Nach „Claude“ 2013 – feiert jetzt „Shirine“ ihre Weltpremiere in Lyon. Beides Opern von Thierry Escaich. Die erste Oper hatte einen prominenten Librettisten, Robert Badinter, ehemals Justizminister der Mitterrand-Regierung. Er verarbeitete die Novelle „Claude Geux“ von Victor Hugo, in der Hugo die Todesstrafe anprangert, die schon zu dessen Zeiten vor allem sozial Benachteiligte getroffen hat. Eine Oper von historischer Relevanz also, zumal Badinter die Guillotine auch abgeschafft hat. Das Libretto zu Escaichs zweiter Oper, ebenfalls ein Auftrag der Lyoner Oper, hat der afghanisch-französische Schriftsteller Atiq Rahimi verfasst, Prix de Goncourt-Preisträger, also der höchsten Auszeichung für Schriftsteller in Frankreich. Seine Vorlage: ein Epos des persischen Dichters Nizami aus dem 12. Jahrhundert. Es handelt von der Liebe zwischen einem persischen Prinzen und einer armenischen Prinzessin, die sich erst im Liebestod vollzieht. Diese persische Weltliteratur trifft in Lyon auf modernes Musiktheater. (von Sabine Weber)
(2. Mai 2022, Opéra de Lyon) Auch im fernöstlichen Kulturkreis existieren Romeo und Julia oder Tristan und Isolde. Khosrow und Schirin heißen sie und wurden in einem der fünf berühmten Epen aus dem Chamsa oder Die Fünf Schätze von Nizami verewigt. In Deutschland liegt ihre Geschichte übersetzt vor (Manesse-Verlag, Bibliothek der Weltliteratur, mit persischen Miniaturbildern angereichert, die zu diesem Epos im 15. und 16. Jahrhundert entstanden sind).
Der Abend ist ausverkauft!
Unglaublich, wie viele Menschen sich am Premierentag in das schwarze Innere der Lyoner Oper drängeln, um von dieser Liebe in einer zeitgenössischen Oper zu erfahren. Der Abend ist ausverkauft bis in den fünften Rang hinauf. Richard Brunel, Intendant seit dieser Spielzeit in Lyon und Regisseur dieser Produktion, im knallblauen Anzug, der Komponist im grau-legeren Casual-Look und der Librettist mit Hut auf, drängeln sich in eine Reihe links im Parkett, wozu einige in der Reihe noch einmal aufstehen müssen und nach rechts rücken. Dann kommt endlich die Ansage, die nicht daran erinnert, dass Masken getragen werden müssen, und endlich ist es dunkel!
Sind Nizamis Lobeshymnen auf den Freiheitsgeist und die Schönheit Schirins erfunden?
Noch bevor die Musik startet, gibt die Regie ein Statement ab. Es steht der Chor in bunten Farben und Mustern gekleidet vorne. Wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte, hätte ich es allerdings von Reihe Q im Parkett aus nicht erkennen können. Der Mund von sieben Damen in der ersten Reihe ist zugenäht, so, wie sich der russische Kremlkritiker Pjotr Pawlenski in einer Aktion gegen Unterdrückung und Sprachverbot mal den Mund zugenäht hat. Sein Bild geistert immer noch im Netz.
Ein Protest also gegen Sprachverbote und ein Appell für die Freiheit der Frau! Allerdings dürfte nicht nur die verschleierte Frau Mühe haben, Empfindungen, Sehnsüchte und Liebesbedürfnisse sowie Lebensplanungen so poetisch, dennoch offen und klar zu bekennen, einzufordern und auszuleben wie Nizamis Schirin. Historisch belegt ist sie übrigens nur als eine der Damen in Khosrows Harem, wohl aber war sie seine Lieblingsdame. Khosrow II. war der letzte Sassanidenherrscher vor der islamischen Invasion im 7. Jahrhundert. Sind Nizamis Lobeshymnen auf den Freiheitsgeist und die Schönheit Schirins (französisch Shirine) erfunden?
In Lyon hat zeitgenössisches Musiktheater einen hohen Stellenwert
Shirine in einer Oper zu huldigen, war die Idee von Atiq Rahimi. Er hat unter dem damaligen Intendanten Serge Dorny für Lyon bereits das Libretto Terre et cendre verfasst. Von dem Avantgardekomponisten Jerôme Colombier vertont, wurde es 2012 in der Lyoner Experimentalspielstätte am Théâtre de la Corix-Rousse aus der Taufe gehoben.
In Lyon hat zeitgenössisches Musiktheater schon immer einen hohen Stellenwert. Unter diesem Aspekt hat Frankreichs zweitgrößtes Opernhaus die große Schwester in Paris längst überholt: John Adams The Death of Klinghoffer, Pascal Dusapins The fall of the last night sind in der Lyoner Oper uraufgeführt worden.
Emilie von der finnischen Komponistin Kaija Saariaho ebenso wie Lady Sarashina von Peter Eötvös oder After life von Michael van der Aa. Der neue Intendant seit dieser Spielzeit, Richard Brunel, bekennt sich zur Arbeit seines Vorgängers, die er fortsetzen will. Ihm hat er auch persönlich viel zu verdanken, wie er in dem Interview vor der Premiere mit Begeisterung erzählt. Der gelernte Schauspieler und Regisseur war vor Lyon Chef der Comédie de Valence im Département Drôme-Ardèche, 100 Kilometer südlich von Lyon. Und er hat in Lyon 2005 seinen ersten Opernregieversuch machen dürfen. Zuletzt hat er Alexander Zemlinskys Kreidekreis 2018 inszeniert. Mit Lyon übernimmt Brunel jetzt erstmals die Spitze eines Opernhauses. Auf 20 Opernregiearbeiten blickt der neue Intendant inzwischen zurück. Und bringt sich in seiner ersten Saison mit dieser Produktion als Regisseur auch erstmals ein.
„Eine Geschichte für die, die keine Stimme haben – Eine Oper für die Freiheit der Gefühle der Frau!“
Der Roman, so erzählt Brunel, liegt bis jetzt noch in keiner französischen Gesamtübersetzung vor. Er habe sich sehr gewundert, als der deutsche Beleuchter Henning Streck zur ersten Probe die deutsche Übersetzung auf den Tisch gelegt habe. Brunel selbst sei auf den Stoff durch einen iranischen Film von Abbas Kiarostami 2008 gestoßen. Jede Aktualisierung des ursprünglichen Stoffes habe schon seit langem unter strenger Zensur gestanden. Sogar ein alter Film von 1934 von Regisseur Abdolhossein Sepanta. Also verzichtete Kiarostami darauf, die libertäre Schirin zu zeigen und hielt die Kamera nur auf die Augen der Zuschauer, die auf einen verbotenen Film reagieren. Nicht von ungefähr sei dann auch im Entstehungsprozess dieser Oper der Operntitel auf die Frau im Fokus reduziert worden.
Die Musik von Thierry Escaich ist von Impulsen durchzogen, von Rhythmen getragen und getrieben
Ein moderner oder ein historischer Orient? Zusammen mit dem Kostümbildner habe sich das Regieteam mit Bildern vom heutigen Iran stimuliert, sich die Farben angeschaut, in die sich iranische Frauen und Männer heute kleiden. Die historischen Miniaturbilder zum Roman bebildern die Geschichte sozusagen als historischen Verweis. Das Buch ist im Bühnenbild sogar omnipräsent. Die zentrale Bühnenskulptur sieht wie ein aufgeschlagenes Buch aus. Dennoch wohl besser, das Buch vorher nicht zu lesen. Neben zahlreichen Episoden, Begegnungen und Stationen – Nizami mischt sich sogar mit Herrscher- und Machtkritik und Lebensweisheiten persönlich ein – bietet es vor allem reichlich poetische Bilder. Naturverhaftete Gleichnisse, Stimmungen bis hin zu Gerüchen …Nizami huldigt mit seinen Worten einer Sinnlichkeit auf allen Ebenen bis hin zum Rauschhaften, zugunsten einer Liebe, die wahrhaft in der Seele verankert sein muss.
Thierry Escaichs Musik setzt lieber auf Handlung, ist durchweg von Impulsen und Rhythmen getragen und getrieben, macht Aufregung, Spannung, ist absolut strukturiert und auf Entwicklung hin angelegt. Das hat in seiner ersten Oper Claude, die nur unter Männern im Gefängnis spielt, schon für unglaubliche Dynamik gesorgt. Und auch hier! In Liebesdingen hätte Narkotisch-Ekstatisches aber vielleicht doch auch gut getan, etwas mehr Innehalten. Vielleicht sogar etwas Naivität, wie das Messiaën in seiner durchaus harten Klangsprache so wunderbar vollziehen konnte. Ein bisschen Zauber, es muss ja nicht immer gleich Kitsch sein!
Ein weiterer berührender Moment ist die Begegnung mit dem sie vergötternden Steinmetz Farhad
12 Tableaux haben Librettist und Komponist aus dem Gesamtwerk destilliert, was sicherlich eine schwierige Aufgabe war. Es funktioniert, auch wenn nicht immer nachzuvollziehen ist, wie und warum das eine auf das andere folgt. Aber so ist das in einem Epos. Die lebenslange Liebe bis in den Tod, die nur durch eine Bildbetrachtung ausgelöst wird, bleibt in der Oper Setzung. Khosrow mit Schnurrbart, der über seinen Anzug auch mal einen weiten persischen Kittel wirft und Turban aufsetzt, ist und bleibt leider mehr oder weniger ein-und-derselbe eifersüchtig kontrollierende Macho (Julien Behr). Shirine (Jeanne Gérard) wirkt viel zu oft wie eine aggressive Pinklady. Sie trägt zunächst einen grellfarbenen modernen Anzug, sagt immer nein und weist zurück. Wird dieser Eindruck vielleicht auch durch ihren Stimmpart verstärkt?
Wohltuende Ausnahmen sind der Tod von Shirines Tante Chamira, die in der Oper die Stelle der Mutter im Roman einnimmt. Sie wird von Shirine und der Musik inniglich betrauert. Ein weiterer berührender Moment ist die Begegnung mit dem sie vergötternden Steinmetz Farhad (Florent Karrer; noch ein Geliebter, für den Shirine nur im Traum existiere!). Eine Episode, die kein davor und danach hat, aber ihre große Empathie zeigt. Denn sie betrachtet Farhads Schwielen, die niemand sonst bemerkt, und sie legt sich ganz dicht neben ihn. Das wirkt um so mehr, als zuvor eine Art Gebirge mit ihm obenauf wie eine Apotheose gigantesk unter Trockeneisdampf von hinten durch einen Riesentür hinein gefahren ist.
Persisches Flair…
Der Chor ist permanent und intensiv miteinbezogen, bringt aber auch viel Lastigkeit, selbst wenn die Frauen manchmal nur sanft summen. Oft steht er massiv im Bild. Und man fragt sich dann doch irgendwann, wo der flirrende Orient duftet?
Persisches Flair gibt es mit vier orientalischen Instrumenten: dem Kanun, einer türkisch-arabisch-persischen Zither, einer Nay, das ist eine in der islamischen Musik verwandte Flöte, einer armenischen Duduk, einem Klarinetten-ähnlichen Instrument, und der Tombak, einer Handtrommel. Diese Instrumente integriert Escaich geschickt in den Orchesterklang, sie erzeugen keine Folklore, sind aber immer herauszuhören. Gleich zu Anfang spielt das Kanun solistisch zu einem Bläsersatz.
Wenig Frau, viel Mann
Seltsam, dass die starke Frau inmitten der vielen Männer, die Escaich und sein Librettist bewusst auch in ein Spannungsverhältnis zu ihr gesetzt haben, nicht wirklich stark wirkt. Das ist doch das Thema. Es gibt das männliche Erzählerpaar Barbad (Laurent Alvaro) und Nakissa (Counterternor Théophile Alexander). Beide sind in einen grauen, bzw. braunen Mantel gekleidet, übernehmen immer mal wieder das Geschehen und schalten sich ein. Wer sie sind wird nicht wirklich klar. Der vierte Mann ist Chapour, der hier von Jean-Sébastien Bou gesungen wird. Er hat in Claude die Titelpartie verkörpert. Hier ist er Khosrows gewitzter Diener, ein Künstler, Maler und Urheber des Bildes, in das sich Shirine verliebt. Eine insgesamt zwielichtige Figur, aus der man ebenfalls nicht wirklich schlau wird.
Ein großer Bogen
Der Musik und auch der Regie gelingt es dennoch, einen großen Bogen zu schlagen und die Tableaux in eindreiviertel Stunden ineinander zu verschachteln. Für die Regie die Herausforderung, die auch gemeistert wurde. Bühnenbildner Étienne Pluss hat die zunächst mehrwandige Bühnenskulptur gebaut, die auf einer Drehbühne immer andere Räume öffnet und an ein aufgeschlagenes Buch erinnert. Auf den Seiten-Wänden sind die persischen Miniaturbilder projiziert. Shirines Frauen schießen dann auch mal sehr modern, mit Schallschutz auf den Ohren, auf Tiere im Bild oder männliche Reiter. Die Skulptur öffnet sich dann auch und legt Zwischengänge frei. Gelungen ist das Bild zu einem instrumentalen Intermezzo. Khosrow und Shirine, auf dem Weg zueinander, begegnen sich immer gerade nicht.
Eine der stärksten Szenen ist die Ballettszene, in der Shirine und Khosrow mit einem Partnerdouble sich tanzend einander nähern, bis die echten Partner zusammenfinden. Doch Khosrow wird dann zurückgewiesen, er soll sich seinen Thron erst einmal wieder erobern. Und da versteht man Shirine ja gar nicht mehr und denkt, zurecht wird er jetzt untreu. Er heiratet nämlich Maryam, die Tochter des byzantinischen Kaisers, der ihm ein Heer stellt, um sein usurpiertes Reich zurück zu erobern. Eine von vielen historischen Episoden aus Nizamis Roman. Maryam bleibt in der Oper eine stumme Rolle, vielleicht wäre es besser gewesen, sie wegzulassen. Nach ihrem Tod fallen sich Shirine und Khosrow dann endlich in die Arme. Doch die Freude währt kurz, sein Sohn bringt ihn um, weil er Shirine an seiner Stelle heiraten will. Und Shirine tötet sich, denn in der Ewigkeit wird sie mit Khosrow vereinigt sein. Zum Schluss bildet die Bühnenskulptur einen geschlossenen Kasten, der an ein Mausoleum erinnert. Vor dem hat der Chor das letzte Wort: „Shirine…“
Ob die Oper Repertoire-fähig ist, wird sich zeigen
Großen tosenden Applaus gibt es für den überreichen Abend. Gesungen und musiziert wird unter der Leitung von Franck Ollu – wie immer in Lyon – auf hohem Niveau. Dem Lyoner Publikum hat es eindeutig gefallen, auch wenn die kritische Seele über den Versuch, diese orientalische Literatur im westlichem Musiktheater aufgehen zu lassen, auch ein bisschen irritiert bleibt. Ob diese Oper Repertoire-fähig ist, wird sich zeigen. Eine Chance hätte sie in dem glamourösen Opernhaus von Baku. In Azerbaidschan wird Nizami als Nationalheld verehrt. Seine Heimatstadt Gändschä liegt innerhalb der aserbaidschanischen Grenzen. Und in diesem muslimischen Staat, wenn auch eine Autokratie oder „Präsidialrepublik“ mit hässlichem Gesicht, leben Frauen nicht so unterdrückt wie im Iran oder einigen muslimischen und arabischen Staaten. Auf jeden Fall wünscht man der Oper in Lyon weiterhin den Mut zu solchen Produktionen. Es kann nicht immer alles in allem gelingen…
Musikausschnitte:
1) Aus Thierry Escaich, Shirine, Ausschnitt aus dem Finale, Orchestre de L’Opéra de Lyon, ML Franck Ollu
2) Aus Thierry Escaich, Shirine, Jeanne Gérard (Shirine) und Khosrow (Julien Behr), Orchestre de L’Opéra de Lyon, ML Franck Ollu
3) Aus Thierry Escaich, Shirine, Meri Vardanyan, Kanun, Levon Chatikyan, Duduk