Wenn schon Kamera, dann doch nicht nur die Totale. Das Streaming-Gebot während der Pandemie hat Opernhäuser und Regisseure animiert, die Filmkunst autark einzusetzen. Das Kamera-Auge geht nah ran. Szenen werden in den Opernablauf hinein geschnitten. Die Graphic Opera wird erfunden! Neu ist das Experiment Opernfilm nicht, aber neue Formen treten hervor, wie Klaus Kalchschmid im folgenden Bericht Das Opernprojekt der Woche im Überblick darstellt.
Seit Erfindung des Tonfilms gibt es in der Liebes-Beziehung zwischen Film und Oper schon immer originelle, extravagante, ja kühne Projekte und Wechselwirkungen. Es beginnt mit Max Ophüls Version von Bedřich Smetanas Verkaufter Braut in spezieller Einrichtung und Bearbeitung der Musik von Theo Mackeben. 1932 wurde mit Stars wie Willi Domgraf-Fassbaender oder Jarmila Novotna komplett im Freien gedreht auf einem extra eingerichteten Zirkusgelände. Damals in jeder Hinsicht ein Novum.
Jean-Marie Straub und Danièle Huillet
Sperrige Sujets von Arnold Schönbergs setzen dann Danièle Huillet und Jean-Marie Straub 1974 mit Moses und Aaron in der kleinen Arena von Segeta auf Sizilien in Szene: mit live agierenden Sängern zum vorproduzierten Orchester gefilmt. 1997 realisierten das Duo, bis zum Tod Huillets auch im Leben ein Paar, in Schwarzweiß den 12-Ton-Einakter Von heute auf morgen im Studio mit Direkt-Ton von Sängern und Orchester, also nicht im Playback.
Hans Jürgen Syberberg
Ganz im Gegensatz zu Hans Jürgen Syberberg, der 1982 den ganzen Wagner‘schen Parsifal in der überdimensionalen Totenmaske Wagners spielen ließ und die Sänger vielfach mit Schauspielern doubelte, so Edith Clever als Kundry zur Stimme von Yvonne Minton.
2001 ereignete sich die Tosca von Filmregisseur Benoit Jacquot auf drei Ebenen: Er zeigte die Sänger auch privat und thematisierte den Prozess der Entstehung der Verfilmung und der Aufnahme des Soundtracks im Film gleich mit. Michael van der Aas Videoopern wie One für und mit Barbara Hannigan begründeten ein eigenes Genre, Ende Juli wird mit Upload seine neue „Filmoper“ bei den Bregenzer Festspielen aufgeführt.
Seit einem Jahr bekommt der produzierte Opernfilm wieder Aufwind
Seit einem Jahr bekommt der schon tot gesagte, in den 1970er und 1980er Jahren ungemein aufwändig produzierte Opernfilm jeglicher Couleur wieder neuen Aufwind. Selbst die kleinsten Theater bieten ihre Aufführungen im Internet an. Jenseits der immer diffiziler mit mehreren Kameras aus verschiedenen Perspektiven verfilmten Bühnen-Aufführung, wie sie – ohne Publikum – kongenial bei Rameaus Hippolyte et Aricie durch klangmalerei.tv zum Einsatz kommt, werden auch neue Perspektiven gezeigt. Neue Formen treten pandemiebedingt hervor. Und manchmal werden auch Wege jenseits ausgetretener Pfade beschritten. Ganz vorn die Bayerische Staatsoper mit ihren allwöchentlichen Montagsstücken und zwei italienische Einakter in szenischer (Film-)Fassung.
Axel Ranisch
Il segreto di Susanna, uraufgeführt 1909 am selben Ort wie jetzt, dem ehemals Hof- und Nationaltheater in München, ist der entzückend gelungene Versuch, aus der Not des Spiels im leeren Nationaltheater eine Tugend zu machen. Da kein Bühnenbild möglich, kombiniert Axel Ranisch – erprobter Opern- wie Tatort-und Spielfilm-Regisseur – die live gespielte und gesungene Sitzung beim Paartherapeuten neben dem Orchester auf der Bühne des Nationaltheaters, dessen leerer Zuschauerraum im Hintergrund magisch leuchtet, mit vorproduzierten Film-Einspielungen. Eine üppig ausgestattete Nymphenburger Villa samt Wintergarten und viel nacktem (weiblichen) Fleisch an der Wand dient als Schauplatz. In diesem opulenten Innen-Raum ereignen sich die Eifersuchtsorgien eines Ehemanns, der den Zigarettenqualm, den er immer mal wieder zuhause vorfindet und der sogar aus Blumensträußen quillt, mit einem heimlichen Liebhaber verbindet. Dabei will ihm die Gattin nur ihre Nikotin-Abhängigkeit verheimlichen. Nach einer knappen Stunde ist die Wahrheit endlich heraus, das Ehepaar wieder glücklich vereint, derweilen der Paartherapeut allein mit der E-Zigarette zurückbleibt. Schauspieler Heiko Pinkowski verströmt in einer stummen Rolle mit weit aufgerissenen Augen den Charme eines staunenden Bären. Ob die erotische Affäre sowohl mit der Frau wie dem Mann nicht nur seinen geheimen Wünschen entsprungen ist, bleibt in der Schwebe.
Marcus H. Rosenmüller
Rossinis Il signor bruschino ist eine kaum weniger schräge, krude (Verwechslungs-) Komödie um falsche und echte Söhne, verfeindete Väter, die ihre Kinder verheiraten wollen ohne sie zu fragen, und eine Frau, die den Mann am Ende bekommt, mit dem sie ganz am Anfang schon ein schönes (Liebes-)Duett flöten durfte. Das Ganze eignet sich perfekt für ein Live-Ereignis, das als alter, verkratzter Film voller Schlieren getarnt ist. Marcus H. Rosenmüller ist mit Filmen wie Wer früher stirbt ist länger tot, Sommer der Gaukler oder Trautmann bekannt geworden und hat mit dem Opernstudio der Staatsoper schon Rossinis Comte Ory lustvoll zelebriert. Nun macht er aus Rossinis musikalisch überreichem Einakter mit wunderbaren Sängern wie dem herrlichen Bariton Misha Kiria und Paolo Bordogna als Väter oder Emily Pogorelc und dem exzellenten, charmanten tenore di grazia Josh Lovell als junges Liebespaar einen fein moussierenden Komödien-Spaß. Der spielt auf dem überbauten Graben des Nationaltheaters, während das klein besetzte, herrlich aufgekratzte, aber auch brillant-elegante Staatsorchester unter Antonino Folgliani sichtbar dahinter und vor einer Leinwand spielt. Darauf werden Himmel, Sterne, Spinnweben oder ein Wollknäuel projizert, das als roter Faden der Handlung dient.
„Graphic Opera“ nennt sich die Filmversion der einstündigen Kammeroper Weiße Rose von Udo Zimmermann, die David Boesch und seine Ausstatter Patrick Bannwart und Falko Herold zusammen mit der Hamburgischen Staatsoper realisierte. Sophie und Hans Scholl (Marie-Dominique Ryckmanns und Michael Fischer) agieren in einem halb virtuellen, halb realistischen (Gefängnis-)Raum, Zeichentrick, verfremdete Dokumentaraufnahmen, Fotos und Schrift, etwa die Flugblätter oder Tagebuchaufzeichnungen, imaginieren das erinnerte Geschehen von kriegerischen Handlungen oder der Euthanasie, aber auch den Widerstand, die Verhaftung, die Haft und das Verhör, aber auch den Tod der beiden durch die Guillotine. Da wird der bis dahin sehr poetische, sehr berührende und differenziert gestaltete Film, der von einem konkreten Zeitpunkt, der Stunde vor der Hinrichtung der Geschwister am 22. Februar 1943 im Gefängnis München-Stadelheim ausgeht, leider arg plakativ. Auf Arte ist der einstündige Film noch bis 6. August 2021 abrufbar.
Kobie van Rensburg
Eine „Graphic Opera“ ist The Plague – Die Seuche ebenfalls. Realisiert in einer Produktion des Theaters Krefeld. Erdacht und realisiert hat das Pasticchio nach Arien, Chören und Instrumentalstücken von Henry Purcell der Barock-Spezialist Kobie van Rensburg, ehemals Tenor und heute umtriebiger Regisseur. Als Rahmen dient, was Daniel Defoe 1722 – 50 Jahre nach der Londoner Pest von 1665 – über diese unter dem Titel A Journal of the Plague Year oft frei fabulierte, aber suggerierte, als wäre er selbst dabei gewesen. In verschiedene Kapitel eingeteilt, unterbrochen von den englischen Zitaten Defoes, gesprochen von van Rensburg, werden wir per virtuelle Realität, in die lebendige Sängerinnen und Sängern hauptsächlich aus dem Opernstudio Niederrhein eingebaut sind, mit allen Facetten einer Pandemie konfrontiert. Es beginnt mit der Ersten Heimsuchung zum berühmten Cold Song, geht über den Rückzug der Reichen aufs Land, dem Elend der in der Stadt Verbliebenen und vielfacher Zwangsquarantäne bis zu Tod und Trauer und der Rückschau einer Sterbenden zur Abschiedsarie der Dido When I am Laid in Earth. Die Ausschnitte aus Purcells Werken von King Arthur bis Fairy Queen illustrieren die visuell ansprechenden, originellen Animationen perfekt, kaum ein Wort musste dafür geändert werden. Am Ende sitzen die Sänger im Kostüm in der U-Bahn und verwandeln sich plötzlich kurz in Menschen von heute mit FFP2-Maske – und wieder zurück in die Figuren des 17. Jahrhunderts. Die DVD ist für 10 Euro inkl. Porto erhältlich.