Kurtágs Beckett-Oper „Fin de Partie“ – genial umgesetzt in Dortmund

Wer die szenisch eher langweilige Uraufführungs-Regie von „Fin de Partie” in Mailand gesehen hat, wird erstaunt sein, was Regisseur Ingo Kerkhof für Dortmund mit Kurtágs Beckett-Oper entfesselt. Das Publikum durchlebt das „Endspiel“, so der ins Deutsche übersetzte Titel, der vier versehrten Alten in Schicksalsgemeinschaft hautnah auf der Bühne sitzend. Die Dortmunder Philharmoniker bringen Kurtágs detail- und farbversessene, auf kammermusikalisch in neuen Instrumentenkombinationen setzende Partitur wie sprechend zum Klingen. Sodass unter der Leitung von Johannes Kalitzke ein Gesamtsprachklang entsteht, der der Genialität von Kurtágs Opus magnum in allem gerecht wird! (Von Sabine Weber)

(1. März 2024, Oper Dortmund) Die Atmosphäre war bei der Uraufführung von „Fin de Partie” an der Mailänder Scala 2018 irgendwie von dem Wunder getragen, dass einer der derzeit berühmtesten Komponisten, aber ein eigenwilliger, bescheidener und selbstkritischer „Sympath“ mit fast 90 Jahren der Welt seine erste Oper schenkt. Da verzieh man Regisseur Pierre Audi seine ideenlose, wohl an den Bildern der Uraufführung des Schauspiels gekettete Regie. In Dortmund überzeugen sowohl musikalische Qualität als auch szenische Umsetzung! Die Raffinessen, mit denen Kurtág Becketts absurd-hintersinnige Texte musikalisch emotionalisiert hat, darf das Dortmunder Publikum sogar hautnah spüren. Ungefähr 120 Zuschauer sitzen auf einer mehrreihigen Tribüne im Bühnenhintergrund und schauen den Solisten direkt in die Augen.

Groß besetzte Dortmunder Philharmoniker

Auf dem hochgefahrenen Orchestergraben zwischen Bühne und eigentlichem Zuschauerraum sind die groß besetzten Dortmunder Philharmoniker platziert, nur durch einen schwarzen Gaze-Vorhang von der Bühne getrennt. Wie Johannes Kalitzke mit dem Rücken zur Bühnenfläche, Sänger also hinter sich, und dem Orchestersound direkt am Ohr eine so perfekte Balance mit den Sängern hinbekommt, bleibt Mirakel. Aber er hat schon die konzertante Aufführung in Antwerpen geleitet und kennt die Partitur. Ein Ko-Dirigenten hat wohl permanent auf einem Zuschauerplatz mitgehört und korrigiert. Die stets neu zusammengesetzten Klänge – Tuba und Triangel – sind in Dortmund immer ausgewogen.

Kurtág und Beckett

Kurtág ist ein Minimalist gewesen, und er hat sich in dem absurden Minimalismus Becketts in seiner Lebenssituation wiedergefunden. Seit er in den 1950ern eine Aufführung von Fin de Partie in einem kleinen Pariser Theater erlebt hat. Und er verehrt den Iren, der in Paris seine Wahlheimat gefunden, zeitlebens.

Nur originaler Beckett – Wort für Wort vertont

Bis auf wenige Veränderungen vertont Kurtág nur originalen Beckett. „56%” davon, sagt Kurtág selbst und „Wort für Wort“. Er erzählt die komplette Geschichte, eben fokussiert durch seine Auswahl. Kurtág leistet sich kleine Hinzufügungen, meist Wortwiederholungen, die er im Libretto aber genau markiert. Einzig ein englisch-sprachiges Gedicht Becketts – das Libretto ist französisch wie das Original – stellt Kurtág als Prolog (Nr. 1 Rondelay) an den Anfang. Es ist eine poetisierte Erinnerung und spielt mit Klangassoziationen. Ruth Katharina Peeck in einem luftigen Kleid wie über einen Grat zwischen Orchester und Bühne balancierend singt und beginnt. Später sitzt sie auf alt geschminkt in einer Mülltonne und ist die beinlose Nell. Die Traumtänzerin ist die junge Nell der Erinnerung.

Klaustrophobisch wie Attandant de Godot

 Vier versehrte Alte sind in einem Raum eingeschlossen. Der eine sitzt blind im Rollstuhl, Hamm. Dessen Eltern Nell und Nagg haben ihre Beine verloren und stecken in Mülltonnen. Clov, Diener und Faktotum von Hamm, kann als einziger sich bewegen, aber nur humpeln, und eilt zwischen den Versehrten hin und her. Alle wollen, dass die unerträgliche Situation ein Ende findet, aber sie kriegen kein Ende hin. Unerbittlich arbeiten sie sich hilflos, boshaft bis gemein aneinander ab, quälen sich mit Erinnerungen und Erzählungen. Das ist das Handlungsfutter. Unverkennbar ist die klaustrophobische Situation von Attandant de Godot. Fin de Partie ist das Nachfolgewerk, vielleicht noch ein bisschen radikaler und reduzierter.

Statt Wände grüner Rasen

Bühnen- und Kostümbildnerin Anne Neuser hat die Bühne also karg ausgestattet. Statt Wände grüner Rasen mit zwei Mülltonnenöffnungen plus Deckel eingelassen und rechts am Rand eine Art Vorratskasten als Küchenandeutung. Aus diesem kramt Clov immer wieder etwas heraus. Ganz zu Anfang eine Trittleiter, um sie quer durch den Raum zu einem imaginierten Fenster zu schleppen, hochzusteigen und so zu tun, als könne er rausschauen. Darin verstaut er auch weiße Laken, die er von Hamm zieht, der im Rollstuhl schläft, später von den Mülltonnen.

Immer im Dienste des Wortes und der Musik – mimisch und gestisch in Aktion

Mit welcher Inbrunst die Solisten jeweils ihre Figur stimmlich verlebendigen und sie spielen! Immer im Dienste des Wortes und der Musik mimisch und gestisch in Aktion. In den meist dem Sprachrhythmus folgenden Partien und den dazu immer wieder anders aufscheinenden Klängen, die eine gesungene Phrase wiederholen oder vorausnehmen, scheinen alle wie zuhause zu sein. Vielleicht ist es ansteckend, dass zwei Solisten schon bei der Uraufführung an der Mailänder Scala dabei waren und von Kurtág höchst persönlich instruiert wurden.

Hervorragendes Solistenensemble

Frode Olsen wird wohl mit Hamms Rolle noch ins Grab steigen müssen. Seit der Uraufführung darauf abonniert. Einfach perfekt ist sein lebensmüder wie hinterhältiger Hamm, der hier in einem ziemlich veralteten Rollstuhlmodell sitzt und das von Kurtág gewünschte unflätige Gähnen ganz wunderbar drauf hat. Bariton Leonardo Cortellazi, wie Olsen nicht nur bei der Uraufführung dabei, sondern auch bei der konzertanten Aufführung in der Elphilharmonie und der Kölner Philharmonie im Oktober letzten Jahres, zeigt sogar Empathie. Mit aufgerissenen Augen fokussiert er das Publikum und glücklich seine Nell, wenn sie denn aus der Mülltonne neben ihm auftaucht. Er will sie umarmen, aber sie ist zu weit weg. Er besticht sie mit Keksen, damit er seine Schneider-Erzählung loswerden kann und führt dann in verschiedenen Stimmtimbres mal den Schneider, dann den Engländer vor, dessen bestellte Hose nie fertig wird. Aber sein Witz zieht bei Nell nicht. Also donnert er die bitterböse Beschwichtigung des Schneiders wie eine Weisheit heraus: „schauen Sie sich doch diese Welt an! (Pause) Und dann meine Hose!“ Nell ist bereits in einer anderen Welt angekommen. Ruth Katharina Peeck blickt wie eine verklärte Märtyrerin in den Himmel, träumt von schönen Tagen, singt klar, schön, lupenrein, bis Nell stirbt, und Nagg einen markerschütternden Schrei ausstößt.

Frode Olsen (Hamm), Morgan Moody (Clov). Foto: Thomas M. Jauk

Die Seele dieser Schicksalsgemeinschaft ist Clov alias Ks Morgan Moody aus dem Dortmunder Ensemble. Wie er der Figur debile Durchtriebenheit gibt,  dennoch als Höriger immer wieder in die Ecke getrieben wird, zwischendurch seinen Schlabberrollkragenpulli vorne in die schlecht sitzende Gabardinhose stopft, ist unnachahmlich. Als Schauspieler – ohne zu singen – würde er auch noch in einer Aufführung erfolgreich durchgehen. Er durchbricht seinen Gesang am Anfang auch gekonnt immer wieder mit gesprochenen Worten. Am Ende ist er die Projektionsfläche für Hamms Abrechnung. Er schafft es nicht zu gehen.

Emotionalität und das Drama werden szenisch herausgekitzelt

Die Regie von Ingo Kerkhof verlässt sich auf die Musik. Kerkhof hat genau hingehört, und er lässt mit und auf den Gesten der Musik agieren und miteinander reagieren. Faszinierend, wie er immer wieder Spannung und Fallhöhe schafft, ohne dem lähmenden Stillstand im Stück zuwider zu laufen. Clov wirbelt einmal den Rollstuhl mitsamt Hamm sogar rasant durch den Raum. Und einmal rollt sich Hamm selbst rhythmisch, aber immer wieder innehaltend, auf Clov zu. Er will einmal nett zu Clov sein, was ihm sichtlich schwer fällt. Wenn Hamm sogar aus dem Rollstuhl fällt und sich mit den Händen ziehend fort bewegt, ist das einem im Text ausgedrückten Wunschdenken geschuldet (8. Avant-Dernier Monologue). Wenn Hamm in seinem letzten Monolog mit dem Ende abrechnet, ist Nagg schon längst aus der Mülltonne auf Beinen ausgestiegen. Das ist ein gut erfundener Kunstgriff. Noch mehr, dass, bevor das Orchester im Epilog in ein wenige Sekunden dauerndes Tutti ausbricht, Hamm, Clov und die Mülltonnen mit weißen Laken bedeckt sind und als versteinerte Skulpturen dem letzten Eindruck eine ewige Gewaltigkeit verleihen.

In jeder Hinsicht gelungen

Diese deutsche Erstaufführung ist in jeder Hinsicht gelungen. Übrigens ist sie nach der Uraufführung in Mailand erst die zweite szenische. Ingo Kerkhof, der in Dortmund schon einen Lohengrin und Francesconis Quartett inszeniert hat, verhilft dem Drama und der Emotionalität in Kurtágs Partitur voll und ganz zu ihrem Recht und wahrt den szenischen Beckettschen Minimalismus, in dem alles in der Pantomime der Solisten stattfindet. Schade, dass alle Folgeaufführungen bereits ausverkauft sind.

Weitere Vorstellungen Sa, 09.03.24, 19:30 Uhr • Mi, 01.05.24, 18:00 Uhr • Mi, 08.05.24, 19:30 Uhr • Sa, 11.05.24, 19:30 Uhr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


The reCAPTCHA verification period has expired. Please reload the page.