Lugi Nonos „Intolleranza 1960“ heißt in dieser Premiere „Intolleranza 2022“. 2021 hatte diese Inszenierung in Wuppertal zwar schon ihre, allerdings nicht öffentliche Premiere – in einer von Corona zerfledderten Saison. Das Regieteam um Dietrich Hilsdorf hat sich daher noch einmal ins Zeug geworfen, fünf Wochen lang geprobt und einiges verändert, um die Aktualität des hochpolitischen Stoffes noch mehr in unserer Realität zu verankern. Nono hatte zwar eine Jahrhundertflut in der Po-Ebene im Kopf, die sich aber problemlos auf die Flutkatastrophe im letzten Jahr beziehen lässt. (Von Sabine Weber)
(22. Oktober 2022, Oper Wuppertal) Was aber jetzt besser ist im Vergleich zur Vorjahres-Inszenierung muss offen bleiben, da klassikfavori weder bei der internen Premiere dabei war und auch den Stream verpasst hat.
Nonos azione scenica – Nono vermeidet das Wort Oper – verwendet Lyrik und Prosa von Linken, Résistance- und Freiheitskämpfern, die sich gegen Unterdrückung, Folter und für die Arbeiterbewegung einsetzen. Nono war selbst ein glühender Linker. Seine Werke enthalten immer politische Botschaften (Quaderni del carcere über Notizen aus dem Gefängnis, Il canto sospeso über Abschiedsbriefe zum Tode Verurteilter, La Fabbrica illuminata auf Proteste von Giftgasen und Verbrennungen ausgesetzten Arbeitern, usw.), so sie nicht hochpoetisch der Liebe als einziger Hoffnung huldigen. Nono (1990 in Venedig verstorben) war zugleich Idealist und Humanist. Seine Motivation umschrieb er einmal mit „menschlichen Anreizen“. Das könnte ein Ereignis sein, ein Erlebnis, ein Text unseres Leben, alles, was den Instinkt anrühre und das Gewissen.
Ein namenloser Flüchtling gewinnt Charakter mit Markus Sung-Keun Park
In seinem Opernerstling, im Auftrag der Venezianischen Biennale komponiert, stellt Nono die Texte wie in einer Versuchsanordnung zusammen. Sie ergeben noch nicht die Handlung, sondern sind zumeist poetisch-reflexives Kapital, das den Regisseur fordert. Dietrich Hilsdorf verlegt die Versuchsanordnung in einen Container (Bühne: Dieter Richter), der irgendwo stehen könnte. Ein namenloser Ort von Gestrandeten, Verzweifelten, Unterdrückten, Flüchtlingen…
Ein namenloser Flüchtling gewinnt durch Markus Sung-Keun Park zunehmend an Charakter. Zu Anfang vielleicht ein bisschen zu nervös, aber von der ersten bis zur letzten Minute mit rückhaltlos gekonntem Stimmeinsatz dabei. Eine Riesenleistung! Im lieblosen Container-Inneren mit Plastikstühlen unter Neonröhrenlicht erwacht er auf einem Schmuddelbett. Durch den laufen unentwegt Gestalten wie er – in blutigen Plastikschürzen, wie sie in Schlachtfabriken getragen werden. Und bereits zum Einleitungsschor laufen sie, kaum erkennbar, hinter dem schwarzen Gazevorhang, während über Lautsprecher von hinten durch den schwärzlichen Raum ein Madrigalchor in moderner Klangsprache tönt (ChorWerk Ruhr). „Lebendig ist wer … nicht aufhört zu lieben!“ Erste und letzte Zeile des Chores.
Der Chor ist in Intolleranza omnipräsent
Der Flüchtling sehnt sich nach der Heimat, will zurück. Immer wieder werden Daten eingeblendet: „Freitag, 28. Januar 2022“. „Sonntag 23. Oktober 2022“. Hoffnungslose Tage. Eine Frau hält ihn zurück. „Habe ich dich nicht immer warm gehalten?“ Annette Schönmüller bringt sich als ausgewiesene Stimmexpertin für Neue Musik einfühlsam ein, springt dann aber auch wütig auf hohen und tiefen Tonklippen herum. Schwört ihm Rache. Protestbänder werden plötzlich hochgehalten. Chormitglieder stehen auf der Bühne, später dann auch einmal rechts und links neben dem Parkett verteilt. Der Chor ist in diesem Werk omnipräsent. Setzt Aufrufe, moralische Appelle. Vertritt Gefangene, Gefolterte, die in der Flut Untergegangenen…
Weit kommt der Flüchtling mit seiner Sehnsucht nicht
Jetzt verdichten sich insistierende Fragen zu einem Verhör. Die Polizei hat den Container wie bei einem GSG9-Einsatz gestürmt. Polizisten gerieren sich als überlegen. Folter konkret zu zeigen ist unnötig. Die Musik deutet Schmerzen mit Flatterzungen in den hohen Flöten an. Die Männer des Opernchores der Wuppertaler Bühnen schmettern aus den Rängen links oben „Sie foltern Tag und Nacht…“. Der Flüchtling stülpt sich einen roten Plastikeimer über den Kopf, was schrecklich hilflos wirkt und gleichzeitig eine Foltermethode sein könnte…
Ein anderer Gefangener – ein Algerier, den Simon Stricker
singt und verkörpert – gebrandmarkt mit einem gelben Kreuz statt des Judensterns, zieht den Flüchtling wie einen Hund herein. Die Polizei sieht belustigt zu. Weit ist der Flüchtling also mit seiner Sehnsucht nicht gekommen.
Dass der Mensch dem Mensch ein Helfer sein soll!
Der Flüchtling findet eine Flüchtige als Gefährtin, die ihm die Suppe kocht und mit Zeichen ruft, wenn er zusammensinkt (Siehe Titelbild. Foto: Bettina Stöß) oder manisch aus dem Containertürfenster starrt. Lisa Mostin mit wohlklingendem Stimmtimbre trotz melodischem Neue-Musik-Gebirge, tritt wie eine Alevitin auf, aber nicht mit Kopftuch, sondern mit Tschador (Kostüme: Nicola Reichert). Die Flut reißt sie im Schlusschor mit. An die, die wieder auftauchen, wird appelliert, nicht zu vergessen, dass der Mensch dem Menschen ein Helfer sein soll… Wer dächte da nicht an die Hilfsbereitschaft an der Ahr und der Erft…
Die Inszenierung bringt nahe, was Katastrophen, Unterdrückung durch Umstände oder Staatsgewalt mit dem Menschen macht, bringt das Heimatlos-werden und -geworden sein nahe. Wichtig in diesen Zeiten, das Immer-wieder-mitfühlen zu üben! Und verbindet diese Zustände auf der Bühne zu einem Schrei nach dem freiheitsliebenden Willen, der im Libretto deutlich formuliert ist. Das musikalische Niveau ist in Wuppertal hoch, mit Komponist und Dirigent Johannes Harneit im Graben vor dem in Sachen Neuer Musik inspiriert agierenden Sinfonieorchester Wuppertal. Dazu ein großartiges Sängerensemble, das nichts zu wünschen übrig lässt.
Erwähnt werden muss noch Andrey Berezin aus dem Pina-Bausch-Ensemble, der die Traumatisierung eines Gefangenen tanzt, dass Schmerzen über derartige Demütigung in Mark und Bein zu spüren sind. Unvergessen bleibt dennoch die legendäre Inszenierung in Köln vor genau 22 Jahren, denn der Regie von Günter Krämer ist es damals gelungen, auch das Titelwort Intoleranz – Intolleranza sozusagen als tiefmenschlich verankerte Ursache aller menschlich verursachten Ungerechtigkeiten darzustellen. Durch Einzelne, die von der Masse ausgegrenzt werden. Damals waren sogar Schüler, also Kinder und Jugendliche beteiligt. Vielleicht überlagern sich aber auch die damaligen Eindrücke, weil es die erste Intolleranza-Erfahrung, Intolleranza 2000 war…
Weitere Aufführungen: Samstag 5. November 2022, 19:30 und Freitag 16. Dezember 2022, 19:30. Tickets hier