Zum Saisonauftakt zeigen die beiden Hausorchester der Kölner Philharmonie, das WDR-Sinfonieorchester und das Gürzenich-Orchester, ihre Stärken. Intensität und Tiefe!

Im Sport würde man jetzt warnen: „Die sind ja in einer gefährlich guten Frühform!“ Aber wer die beiden Orchester und ihre Dirigenten in den letzten Jahren begleiten durfte, kann beruhigt antworten, dass diese großartige Verfassung die Normal-Form ist! Sowohl das WDR Sinfonieorchester als auch das Gürzenich-Orchester beglücken das Publikum an diesem Auftaktwochenende der Saison mit gelungenen Konzerten und brillanten Solisten in der Kölner Philharmonie.
(Von Jukka Hoehe)

(Kölner Philharmonie, 7. und 9. September 2018) Den Auftakt hat das WDR Sinfonieorchester unter Jukka-Pekka Saraste am Freitag gegeben. Saraste verlässt das Orchester nach dieser Saison. Und das Orchester scheint seinem Chefdirigenten den Abschied durch Präsenz und Einsatz so schwer wie möglich machen zu wollen. Schon beim Betreten der Philharmonie ist eine besondere Atmosphäre zu spüren gewesen. Eine Mischung aus Vorfreude, natürlich auch auf einen besonderen Solisten, aber auch eine Anspannung in Erwartung eines Konzertabends, der besonders zu werden verspricht.

Eröffnet wird mit Igor Levit und Brahms 1. Klavierkonzert in d-moll. Ein Werk, das den Zuhörer in besonderer Weise „dazu-fühlen“ lässt. Auch ohne Werkgeschichtswissen. Es lässt sich natürlich noch mehr hineinspekulieren. Ist es etwa dem Andenken Schumanns gewidmet? Oder ist es vielleicht sogar seine allererste (versteckte) Sinfonie, die ja dann so lange auf sich warten ließ? Es beginnt jedenfalls sinfonisch und tragisch. Vom ersten Takt an konzentriert sich Saraste auf die Durchhörbarkeit der Architektur. Das kommt dem Gesamtwerk zugute. So hat er es bei der Einspielung sämtlicher Sinfonien von Brahms und Beethoven in den letzten beiden Jahren auch gemacht. Die Orchestereinleitung trägt bereits die Größe und Tragik des gesamten Werks in sich. Levit wiegt rhythmisch den Kopf zu den letzten Takten der langen Einleitung, bis er sich dem Orchester mit erstaunlich poetisch-leisem Klavierklang hinzugesellt. Der ganze Satz ist eigentlich ein ausbalanciertes Zusammen- und Widerspiel von Klavier und Orchester, wobei sowohl Levit als auch einzelne Orchesterstimmen ein intuitives Miteinander erzeugen. Der erste überlange und gewaltige Satz würde für einen ganzen Konzertabend fast schon reichen. Dann aber kommt das Adagio. Und Saraste und Levit machen es zu dem geheimen musikalischen Hauptsatz dieses Werks. Das Klavier regiert über weite Strecken allein. Levit kostet es aus, zu vereinsamen. Wenn er mit dem Orchester zusammentrifft, verlangsamen sie das Tempo fast bis zum Zerreißen. Jede Note wird in ihrer feinsten Nuance schmerzlich hörbar. Abrupt schließt der Schlusssatz an. Klavier und Orchester fügen gemeinsam das Konzert wieder zu einem großen Ganzen zusammen. Ein wunderbares Mit- und Ineinander, souverän geleitet von Saraste mit Blick auf die Einzelheiten und das Gesamte.

Nach großem Applaus kehrt Levit aufs Podium zurück. Und jetzt geschieht etwas Denkwürdiges. Er richtetet sich ans Publikum. Er wolle eine Zugabe spielen, ein Werk, das für ihn als Pianisten essentiell sei. Aber bevor er spiele, würde er gern einen Appell ans Publikum richten: Inhumanität nicht zuzulassen! Menschen dürften nicht aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Hautfarbe diskriminiert werden. Unter den Menschen sollte Solidarität und Miteinander sein, weil sonst die Basis unserer Gesellschaft und unserer Kultur zerstört würde. Levit weiß sehr genau, wovon er spricht. Er wurde in Gorki in eine jüdisch-russische Familie geboren und emigrierte als Achtjähriger nach Hannover. Vielleicht klingt deshalb Paul Dessaus „Guernica“ von 1938 um so erschütternder.

Nach der Pause rundete Arnold Schönbergs symphonische Dichtung „Pélleas und Mélisande“ den Abend ab. Mit märchenhaft-rätselhafter Atmosphäre, auch spätromantischen Klängen, die aber mit sich etwas führen: sie scheinen unwohl die Schranken der alten Klangästhetik ausloten zu wollen. Auch hier gelingt es Saraste, den klangästhetischen Grenzgang deutlich zu machen. Was für ein gelungener Auftakt der Saison!

Wer jetzt meint, das sei nicht mehr zu toppen, irrt. Zwei Tage später lud das Gürzenich-Orchester ebenfalls zur Eröffnung der Saison ein. Sogar zu einem Festkonzert, wie es Tradition ist. Ebenfalls Tradition hat es, dass das Gürzenich-Orchesters einmal pro Saison einen der Solisten aus dem Orchester stellt. Am Sonntagvormittag durfte es Solocellist Bonian Tian sein. Und er strahlte in Edouard Lalos „Konzert für Violoncello und Orchester“ op.33. Das Werk konzentriert sich mit Wohlklang ganz auf den solistischen Part und lässt den Solisten glänzen. Der bezaubert mit königlicher Souveränität, einem klar durchdringenden, dennoch warmen und überwältigenden Klang und absoluter Präzision. Immer wieder nimmt er Blickkontakt zu seinen Musikerkollegen auf und genießt bescheiden seine große Rolle.
Wer dieses Cello-Konzert an dem Morgen gehört hat, wird sich nach diesem Konzert sowohl in die Gattung als auch in den Klang des Instrumentes verlieben. Der Jubel im Publikum und Orchester ist einhellig. Die Zugabe geben Tian und das Orchester gemeinsam.

Es ist immer wieder erstaunlich, wie es François-Xavier Roth und dem Gürzenich-Orchester gelingt, mit ihren Programmen Werke unterschiedlicher Epochen und Komponisten miteinander in Beziehung zu setzen. Dazu zählen die beiden das Cellokonzert einrahmenden Variations-Werke. Die „Variationen für Orchester über ein Thema von Joseph Haydn B-Dur“ von Johannes Brahms, ein letzter Schritt zur großen Sinfonie hin. Dann Max Regers „Variation und Fuge über ein Thema von J. A. Hiller“ op. 100. Dieses Werk ist 1907 sogar vom Gürzenich-Orchester uraufgeführt worden. Jede Variation zeugt neue und andere Seite des Themas. Und am Ende muss es auch eine großen Fuge geben. Max Reger hat sich als den letzten großen Kontrapunktiker nach Bach verstanden. Und aus Überzeugung. Auch in diesem Konzert gibt es eine Ansprache ans Publikum, allerdings erst nach dem Konzert. François-Xavier Roth dreht sich zum Publikum, um jetzt auch noch mit Worten zu betonen, wie wichtig es dem Orchester und ihm sei, mit der Wiederaufführung von Reger das eigene Repertoire zu pflegen. Und was für eine Freude das mit den großartigen Musikern und – wie heute gehört – dem Solisten dieses, seines Orchesters, sei. Daran herrscht nach diesem Festmorgen kein Zweifel!
Die Konzertsaison in Köln ist großartig eröffnet worden!

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