Wir in Köln sind es ja gewohnt, dass das Orchester in der Ausweichspielstätte im Staatenhaus im Mittelpunkt der Bühne sitzt und das gefeierte Zentrum einer Opernaufführung ist. Wie zuletzt in den „Trojanern“ von Berlioz. In Wuppertal sitzt das Orchester auf der Bühne, weil es für die Erstproduktion keinen Raum für eine Inszenierung gab, da die Bühne für das Ballett blockiert war. So kam eine Videoproduktion ins Spiel, für die der Videokünstler Momme Hinrichs verantwortlich zeichnet. Jetzt hatte die Wiederaufnahme Premiere. (Von Sabine Weber)
(2. Oktober 2022, Oper Wuppertal) Wann die Erstproduktion entwickelt wurde, ist den Presseinfos nicht zu entnehmen. Aber Jules Massenets dramatische Werther-Adaption mit Orchester auf der Bühne zu zeigen, hat Berechtigung. Das Orchester ist Seismograph der Stimmungen, verantwortlich für abrupte Wechsel, Schicksalsschläge und arbeitet mir Leitmotiven, die der Wagner-Fan Massenet schon in der Ouvertüre einwebt. Zum ersten Mal habe ich auch „sehend“ hören können, dass sowohl ein Alt- als auch ein Tenorsaxophon mitspielen. Ganz prominent im dritten und zentralen Akt mit Charlottes Briefszene.
Mit Johann Wolfgang von Goethes Briefroman hat Massenets Dramatisierung eigentlich nicht mehr viel zu tun. Bei Goethe geht es nur um die Gefühlswelt des vereinsamten Werthers. Von Charlotte erfahren wir nur aus dessen Briefen. Ob sie ihn geliebt hat, wird nie klar. Und Albert hat sie aus freien Stücken geheiratet. Nicht wie bei Massenet von der Mutter auf dem Sterbebett befohlen. Massenet stellt Charlotte auch neben Werther ins Zentrum der Opernhandlung. Im dritten Akt berichtet sie nicht nur von seinen Briefen, sondern liest sogar aus Werthers Abschiedsbrief vor. Ihre Arie danach – auch mit Saxophonbegleitung – ist eine ihrer schönsten. Und sie gesteht sich auf der Opernbühne schlussendlich auch ihre Liebe ein, selbst wenn sie den Selbstmord Werthers nicht verhindert. Er stirbt aber in ihren Armen, sodass es hier einen Liebestod von tristanesken Ausmaßen gibt.
Charlotte ist mit Iris Marie Sojer, stimmlich einfühlsam mit weichem Timbre ausgestattet und rund gestaltend, auch optisch gut besetzt. Ebenfalls aus dem Ensemble Sangmin Jeon als Werther, der mit seiner Mimik die Betroffenheit zu jedem Zeitpunkt vermittelt und auch stimmlich stark präsentiert, vielleicht aber ein paar mehr einfühlsame Momente hätte zulassen können. Ralitsa Ralinova sorgt als Sophie, Charlottes Schwester – auch eine Massenet-Erfindung – für liebenswerte Leichtigkeit und Koloratur in all der Tragik. Simon Stricker gibt gut intonierend den gestrengen Ehemann Albert. Die Leistung des Wuppertaler Ensembles, wir erinnern uns noch an seine Abwicklung vor Jahren, ist hervorzuheben! Und sie agieren auch semiszenisch vor ihren Notenpulten miteinander (Szenische Einrichtung: Karin Kotzbauer-Bode). Zu erwähnen sind auch noch ein Kinderchor und zwei trinkfreudige Genossen, mit Mark Bowman-Hester als Schmidt und Timothy Edlin als Johann gut besetzt.
Die über dem Orchester im Goldrahmen gezeigte Animation enttäuscht allerdings ein wenig. Ein Baum der wächst – die Liebe keimt –, und Sommer mit Mond und Sternnacht für die Nuit d’ivresse der ersten intensiven Begegnung bis zum schneebedeckten Baum für die erkaltete, weil unterbrochene Beziehung, fallen dann doch etwas flach aus. Die wenigen Zoomaktionen hin und weg vom Baum, und das Reinblenden von gerasterten Fenstersprossen, die unfreiwillig an aufgeleimtes Plastik auf billigen Plastikfensterscheiben erinnern, haben Photoshop-Qualität. Ein gestrenges Biedermeier-Portrait der Mutter als Verantwortliche für Charlottes Hemmung, auf das Liebesangebot Werthers einzugehen, ist auch kein wirklich tragender filmischer Regieeinfall. Allenfalls die hinein geblendeten tanzenden Schatten für die nie ins Glück kommenden Gefühle und einmal eine farbliche Verfremdung für vereinsamten Wahnsinn zeigen Ambitionen.
Das Sinfonieorchester ist gut disponiert, klanglich voll, lässt auch wunderbare Streichquartett-Episoden, Violin-, Cello, und Bratschensoli hören, hätte aber unter dem Dirigat des Ersten Kapellmeisters in Wuppertal, Johannes Witt, mehr Atem in den Orchesterphrasen und Geschmeidigkeit in der Gestaltung vertragen. Witt koordiniert zuverlässig, aber doch insgesamt ein bisschen steif. Da könnte sich noch etwas entwickeln.
Der letzte Akt nach der Pause mit Charlottes Briefszene bringt musikalisch die stärkste und dramatischste Musik. Der Liebestod hat fast kosmische Qualität und lässt unwillkürlich an Isoldes Liebestod denken – hier Werthers Liebestod. Das Publikum applaudiert zu recht begeistert seinem Ensemble und auch der Gesamtleistung des Orchesters. Massenets Werther ist mit Sicherheit sein stärkster Wurf. Es lohnt sich, das zu erleben!