Selten hat mich eine Begegnung so fasziniert wie die mit Robert Badinter.
1928 geboren, hat er als ehemaliger Justizminister unter François Mitterand für die Abschaffung der Todesstrafe 1981 in Frankreich gesorgt. Am 9. Februar 2024, also letzten Freitag, ist er 95jährig in Paris verstorben. Warum Badinter auf klassikfavori einen Nachruf verdient ist, weil er ein Opernliebhaber war, ein Literat und ein Opern-Libretto verfasst hat. Seine Oper „Claude“ nach der Novelle „Claude Geux“ von Victor Hugo ist am 27. März 2013 an der Lyoner Oper (Opéra de Lyon) aufgeführt worden. Ich war dabei, habe Badinter getroffen und mit ihm gesprochen. Hier der Radiobeitrag, den ich damals zur Uraufführung gemacht habe, in dem er auch zu Wort kommt. Und ein ausführliche Artikel, der für die Zeitschrift „Kunst und Recht“ verfasst wurde. (Von Sabine Weber)
Keine Justiz ist unfehlbar, erschienen am 3. Mai 2013 in Kultur und Recht
Der französische Ex-Justizminister Robert Badinter schreibt ein Opernlibretto und macht sein Lebensthema zu einem klingenden Vermächtnis: Den Kampf gegen Todesstrafe und Ungerechtigkeit als Folge von Rechtssystemen, wozu er einen inhumanen Justizvollzug zählt. Das Gefängnisdrama Claude hat Thierry Escaich, Organist, Komponist und Kompositionsprofessor in Paris, mit bedrohlich pulsierenden Klängen unterfüttert. Regisseur Oliver Py hat das Bühnenbild von Pierre-André Weitz mit szenischem Furor belebt. Am 27. April war die Uraufführung an der Oper in Lyon. Im Rahmen der Festivals Justice/ Injustice, das um eben solche Fragen gekreist ist.
Von Sabine Weber
Wenn irgendwo auf dieser Welt gegen ein Todesurteil protestiert wird, wie zuletzt im Fall des in den USA im Bundesstaat Georgia hingerichteten Troy Davis, ist immer auch seine Stimme in den Medien präsent. Seit 1972 kämpft der 1928 geborene Jurist Robert Badinter leidenschaftlich gegen die Todesstrafe. In Büchern hat er diesen Kampf dokumentiert. In L’Éxecution von 1973 verarbeitet er das Trauma einer verlorenen Strafverteidigung vor dem Geschworenengericht in Troyes. Seinen Mandanten kann er nicht vor der Guillotine retten, auch, weil der damalige Präsident Georges Pompidou das Gnadengesuch ablehnt. Von François Mitterrand dann zum Justizminister berufen, initiiert Robert Badinter 1981 die Debatte vor der Assemblée Nationale. Nach der Abstimmung gehört die Justiz, die tötet, der französischen Vergangenheit an. Dennoch: die Zeitung Le Figaro führ eine Meinungsfrage durch, die sie am Morgen der Abstimmung veröffentlicht. 62% der Franzosen hätten für die Todesstrafe gestimmt, so Badinter, nachzulesen in seinem 2000 veröffentlichten Buch L’Abolition. Popularität hat Badinter durch diesen Akt nicht gewonnen. „Monsieur Abolition“ nennen ihn seine Gegner. Und immer, wenn ein fürchterliches Verbrechen passiere, flamme die Diskussion wieder auf. Also hört er nicht auf, für seine Überzeugung zu kämpfen und hat sogar ein Opernlibretto verfasst, das von einem zum Tode Verurteilten handelt. Von einem Sträfling, der sich gegen die Ungerechtigkeit seiner Verurteilung und gegen den brutalen Justizvollzugs auflehnt.
„Für mich ist die Oper die überragende dramatische Kunstform“ (Robert Badinter)
„Er hätte gern die Oper selbst komponiert, was seine bescheidenen musikalischen Qualitäten aber nicht zugelassen hätten“ sagt Robert Badinter süffisant lächelnd im Interview. So hat er eben geschrieben. 16 Szenen mit Prolog und Epilog, einen 90 Minuten dauernden Plot, der ungnädig auf das Ende zielt. Mord und Exekution. Ein Gefängnisdrama, eine schreiende Anklage gegen einen unmenschlichen Justizvollzug. „Ich war schon immer davon überzeugt, dass die Kunst Möglichkeiten bietet, das Thema Gerechtigkeit begreifbar zu machen. Und für mich ist die Oper, die ich seit Jahren liebe, die überragende dramatische Kunstform. Sie fügt dem Drama Musik hinzu und bringt Gefühle wie keine andere zum Ausdruck. Ich mache es kurz. Seit langem wollte ich ein Opernlibretto schreiben und auch erleben, wie eine Oper entsteht“.
Das Thema findet Badinter bei Victor Hugo, natürlich das Thema Justice. Gerechtigkeit! „Ich bin ein Monoman, ich interessiere mich eben für nichts anderes…“ Victor Hugo ist sein erklärtes Vorbild. Seinerzeit war Hugo ebenfalls ein leidenschaftlicher Kämpfer gegen die Todesstrafe. Mit einem Plädoyer tritt Hugo vor den Nationalkonvent, und in seinen Schriften Der letzte Tag eines Verurteilten (1829) oder in Claude Gueux (1832) verarbeitet er seine Überzeugungen literarisch. Claude Gueux ist ein historischer Fall. Er wurde tatsächlich 1832 auf dem Marktplatz von Troyes hingerichtet, weil er den Gefängniswärter des Zuchthauses von Clairvaux erdrosselt hat.
„Einmal die Maschinerie der Justiz in Gang gesetzt, wer vermag sie anzuhalten?“
Hugo beschreibt ihn als einen armen Arbeiter, der wegen Mundraub zu fünf Jahren Arbeitslager verurteilt wird. Im Zuchthaus Clairvaux findet Claude einen Freund, Albin. Der Gefängnisdirektor, trennt die beiden. Denn er will Claude, sein persönlicher Feind, brechen. Claude verzweifelt und bringt den Gefängniswärter um. Die Antwort der Justiz ist die Guillotine, die im letzten Bild der Oper auf einer leeren Bühne auch zu sehen ist. „Einmal die Maschinerie der Justiz in Gang gesetzt, wer vermag sie anzuhalten?“ Diese Frage lässt Robert Badinter am Ende der Oper offen stehen! Den Fall „Claude Gueux“ hat er zu einem zeitlosen Beispiel in einem Ideendrama aufgearbeitet. „Ich habe mir die Akten von diesem Fall aus den Archiven in Troyes kommen lassen. Der echte Claude Gueux hatte nichts zu tun mit dem von Hugo. Er war ein gewöhnlicher Dieb, von dem der Direktor erfährt, dass er eine homosexuelle Beziehung mit einem jungen Mann namens Albin hat. Und ich habe ein weiteres Dossier entdeckt, das drei Jahre nach dem Tod von Claude Gueux entstanden ist. Darin wurde Albin zu lebenslänglich verurteilt, weil er einen Mitgefangenen, den er sexuell bedrängt und der sich ihm verweigert, erwürgt hat.“
Mit 85 das erste Libretto, über die Guillotine, die für die Franzosen ein Symbol ihrer Nation ist
10 Jahre lang hat Robert Badinter dafür gekämpft, dass die französische Justiz solche Fälle, überhaupt keine Fälle mehr mit der Guillotine erledigt und dass die Guillotine in die Asservatenkammer verbannt wird. Warum die Franzosen so lange gebraucht haben, um sich von dieser Tötungsmaschine in der Justiz zu befreien, erklärt der 85 jährige mit funkelnden Augen unter den buschigen Augenbrauen unter anderem damit, dass sie ein Symbol für die Geburt der französischen Nation gewesen sei. „Le roi est mort, vive la nation!“ soll der Henker ausgerufen haben, als er den enthaupteten Kopf von Louis XVI. hoch gehalten hat. Längst ist die Place de la Révolution, wo die Guillotine aufgestellt war, in die Place de la Concorde – den Platz der „Eintracht“ umbenannt worden! Zur Erinnerung an die Abschaffung der Todesstrafe hat Robert Badinter 2011, genau 30 Jahre später, eine Ausstellung im Musée d’Orsay unter dem Titel Crime et Châtiment mit kuratiert. Zum Thema Verbrechen und Bestrafung ist auch die Guillotine erstmals wieder öffentlich aufgestellt worden. Zwischen Bildern von Géricault bis Picasso.
„Wenn ihr die Köpfe der Leute fördert, müsstet ihr sie nicht abschlagen!“ (Chor der Oper Claude)
Und jetzt steht sie im letzten Bild der Oper Claude im Bild, droht und erinnert an die blutige Justizvergangenheit. Es ist natürlich nicht die echte, sondern ein Nachbau aus den Werkstätten der Bühnen in Lyon. „Wenn ihr die Köpfe der Leute fördert, aufklärt, und gebrauchen würdet, dann müsstet ihr sie auch nicht abschlagen!“ singt ein unsichtbar im Hintergrund aufgebauter Chor kurz vor dem Ende. Die Stimme von Hugo geistert über die Bühne, ist sozusagen auf einer Meta-Ebene omnipräsent in dieser Oper.
Alle Beteiligten im Entstehungsprozess und auch der Intendant der Lyoner Oper, Serge Dorny, besuchen mit Badinter das ehemalige Zuchthaus Clairvaux
Zwei Jahre lang hat Robert Badinter an dem Libretto gearbeitet, und aus Hugos Der letzte Tag eines Verurteilten zitiert und ein Gedicht von ihm eingearbeitet. Und immer wieder hat er den Komponisten Thierry Escaich zu seinem Entwürfen befragt, hat Szenen verkürzt, verlängert oder hier und da mehr Poesie hinzugefügt, alles im Dienste der Musik. In einer Sache ist Robert Badinter allerdings hartnäckig gewesen. Alle Beteiligten im Entstehungsprozess, Komponist Thierry Escaich, Regisseur Olivier Py und auch der Intendant der Lyoner Oper, Serge Dorny, mussten mit ihm das ehemalige Zuchthaus Clairvaux besichtigen. Nichts sei nachvollziehbar an der Geschichte, wenn man nicht die Einsamkeit und die menschliche Verzweiflung dieser Häftlinge nachvollziehen kann. „Das Gefängnis ist erst 1971 geschlossen worden. Und hat sich seit 1830 auch nicht verändert. Sie sehen in Clairvaux dieselben Käfige für die Gefangenen, dieselben Verliese, wo sie eingesperrt wurden, die rauen Zellen, an deren Wände noch Fotos kleben. Man spürt an diesem Ort der Isolation auch die Gewalt und die Kerkerbedingungen. Es gab keine Heizung, dafür Brutalität mit Eisenstangen. Gewalt ist wahrnehmbar, deswegen ist die Oper auch von Gewalt geprägt“.
Vertikal übereinander angeordnete Käfigzellen
So fasst der Komponist Thierry Escaich sein Erlebnis zusammen. Stehende oder pulsierende Klangbänder, von aggressiven Schlägen pointiert, sind seine Antwort in der Musik. Eine Filmmusik-Kulisse dominiert über weite Strecken. Und wenn es sein muss, rührt er mit Kitsch. Bühnenbildner Pierre-André Weitz hat das Gefängnis als eine sich ständig rotierende Maschinerie ins Bild gesetzt. Wände öffnen und schließen sich und immer wieder sind horizontal und vertikal über einander angeordnete Käfigzellen zu sehen, in denen die Häftlinge eingesperrt sind. Erbärmliche Gestalten mit kahl rasiertem Schädel und in schmutziges Sackleinen gekleidet. Polizisten setzen immer wieder ihre Schlagstöcke ein. Regisseur Olivier Py fordert größten körperlichen Einsatz aller Beteiligten.
Kunstfigur Claude ist idealisiert
Der Kunstfigur Claude, die Victor Hugo in seinem Roman bereits idealisiert hat, fügt Robert Badinter in seiner Oper noch die politische Dimension eines Arbeiters und Revolutionärs hinzu. Nicht wegen Mundraub, sondern weil er als arbeitslos gewordener Lyoner Seidenweber auf die Barrikaden gegangen ist, sitzt er im Gefängnis. Die Homosexualität, die in Victor Hugos Vorlage allenfalls zwischen den Zeilen herausgelesen werden kann und auch in Robert Badinters Libretto nicht weiter vertieft hat, bringt Regisseur Olivier Py mit drastischen Bildern auf die Bühne, so, als wollte er die zur Zeit in Frankreich heiß umstrittene Debatte um die Homosexuellen-Ehe anheizen. In der zweiten Szene wird Albin das Opfer einer brutalen Massenvergewaltigung. Es gibt eine kurze und heftige Liebesszene zwischen Albin und Claude.
„Ein Justizvollzug muss den Menschen führen“ (Robert Badinter)
Am Rande wird diese Oper auch noch tagesaktuell. Nach der Premiere steht ein Polizeigebot vor der Oper und hält eine Demonstration von den herausströmenden Besuchern fern. Unter ihnen die derzeitige Justizministerin, Christiane Taubira. Und das auch am Rande: Homosexualität ist für Robert Badinter als Justizminister ebenfalls ein Thema gewesen. Denn er hat als Justizminister die Entkriminalisierung der Homosexualität in der Gesellschaft durchgesetzt. In dem Musikdrama Claude geht es aber vorrangig um die Konfrontation zwischen einem gnadenlosen Vorgesetzten und seinem ihm hilflos ausgelieferten Untergebenem. „Ein Justizvollzug muss den Menschen führen, formen, bilden und auf die Reintegration hinarbeiten“, fordert Robert Badinter. Und Victor Hugo habe das schon im 19. Jahrhundert gefordert. Eine Gesellschaft, die Verlierer produziert, gefährdet sich selbst. Die Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit, die zur Zeit in Frankreich auf einen Rekord zusteuert, sind eine große Gefahr. Wie gut, dass es Menschen wie Robert Badinter gibt, die nicht aufhören, ihre Stimme zu erheben. Solche Leute braucht die Gesellschaft, braucht die Justiz! Und Opernfestivals, die so mutig sind wie in Lyon, solche Themen auf die Bühne zu bringen. Siehe auch