach einer Stunde weiblichen Hochdruckgesangs eine Wohltat. Wenn das Geschwisterpaar sich erkennt, drückt anfangs einzig die orchestrale Musik Freude darüber aus. Und der alte Diener mit einem Holz-Pferdchen, das er von den Knabenspielen des kleinen Orestes all die Jahre aufbewahrt hat. Bruder und Schwester aber verstecken ihre Gesichter in den Händen. Es dauert eine gefühlte Ewigkeit, bis eine Umarmung möglich ist. Denn Elektra wehrt die Zuneigung von Orest immer wieder mit der Hand zugleich vehement ab, krallt sich aber auch an seinem Pullover wie einem letzten Rettungsanker fest. Da ist er endlich wieder, nach exakt fünf Monaten der schmerzhaften Abstinenz von allem intensiven Live-Musiktheater: der große, bewegende Moment in einer Oper, auf den man wie Elektra so lange warten musste und nun damit so unverhofft und alle Sinne berührend, einzigartig beschenkt wird. Frei nach Kafka könnte man schreiben: „In der Oper gewesen: Geweint.“
Deshalb wird alles an diesem Abend zu einem besonderen Ereignis. Nicht zuletzt die 40 Meter breite Bühne, gestaltet von Warlikoswkis kongenialer Bühnenbildnerin Małgorzata Małęśniak (Siehe auch klassifavori In einem Totenhaus): Rechts von einem großen, violettrot ausgeschlagenen gläsernen Kubus, der auf der linken Seite den Palast und zugleich ein Gefängnis darstellt, dient ein schmales, langes Wasserbassin (mal hellblau, mal grau leuchtend) den Mägden und einem Kinderpaar zur Entspannung. Es steht aber für Reinigung und ein Ritualbad vor dem Mord an Klytämnestra und Ägisth. Ungemein verführerisch und faszinierend das Spiel der Wiener Philharmoniker, die das Werk hunderte Male gespielt haben und Franz Welser-Möst in jedem Moment traumwandlerisch sicher folgen. Vom leisesten Gespinst über die leidenschaftlich sinnliche Kantilene bis zum gewaltigen Ausbruch, der in der Akustik der Felsenreitschule manchmal klingt, als hätte jemand einen imaginären Regler kurz voll aufgedreht. Grandios!
Tiefe und Widersprüchlichkeit der Gefühle und erotische Empfindungen werden in Mozarts Così berührt, wie es moderner nicht sein könnte
Tags zuvor Mozarts kammermusikalische Erotik-Tragikomödie Così fan tutte; wohl zum ersten Mal in der Geschichte der Festspiele – dem Virus geschuldet – auf der Riesenbühne des Großen Festspielhauses mit seinen 2179 Sitzplätzen. Davon konnte vielleicht knapp die Hälfte besetzt werden. Eine gleißend weiße Reliefbühne, in die zwei Türen eingelassen sind, wird einschließlich sechs Treppenstufen, die in den Orchestergraben hinein absteigen, bespielt. So bekommt man jede Feinheit dieser so infamen und zugleich anrührenden und nachvollziehbaren „Treueprobe“ mit. Denn dank der oft schwarzen Kostüme und einer eminent klaren und präzise choreographierte Personenregie wirkt vieles wie im bewegten Scherenschnitt. Diese „Schule der Liebenden“, so der Untertitel spielt in den 24 Stunden der Handlung alle Möglichkeiten und Abgründe des Liebens und Begehrens durch. Dabei werden Tiefe und Widersprüchlichkeit der Gefühle und erotischen Empfindungen eines Menschen zu einem Anderen, zu seiner Seele, seinem Geist und seinem Körper unmittelbar berührt, wie sie moderner nicht sein könnten. Nur einmal, als die Gefühlsverwirrung ihren Höhe- (oder Tief-)punkt erreicht, öffnet diese Wand sich überaus langsam und gibt eine riesige Platane frei, vielleicht eine Anspielung auf die sogenannte Mozart-Platane in Wien, an der der Komponist oft vorbeigegangen sein soll.
Regisseur Loy kann ernsthafter und prägnanter inszenieren, als es das ungekürzte Original erlauben würde
Die notwendige Strichfassung, sodass pausenlos und nicht weit über zwei Stunden dauernd gespielt werden konnte, ist äußerst geschickt: Mal fehlt ein kleines, durchaus verzichtbares Terzett oder Duettino der Männer, mal ein paar Takte Rezitativ oder ein langes wird auf zwei für das Verständnis notwendige Verse gekürzt. Mal fehlt die Wiederholung eines Chors oder eine Arie von Guglielmo, Ferrando und Despina, die nicht wirklich für die Handlung essentiell sind. So wird ein Viertel des dreistündigen Stücks eingespart, also etwa 45 Minuten, ohne dass nichts wirklich Wichtiges fehlt. Im Gegenteil. Alle Arien der Frauen werden beibehalten. Sogar die oft gestrichene, aber dramaturgisch und inhaltlich gewichtige zweite der Dorabella. Derart gestrafft, kann sich Loy auch erlauben, weit ernsthafter und prägnanter zu inszenieren, als es das ungekürzte Original erlauben würde.
Dass er dabei immer aus der Musik heraus Regie führt, ohne sie zu verdoppeln, ist seiner langjährigen Erfahrung mit dem Werk zu schulden.
Trotzdem überrascht, wie der Regisseur stets Wert darauf legt, dass Guglielmo und Ferrando trotz kaum merkbarer Irritationen bis zum Ende des ersten Akts, ihre eigenen Verlobten anhimmeln. Dass sie dann just von ihnen eine Ohrfeige kassieren, als sie einen Kuss fordern, lässt viele Deutungen offen. Erkennen vielleicht die jungen Frauen ihre Männer, die sie noch nie körperlich berührt haben, und schrecken vor dieser Attacke zurück? Loy setzt ganz auf die Verabredung von Publikum und Spieler: Wir müssen einfach glauben, dass die Frauen ihre Männer nicht erkennen, die nur anders gekleidet sind und sich anders verhalten, aber im Gesicht keinerlei Veränderung zeigen. Kurze Hosen, buntes Sakko und Hemd, linkischer Auftritt: Das reicht, die Jungs quasi unerkennbar zu machen. Selbst ein Don Alfonso (Johannes Martin Kränzle) ist hier nicht zynischer Drahtzieher, sondern mittelalterlicher Mann mit Erfahrung, der sich bewegt seiner eigenen Jugend erinnert und den Tränen nahe ist, wenn Ferrando mit traumhaft schön schwebendem Tenorglanz sein bewegend liebevoll ätherisches „Un aura amorosa“ anstimmt.
Christoph Loy und Dirigentin Joana Mallwitz präsentieren ein wunderbares Sextett
Loy und Dirigentin Joana Mallwitz konnten ein wunderbares Sextett um sich scharen: Allen voran Elsa Dreisig als Fiordiligi, die schon nach „Come Scoglio“ in Ohnmacht fällt und mit wunderbar lasiertem, ungemein durchlässigem und zart expressivem Sopran eine Frau verkörpert, die mit unmenschlicher Energie sich ihren Gefühlen entgegenstellt. Das hat Mozart im Duett mit Ferrando (sehr jungenhaft sanft und doch entschieden mit feinem lyrischen Tenor: Bogdan Volkov) herrlich auskomponiert. Dunkler, auch in der Haarfarbe und extrovertierter im Temperament wie in den Gefühlen: Mezzo Marianne Crebassa als ihre Schwester Dorabella. Wie sie von Guglielmo (kernig und doch von jungmännlicher Scheu: Andrè Schuen) verführt wird, ist zugleich unschuldig und hoch erotisch aufgeladen, genau wie Mozart es komponiert hat. Dass am Ende beinahe glücklich und erleichtert die „alten“ Paare sich (wieder-)finden, steht der Aufführungstradition der letzten Jahrzehnte entgegen und ist doch nur konsequent in dieser Produktion.
Mallwitz und ein außerordentlich sensibler und flexibler Mann am Cembalo für die Rezitative – Nicholas Rimmer – finden goldrichtige Tempi, viele leise Töne und stets die richtige Balance zu den Sängerinnen und Sängern. Am Ende großer Jubel im Großen Festspielhaus. Und würde Helga Rabl-Stadler, die Festspielpräsidentin seit Jahrzehnten, die zum mutmaßlichen Abschied all ihre vielfältigen Beziehungen nutzte und wie eine Löwin für diese konzentrierten Festspiele kämpfte, zum Applaus erscheinen, der würde nicht endenwollend sein!
Elektra ist auf Arte Concert bis 30. Oktober 2020 abrufbar und wird von 3SAT am 15. August gesendet. Così fan tutte ist auf Arte Concert bis 31. Oktober 2020 zu erleben.