Dem Viel- und (nicht nur) Schön-Schreiber Wolfgang Rihm zum 70. – Eine persönliche Hommage

Er ist der meistgespielte zeitgenössische Komponist und erreicht mit seinem Musiktheater nicht nur ein breites Publikum jenseits der Spezialisten für Neue Musik, die längst ihr großes N eingebüßt hat und heute so vielfältig ist wie noch nie. Rihm hat sich in den letzten Jahren immer wieder neu erfunden und erstaunt in seinen Werken für alle Gattungen mit einem ungemein weiten Spektrum inhaltlicher wie ästhetischer Art. Die soeben erschienene Biographie von Eleonore Büning erfasst das exemplarisch; ein viertägiges Festival der musica viva in München ehrte den Komponisten zu seinem 70. Geburtstag am vergangenen Sonntag, den 13. März. (Von Klaus Kalchschmid)

Es gibt zeitgenössische Komponisten, die begleiten mich seit meiner Jugend. Dazu gehören Mauricio Kagel und Hans Werner Henze, aber auch der heute 86-jährige Aribert Reimann und vor allem Wolfgang Rihm: Unvergessen ist der 14. Juni 1980, als ich, 17-jähriger Schüler des musischen Gymnasiums in Bayreuth, mit dem Zug nach Nürnberg fahre, um Jakob Lenz, die später viel gespielte Kammeroper des 10 Jahre älteren Wolfgang Rihm nach Georg Büchners berühmter Erzählung zu erleben. Deren Kunde ist via Süddeutscher Zeitung bis in die oberfränkische Provinz gedrungen. Das Schlüsselerlebnis wiederholt sich, als man reifer, klüger und mit neuer Musik erfahren geworden ist, in München 1999 und Stuttgart 2014. Dort findet die „Kammeroper“ mit Georg Nigl in der Titelpartie sogar auf die große Bühne des Württembergischen Staatstheaters.

1987 studiere ich in Hamburg Musikwissenschaft und kann Rihms ungleich seltener gespielte Kammeroper Nr. 1 mit dem Titel Faust und Yorick von 1977 erleben, sowie – glücklicher Zufall – wenig später in Berlin die Voraufführung der Uraufführung seines großartigen Oedipus. Jahre danach ergänzen bei den Salzburger Festspielen die erste Aufführung von Dionysos (2010) nach Friedrich Nietzsche und Die Eroberung von Mexico (2015) in der Regie von Peter Konwitschny mit Angela Denoke und Bo Skovhus in den Hauptrollen den prägenden Eindruck vom so vielgesichtigen Musikdramatiker Wolfgang Rihm.

Besonders eingebrannt aber hat sich vor 21 Jahren bei der EXPO 2000 in Hannover ein ganzer Tag mit dem Gesamtwerk Rihms für Streichquartett. Von 11 Uhr morgens bis in die Nacht hinein erlebe ich in Aufführungen des Arditti-Quartetts, das zahlreiche Quartette Rihms uraufführt, und des Vogler-Quartetts: Vom Streichquartett (g) des 14-Jährigen bis zum 10. Quartett, bis zu Fetzen von 1999 und der Uraufführung von Stilles Stück für Bariton und acht Streichinstrumente aus dem Jahr 2000 höre ich alles was Rihm, gedruckt oder nicht gedruckt und vielfach nie öffentlich aufgeführt, bis dahin vor allem für vier Streicher komponierte. Netto sechs aufregende Stunden Musik sind das und mehr noch: Rihm selbst kommentiert das alles mit einer Eloquenz und Unmittelbarkeit, dass man den damals 48-Jährigen noch heute reden hört.

Als ich jetzt in der Akademie der Schönen Künste in München innerhalb eines mehrtägigen Rihm-Festivals der musica viva das erste und neunte Streichquartett mit dem großartigen jungen, gerade mit dem (mit 60.000 Euro dotierten) Musikpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung geehrten Leonkoro Quartett erneut live höre, erinnere ich mich genau an damals. Diesmal jedoch sitzt Rihm, der seit 20 Jahren gegen einen Krebs im Oberschenkel kämpft, im Rollstuhl und hört nur zu. Dafür unterhält sich Eleonore Büning mit Nikolaus Brass, dem wenig älteren Komponisten-Kollegen, sehr launig über ihre gerade erschienene Monographie über Rihm, fälschlicherweise wohl verkaufsfördernd Die Biographie genannt. 1988 noch Rihm-Verächterin, wie Brass genüsslich eine Polemik Bünings aus der taz zitiert, auf die der Komponist mit einer Postkarte nicht minder ätzend reagiert hat, ist sie in den letzten 33 Jahren zum Freund und Fan geworden.

Aus Anlass des 60. Geburtstags noch mit einer nach drei Kapiteln abgebrochenen Biographie gescheitert, hat Büning nun zum 70. ein äußerst lesenswertes Buch herausgebracht, das zwar nur einen Bruchteil des Rihmschen Œuvres würdigen kann; aber das geschieht mit großer Liebe, Kenntnis und Empathie, ist dazu brillant geschrieben und macht Lust darauf zu hören, was man noch nicht kennt. Es wartet aber auch auf mit einigen Seitenhieben auf jene, die sich schon früh mit der für viele Kollegen und Musikjournalisten schwer auszuhaltenden Popularität und dem breiten Spektrum Rihmschen Komponierens schwertaten, Stichwort „Neue Einfachheit“, ein Schlagwort, das messerscharf in seine Einzelteile zerlegt wird und zu Staub zerfällt.

Leider fehlen Werk- und Literaturverzeichnis, die den Umfang wohl gesprengt hätten, obwohl sich Büning nach eigener Aussage sorgfältig „durch die Sekundärliteratur gepflügt hat“. Aber jede Menge Anmerkungen, die diese Literatur aufgreift, und eine äußerst hilfreiche Diskographie gibt es. Denn, wie Büning sagt, „auch wenn vieles vergriffen ist, greifbar im Netz ist es dennoch!“ Immer wieder verweist sie darauf, dass es wichtige Werke nicht in Aufnahmen auf CD gibt, obwohl doch die Mitschnitte der Uraufführungen in den Archiven der Rundfunkanstalten schlummern. Außerdem bieten am Ende „25 Fragen und Antworten zum Alltag des Komponierens“ auf 51 Seiten Erhellendes unter dem Titel „Gezielte Verdunkelung“.

Georg Nigl, der 2014 den Jakob Lenz in Stuttgart kongenial verkörperte, sang jetzt im Herkulessaal der Münchner Residenz nicht nur die Uraufführung der Terzinen an den Tod nach Gedichten von Albert Vogoleis Thelen, sondern auch die Wölfli-Lieder für Bassbariton und Orchester von 1981. Das besitzt wie sein Lenz eine ungeheure Intensität, die unter die Haut geht und bis auf weiteres zusammen mit anderen Werken unter Leitung von Ingo Metzmacher im Video-Stream auf der Website des Bayerischen Rundfunks verfügbar ist.

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