Verblüffend, welch unglaublich gute Musik drinsteckt. Viele Arien sind nach dem barocken Belcanto-Muster gestrickt. Jede Menge schwereloser Fiorituren also. Spitzentöne in Gleichnis- und Wutarien. Gleichzeitig empfindsame Cabalettas oder Cavatinen, die aus Glucks Reformopern kommen könnten, sogar an Mozart erinnern. Dazu Rossinischer Steigerungsgalopp und eine instrumentale Farbigkeit, Holzbläserensembles, Harfenbegleitung, ein Gesangs-Trio nur von drei Hörnern begleitet ist geradezu sensationell, das verrät kompositorische Könnerschaft! Doch das Drama entwickelt sich nicht, tritt mehr oder weniger drei Stunden lang auf der Stelle. Ein stillstehendes Dauerdrama! (Von Sabine Weber)
(5. März 2023, Oper Frankfurt, zweite Aufführung) Das darf sofort gesagt werden: gesungen wird großartig! Jessica Pratt als depressiv-dauertraurige Francesca sorgt mit pianissimo gesungenen Spitzentönen und Koloraturen über mehrere Oktaven für beglückende Gesangsmomente. Theo Lebow, ebenso in allen Register ausgeglichen, gurgelt als ihr ungeliebter Ehemann Lanciotto ebenso virtuos. Er buhlt vergeblich um Liebe, muss daher bald im Dauermodus „seufzen und rasen“, aber auch hassen und nach Rache brüllen, sodass ihn die Regie auch mal in die Zwangsjacke packt. Kelsey Lauritano mit wunderbar glühendem Alttimbre gibt in der Hosenrolle Paolo, den Bruder Lanciottos und wahren Geliebten Francescas. Permanent unterdrückt und bettelt er/sie um Liebe. Erik van Heyningen ist als Francescas Vater präsent, weil es für die Gesangsensembles einen Bass braucht. Die Rolle ist irritierend, habe er doch sie „grausamer Weise und nur aus politischer Räson“, so erklärt es Francesca, an das „Monster“ verschachert. Und jetzt tritt er als ihr Beschützer in Erscheinung? Dem Monster habe Francesca nur die Hand gereicht, nie aber ihr Herz gegeben. Der Legende nach ist Lanciottos schöner Bruder Paolo als Brautwerber vorgeschickt worden. Das muss man wissen. Das erklärt nämlich auch die Liebe der beiden füreinander.
Eine schlüssige Bildregie
Regisseur Hans Walter Richter macht alles, was möglich ist, um eine schlüssige Bildregie zu entwickeln. Das gelingt ihm auch, selbst wenn es einige Male Rampensingen gibt. Als erstes laufen Männer durch Francescas Schlafzimmer. Ihr Ehebett ist männliche Obsession, immer im Bild, und Bühne, und Podium. Ebenso ein Felsen, auf dem die Schwerter liegen und sich Soldaten formieren.
Der Chor gestaltet sehr häufig das Bild mit
Die Kostümbildnerin Raphaela Rose befreit sich aus der Zeit Dantes, der für die Überlieferung der Francesca-da-Rimini-Legende verantwortlich ist, die er im zweiten Höllenkreis trifft. Die Kostüme referieren die Entstehungszeit der Oper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Lanciotto mit Backenbart, in weißen Vorderlatzhosen und Soldatenstiefeln sieht sogar im ersten Moment wie Napoleon aus. Der lange Soldatenmantel mit Revers ist bei Schwiegervater Guido statt grün nur blau. Die Frauen sind in biedermeierliche, teilweise schulterfreie Kleider eingenäht. Der Chor gestaltet übrigens sehr häufig das Bild mit, ist Hofvolk, schaut entsetzt zu, kommentiert, friert ein, wirbelt umher, begehrt auf. Mercadante liefert einzigartige Solistenensembles mit Chorbegleitung, auch Frauenchöre, wie zu Anfang, wenn den heimgekehrten siegreichen Männern Lorbeerkränze aufgesetzt werden.
Es ist alles da, was das Drama braucht …
Die weißen Wände im Hintergrund der Bühne von Johannes Leiacker öffnen sich immer wieder und geben mit Nebelschwaden durchsetzte Einblicke. Eindrücklich ist ein riesiges, der Schauerromantik entlehntes gotisches Ruinenfenster. Figurendoubles spielen in diesem sich öffnenden Traumraum geträumte Wünsche. Sich endlich in den Armen liegen und sich küssen oder jemanden erschießen oder vergiften. Es ist alles da, was das Drama braucht. Auch wilder Tumult, als Kontrast zu ganz inniglichen Momenten.
… allein die Hauptfiguren entwickeln sich nicht
Allein die Hauptfiguren entwickeln sich nicht. Egal was passiert, sie bleiben was sie sind. Francesca ist Dauer-depressiv, Paolo Dauerverliebt, Lanciotto Dauerverzweifelt und eifersüchtig. Also wütet es Szenen-lang, ist inniglich – wirklich zauberhaft, wenn beispielsweise zur Harfenbegleitung Paolo und Francesca in einem Buch von der verbotenen Liebe der Königin zu Lancelot lesen, ihr Schicksal erkennen und sich küssen. Das wird natürlich sofort gestört, und dann ist es wieder laut und wild. „O Dio!“ – „Tremo!“ Es gibt sogar eine Gewitter-Sturmmusik. (Rezitative sind orchestriert. Das Begleitmuster in den Chor und Solistenkantilenen meist Dreiklänge oder Albertibässe.)
Applaudiert wird heftig
Der zweite Akt nach der Pause ist etwas konziser. Immerhin steuert es auf den (Liebes-)Tod Francescas und Paolos zu. Ultime lagrime werden geweint – eine der letzten großen Arien Francescas hat wirklich Verdiqualität. Doch das markerschütternde Verdi-Drama, wie tags zuvor in der Kölner Oper erlebt, findet hier nicht statt. Und auch nicht die Geschichte Francesca da Riminis, die im Libretto von Felice Romano auf die Seelenzustände der drei Hauptfiguren reduziert ist. Womit wird das Publikum, das übrigens recht zahlreich erschienen ist, die Oper ist fast ausverkauft, eigentlich belohnt? Applaudiert wird auch heftig!
Belcanto-Manierismus
Wer Belcanto-Manierismus liebt, bekommt mit dieser Repertoire-Entdeckung (Deutsche Erstaufführung!) was das Herz begehrt. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchester kitzelt unter Ramón Tebar die Farben der schillernden Partitur heraus, die in der Kooperation mit den Tiroler Festspielen Erl im Dezember letzten Jahres schon zu erleben war. Der Frankfurter Intendant Bernd Loebe ist auch künstlerischer Leiter in Erl .
Es gibt noch unzählig viele Mercadante-Opern, die nie gespielt werden
Ob dieses 1831 von Mercadante während eines Aufenthaltes in Spanien komponierte Dramma per musica den Sprung ins Repertoire schafft, ist dennoch fraglich. Zu Lebzeiten des Komponisten sollte es in Madrid, später in Mailand aufgeführt werden. Aus nicht abschließend zu klärenden Ursachen geschah dies nicht. Die Uraufführung fand (sic!) 2016 – nach Auffindung der verschollenen Partitur – auf dem italienischen Festival Valle d‘Itria in Martina Francia statt (unter Fabio Luisi und auf CD erschienen). Im Dezember letzten Jahres also in Erl, jetzt in Frankfurt. Wäre spannend, eine weitere Oper, vielleicht ein Spätwerk von Mercadante auf ihren Repertoire-Wert hin zu erleben. Allerdings gibt es unzählig viele, die da zur Auswahl stünden und nie gespielt werden…