„Ich denke in Tönen“ – eine Begegnung mit Nadia Boulanger in Gesprächen

Es sollte ein Film über sie werden. Doch dann verstarb die Grande Dame des 20. Jahrhunderts, die legendäre Musik-Pädagogin Nadia Boulanger, der in Paris so viele große Komponisten und Musiker ihre Aufwartung machten. Strawinsky, Bernstein, Copland, Menuhin… Bruno Monsaingeon, Geiger, Regisseur und Filmemacher, hat sein Material und seine Einsichten kurzerhand in einem Buch aufbereitet. Bereits 1981 ist es in Frankreich herausgekommen. Jetzt sind die zum Teil als fiktive Interviews aufbereiteten Einsichten im Berenberg Verlag GmbH in einem feinen Buch herausgekommen. „Ich denke in Tönen. Gespräche mit Nadia Boulanger“. Übersetzt von Jochim Kalka. (Von Sabine Weber)Sie war eine drakonische Lehrerin und verdonnerte ihre Élèven dazu, die Fugenstimmen im Wohltemperierte Klaviers einzeln und auswendig auf zu notieren und dann auch auswendig zu spielen oder den Bass eines Violinkonzerts zu spielen und den eigenen solistischen Part dazu auswendig zu singen. Handwerk zu vermitteln sei die Aufgabe der Pädagogin. Und das war sie mit Leidenschaft.

Nadia Boulanger 1925. Foto: Wiki Commons

Doch nur für diejenigen, die mit Liebe für ihre eigene Arbeit brannten. „Sein Leben nicht zu verlieren“ ist ein immer wiederkehrendes Mantra. Heißt wohl, sein Leben nicht sinnlos zu vergeuden. Dazu sei ein Begehren und Aufmerksamkeit – wir würden heute Achtsamkeit sagen – nötig. Wie modern sie war! Ein aufmerksames Handeln – ob nun Fenster geputzt oder ein Meisterwerk komponiert würde. „Words without thoughts never go to Heaven“. Dieses Zitat aus Hamlet sei eines ihre liebsten gewesen. Aber was ein Meisterwerk sei und es definieren, will sie nicht. Sie sagt nicht, dass es keine Kriterien dafür gäbe, aber sie kenne keine! Dennoch „glaube“ sie an Meisterwerke. Und regte dazu an, sich zu sammeln, die höhere Etage zu erklimmen, in die Tiefe gehen, mit einer gewissen Spiritualität – also Demut vor dem zu haben, was nicht zu verstehen und erklären aber zu fühlen sei. Dabei war die Analyse von Werken in ihrem Unterricht zentral, aber eben kein Selbstzweck. Für sie kam es darauf an, die Grundlagen des Handwerks zu vermitteln. Darauf bestand sie! „Vernehmen, schauen; hören und sehen. Und eine solche Achtung vor sich zu haben, dass man es ohne Arroganz ernst nimmt, dass man existiert.“ Niemals etwas ohne Begehren anfangen! Das solle man lieber bleiben lassen! Oder wie Strawinsky das bezüglich eines abgelehnten Kompositionsauftrages formuliert hat: „das kann ich nicht (komponieren), da läuft mir nicht das Wasser im Mund zusammen!“

Igor Stravinsky und Nadia Boulanger an Bord eines transatlantischen Schiffes 1937. Foto: Wiki Commons

Was dieses Buch faszinierend und lesenswert macht ist, dass auf menschliche Konditionen heruntergebrochen wird. Dabei wird deutlich, dass die hehre Kunst im Alltag verankert sein kann. Natürlich gibt sie auch Anekdoten ihrer prominenten Gegenüber preis. Im Zusammenhang mit ihrem Lehrer Gabriel Fauré erfahren wir, warum sie aufgehört hat zu komponieren. Maurice Ravel, Jean Francaix oder die Pianistin Idil Biret kommen vor. Auch ihre geliebte Schwester Lili. Vom Conservatoire Américain de Fontainebleau ist die Rede, die im Auftrag von General Pershing (nach ihm sind Raketen benannt) gegründet wurde, um die amerikanische Besatzungsmacht nach dem Ersten Weltkrieg von der Musiknation Frankreich profitieren zu lassen. Walter Damrosch verpflichtete Nadia Boulanger als Lehrerin der ersten Stunde. Daher die vielen Amerikaner, die sie aufsuchten. Astor Piazzolla findet leider keine Erwähnung…

Nadia Boulanger war ein wegweisender, aber vor allem einzigartiger Mensch. Und „sie atmete, was sie hörte“, wie ihr Freund Paul Valéry über sie sagte. Das teilt sich in diesem kurzweilig zu lesenden und liebevoll gestalteten Buch auf 174 Seiten nebst einiger Bilder sofort mit. Das letzte Kapitel trägt Augenzeugenberichte von Musikern zusammen, die über ihre letzten Begegnungen mit ihr erzählen. Das ist sehr berührend. Bis in ihr 92. Lebensjahr blieb sie hochverehrt.

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