Theatrale Sprachklänge! _hand werk gestaltet großartiges Musiktheater von und mit François Sarhan in der Feuerwache Köln!

Dem derzeit in Berlin lebenden französischen Komponisten François Sarhan (*1972) ist dieser Abend gewidmet. Sarhan ist nicht nur anwesend, sondern im zweiten Teil auch aktiv und trägt in „Telegrams from the Nose“ von 2011 Phrasen eines Schauprozesses vor, die Mitglieder des Zentralkomitee, unter anderem Stalin, gegen Genosse Bakhutin ins Feld geführt haben. Vor einer Wand von William Kentridge mit Zeitungsausschnitten, trägt Sarhan sie sogar auf russisch vor. Zu Schattenspielen und Scherenschnitten die gleichzeitig über die Tafel laufen. Sarhans „Symphony für Flöte, Klarinette, Schlagzeug, Violine, Cello und Klavier“ erlebt an diesem Abend im ersten Teil seine Uraufführung – mit den Stimmen aller Beteiligten von _hand werk! (Von Sabine Weber)

(30. September 2022, Alte Feuerwache, Köln) Ein Fingerzeig der Pianistin (Miharu Ogura), die noch nicht am Klavier, sondern ganz links vor einem Tisch mit Hammer und grell pinkem Heulrohr aufgestanden ist. „Psst“ – kommt vom Flötisten (Daniel Agi) neben ihr. Und seinerseits ein Atemholen wie zum Einsatz. Doch plötzliches Kopfschütteln. Innehalten. Worauf der Cellist (Niklas Seidl) rechts mit großem Arm einen Auftakt ankündigt und tatsächlich mit der Rezitation beginnt. Sätze und Wörter alternieren mit Klängen, die er seinem Instrument vielfältigst entlockt. Ein Solo mit perkussivem Klopfen der Finger auf den Griffbrettsaiten, mit dem Bogen überall kratzend, und klangschön wird auch mal ordentlich gestrichen, aber sofort wieder unterbrochen. Aber alles im Fluss. Kunst? – good taste? – aesthetic – bullshit – nonsense… Das ist in-Frage gestellt. „With cello is it fake or art?“ … Tja…. Es folgt ein Duett Flöte – Bassklarinette (Heni Hyunjung Kim) mit viel Atemansatz, Klappern der Klappen aber auch kleinen Melodiefloskeln zu einer Alte-Mann-Geschichte. Ruckartige Handgesten. Im Geigensolo (Jae A Shin) wird dann merkwürdig gezählt und gerechtfertigt, warum die 7 nach der 8 komme. Dann geht es um den mehrfach verhinderten Zeugungsakt eines Überfliegers. Die absurden Texte von Charles Reznikoff oder Daniil Harms liefern bisweilen recht komische Momentaufnahmen. Ein Text von Harry Lehmann nimmt Bezug auf das Problem von künstlerischen Tabubrüchen in einer Zeit, in der Kunst nicht mehr provoziert. Er führt den Meese-Heil-Hitler-Gruß als Beispiel an.

Die Musiker*innen von _hand werk verquicken theatralisches Sprechen souverän mit virtuosem Spiel

Die Musiker*innen von _hand werk verquicken theatralisches Sprechen souverän mit Mimik und Gestik, traktieren dabei virtuos ihre Instrumente und kreieren die von Sarhan entworfenen Musikanklänge, sodass ein immer anders und hintersinnig weitergeführtes Passspiel zwischen Wort und Klang entsteht. Zentral sind die Xylophonklänge des Schlagzeugers (Moritz Koch), der regelmäßig wie im Nô-Theater auf etwas scheppert oder mal nur in der Luft schlägt. Die Musiker sind gleichermaßen als Schauspieler gefordert, was den _hand werker*innen keine Mühe macht.

François Sarhan, Niklas Seidl, Jae A Shin. Foto: Sabine Weber

Nahtlos geht es in der Halbzeit von der Uraufführung von Symphony (2022) in Telegrams from the nose (2011) über, wozu Sarhan wie aus dem Nichts vorne erscheint, mit einem übergroß projizierten Schatten kämpft und dann inmitten der Musiker Platz nimmt. Sarhan sei von Kentridge höchst persönlich zu diesem „Nasentheater“ animiert worden, erzählt er mir hinterher. Kentridge hatte für eine MET-Inszenierung von Dmitri Schostakowitschs Die Nase soviel Material übrig, dass er daraus auch etwas gemacht wissen wollte. Sarhan entwirft zu den Scherenschnitt- und Schattengeschichten spezielle Klänge für eine zuvor noch nie gesehene Strohgeige – ein Geigenskelett mit Trompetenschalltrichter –, dazu Cello, Gitarre (Steffen Ahrens) und Klavier.

Strohgeige. Foto: Sabine Weber

Die Texte hat Sarhan aus veröffentlichten Dokumentationen eines Schauprozesses zusammengestellt, der 1937 vom Zentralkomitee in Moskau angezettelt wurde. Die Argumentationen gegen den Genossen Bakhutin sind absurd und ähneln erschreckend den aktuellen von Putin, mit denen er den Angriffs- und Zerstörungskrieg gegen die Ukraine oder die Unterdrückung und Freiheitsberaubung der eigenen Bevölkerung in kollektive Befreiungsrhetorik verkehrt. Wörter werden im Mund herum gedreht.

Scherenschnittballett, absurde Textdokumente und dadaistische Klangzutaten fügen sich zu einem Gesamtkunstwerk

Darüber könnte herzhaft gelacht werden, wie das Sarhan-Nasentheater jetzt vorführt, aber das Lachen bleibt im Hals stecken. Gegenüber dieser Absurdität scheint einfach kein intellektuelles Kraut gewachsen. So beginnt Sarhans Nasentheater nicht von ungefähr mit einem gewissen „Bobok“ (Dostojewski?), der die Brille auf- und absetzt, der, wie später erklärt wird, aber weder Ohren, Nase, Augen oder Arme hat, der nichts hat, den es gar nicht gibt! Dennoch müssen sich alle mit diesem Phantom auseinandersetzen. Eine treffliche Parabel, die auch zu der Nase mit Beinen passt, die in Kentridges Schattentheater immer wieder eine Leiter hochsteigt, um herunter zustürzen und zu zerbrechen. Das niedlich-grausame Schatten- und Scherenschnittballett, da bricht mal ein Pferd auseinander oder ein Schild mit der Zahl 10 wird zur Axt und zerschlägt brutal andere grafische Muster, dazu die Textdokumente, die Sarhan sogar auf russisch rezitiert – er hat slawische Vorfahren –, die dazu gemixten dadaistischen Klangzutaten der Musiker*innen fügen sich an diesem Abend zu einem spannenden Gesamtkunstwerk. Bis die Pianistin wie zu Anfang wieder den Finger hebt. Ihr „Nein!“ kommt jetzt ganz deutlich! Ein musikalischer Abend, der auch zum Nachdenken anregen wollte und der hoffentlich an anderer Stelle noch einmal zur Aufführung kommt!

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