Warlikowski erzählt Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus für Brüssel. Und stellt das System Gefängnis zur Diskussion!

Ganz links im Käfig: Sir Willard White als Gorjančikov, Alexander Vassiliev als Gefängnisgouverneur; daneben: Štefan Margita als Luka, Graham Clarke, ein älterer Gefangener und Nickey Spencer, ein kleiner Gefangener. Foto: Bernd Uhlig
Ganz links im Käfig: Sir Willard White als Gorjančikov, Alexander Vassiliev als Gefängnisgouverneur; daneben: Štefan Margita als Luka, Graham Clarke, ein älterer Gefangener und Nickey Spencer, ein kleiner Gefangener. Foto: Bernd Uhlig

„Die Erfindung des Gefängnisses als legale Bestrafung verfehle seit ihrer Erfindung ihr erklärtes Ziel“. Der große französische Philosoph Michel Foucault ist im Bild. „Welche Rolle spielt das Gesetz oder der Richter?“ Die militärische und schulmeisterliche Gefängniskontrolle jedenfalls demütige, zerbreche und sorge lediglich dafür, dass Straftäter Straftäter blieben. Das Filmdokument stammt wohl aus den 1970er Jahren. Sicherlich hat sich der Strafvollzug seitdem verbessert. Was Fjodor Dostojewsky in einem sibirischen Gefangenenlager am eigenen Leib erfahren hat, bestätigt allerdings Foucault. Eine schockierende Erfahrung von Habgier und Brutalität der Mitgefangenen, die vor allem eines nicht zeigten, Reue. In seinen halbbiografischen „Aufzeichnungen aus einem Totenhaus“ verarbeitet Dostojewsky seine vierjährige Omsker Festungshaft. Leoš Janáček greift in seiner letzten Oper darauf zu. Warum der Schöpfer großer Frauenfiguren diesen männlich dominierten Stoff in seinem letzten Bühnenwerk vertonen wollte, bleibt eine offene Frage. Wollte er den Gegenbeweis antreten, dass es für jeden Gefangenen doch einen Funken Hoffnung geben könnte? Er lässt sie zu einer hochemotionalisierten Musik zu Wort kommen, die man fast nicht aushalten kann. (Von Sabine Weber)
(06.11.2018, La Monnaie, Brüssel) Vielleicht liegt die Intensität auch in der Parallelwelt, die Krzysztof Warlikowski im Théâtre Royal de la Monnaie wohl in einem US-amerikanischen Gefängnis auf die Bühne bringt. Das Szenario kennen wir aus Spielfilmen. Und Männer kann Warlikowski! Alles Männer – auch die Hosenrolle des Aljeja wird hier von einem Tenor (Pascal Charbonneau) übernommen. Die meisten mit Glatzkopf und Tattoos in roten oder blauen Overalls, auch mal in Fliegerseide. Unentwegt spielen sie sich auf, mit obszönen Bewegungen, sie provozieren sich, schlagen sich oder ziehen gleichgültig ihr Gruppenspiel ab, während in dem Bürokasten nebenan ein neuer Häftling verprügelt wird. Das ist Gorjančikov, Typ Nelson Mandela oder Morgan Freeman (Sir Willard White), der gerade inhaftiert wird. Er wird zu einer Art Lichtfigur,

Aljejo und Goryančikov. Foto: Bernd Uhlig
Aljeja und Gorjančikov. Foto: Bernd Uhlig

die den jungen Aljeja unter seinen Fittiche nimmt und ihm sogar Lesen und Schreiben beibringt. Eine Handlung gibt es in dem Stück nicht. In jedem der drei Akte steht die Erzählung eines Gefangenen – oftmals in einer Art Mischung von Rezitation und Sprechgesang bis hin zu Schreien, immer dem Duktus des tschechischen Sprachrhythmus folgend – im Zentrum. Darin geht es frappierender Weise oft um eine Frau, die misshandelt und ermordet wurde. Mit Frauen – auch Riesenfrauenplüschfiguren – wird an diesem Abend nicht zimperlich umgegangen. Janáček hat eine Prostituierten-Rolle vorgesehen.

Natascha Petrinsky als Prostituierte. Foto: Bernd Uhlig
Natascha Petrinsky als Prostituierte. Foto: Bernd Uhlig

Natascha Petrinsky hat wenig zu singen, dafür in ihren metallic-farbenen Hotpants und weißen Cowboystiefeln umso mehr darzustellen. Auch wenn man nicht so auf diese Männersichten steht, es ist beeindruckend, wie Warlikowski die fehlende Handlung durch ein real pulsierendes Szenario ersetzt, vor denen die Schicksalserzählungen Plastizität gewinnen. Auch während des zweiten Akts, wo es ein Theater im Gefängnistheater gibt. Der Kasten (Bühnenbildnerin Małgorzata Szczęśniak) schiebt sich in die Mitte und liefert das Podium für eine Don-Juan-Pantomime. Don Juan erscheint im Conférencier-Jackett, begleitet von vier akrobatischen Street-Dancern. Vor dem Tanz der schönen Müllerin, eine Travestienummer, während der drei Männer im Spiel abgemurkst werden, rotes Konfetti fliegt jedes Mal hoch und die Gefangenen johlen, greift Skuratov (Ladislav Elgr, der einzige Tscheche im Ensemble) zum Mikrofon und erzählt von seinem Mord. Am Ende ist er so Testosteron-gesteuert, dass er Aljejo mit dem Messer verletzt.
Es geht hier unentwegt um Gewalt, die Janáček mit seiner Klangwelt mitträgt. Dirigent Michael Boder jagt das Orchestre symphonique de la Monnaie durch eine extrem spannungsgeladene Partitur. Es rasseln Ketten. Ratsche, Hammer und Amboss gehören auch zum Schlagzeug. Piccoloflöten reizen einige Male extreme Höhen bis zur Schmerzgrenze aus. Die Violine spielt solistisch auf. Es gibt auch volksmusikalisch angehauchte Melodien oder Tanzrhythmen, die in ihrer vermeintlichen Harmlosigkeit umso mehr von Verzweiflung sprechen oder mit Synkopen durchzogen eine Stimmung von Getriebenheit vermitteln. Oftmals unterbrochen von reinen Schlagzeugeinlagen. Immer wieder extrem aufgebaute Spannungsbögen, die mit teilweise minimalistischen Motiven beginnen, die bohren, bis sie unter gewaltigen Blecheinwürfen brutale Gewalt entwickeln. Nach der Verletzung Aljejos, der am Beginn des dritten Aktes vorne in einem Krankenbett liegt, überrascht auch mal eine ganz ruhige Szene. Jetzt kommt der längste Monolog. Der Gefangene Szapkin (Peter Hoare) breitet sein Schicksal aus, unterbrochen von Chorkommentaren. Der chœur d’hommes de La Monnaie hat eine tragende Rolle. Er singt am Anfang, einmal hinter der Bühne, und wieder im Finale, wenn sich der Bühnenkasten an den ursprünglichen linken Rand zurück geschoben hat. Gorjančikov wird entlassen, warum, weiß er nicht. Dafür erkennt Luka (Štefan Margita), angekettet an ein Waschbecken, dass er am Schicksal Szapkins durch eine widerliche Denunziation eine Mitschuld trägt. Bei der Entlassung Gorjančikovs stellt sich sogar ein überraschendes Mitgefühl seiner Mitgefangenen ein, etwa so etwas wie ein Abschiedsschmerz, weil sie eine Beziehung zu ihm aufgebaut haben? Warlikowski hat einen jungen Basketballspieler als Figur eingefügt, der noch vor den ersten Tönen den Gefängnishof mit Würfen auf einen Korb belebt hat. Er wird gleich im ersten Akt von einem Gefangenen verletzt, dann im Rollstuhl geschoben, steht im Finale auf und wirft unter Beifall und Freiheitsrufen der Mitgefangenen wieder auf den Korb. Er ist die Verkörperung des gefangenen Adlers, den Janáček als Symbolträger eingeführt hat und der zum Schluss wieder ‚frei-fliegen‘ kann. Ein Hoffnungsbild, das aber auch wieder entfliegt? Denn das Gefängnisleben geht weiter…
In Brüssel – in Koproduktion mit Covent Garden, wo bereits Premiere gefeiert wurde, und nächstes Jahr in Lyon – wird auf die aktuelle Fassung des Janáček-Spezialisten John Tyrrell zurück gegriffen und nicht auf die um eine positive Schlussapotheose ergänzten Fassungen der ersten Herausgeber, die auch der Verständlichkeit halber viel Text gestrichen haben. Janáček hat sein letztes Werk ja nicht mehr vollenden können. Man muss natürlich viel Text verfolgen und ist von der Gewaltigkeit des Bühnengeschehens permanent in Anspruch genommen. Alles ist gewaltig fokussiert. Musik, Bild, Spiel, Gesang. In dieser Produktion auch für den Zuschauer und bis zur letzten Erschöpfung. Großartiges Rollen-Casting ohne Abstriche. Diesem gewaltigen Eindruck kann sich am Abend keiner entziehen. Und es geht sogar so weit, dass man sich danach selbst fragt, was denn das Gefängnis unserer gefangenen Existenzen bedeute?

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