(Titelfoto: Thilo Beu) „Calisto alle stelle“ wird im Prolog und im Schlusschor dieses dramma per musica vom berühmtesten Schüler Claudio Monteverdis gerufen. Aber was hat die unschuldige Nymphe davon, im Himmel als Sternbild entsorgt zu werden? Ovids „Metamorphosen“ hin oder her. Das ist eine Geschichte über eine missbrauchte Frau und Frauen, die ihre Rolle falsch verstehen – dennoch, die Gesangseinlagen sind großartig und ausgestattet mit beschwingten Intermezzi und Ritornellen. (Von Sabine Weber)
(8. Oktober 2020, Theater Bonn) Der Göttervater Jupiter (Martin Tzonev) sieht aus wie Otto Sander im Himmel über Berlin – Jacket mit Brusteinblick über weit schwingendem Plissee-Hosenrock, alles in mausgrau. Und er legt Calisto im wahrsten Sinne des Wortes „rein“ oder aufs Kreuz. Er erscheint ihr in der Gestalt ihrer bewunderten Chefin Göttin Diana. Gern assistiert Merkur, in grauem asymmetrischen Halbrock – eine Schoß fehlt – in Jupiter-grau mit Goldschühchen, wie ein Zuhälter mit Undercut-Haarschnitt und Geldköfferchen (Giorgos Kanaris). Juno (Marie Heeschen) als David-Bowie-Android – die Achtziger Jahre lassen stilistisch grüßen – erscheint und macht eine Szene pars pro toto gegen alle Männer. Damit zementiert sie eine leidige Opferrolle! Sie lamentiert im Namen aller Hausfrauen, die immer betrogen würden. Geht es noch? Calisto (Lada Bočková), die große Verliererin, ist eine streetworld-Kämpferin mit grauer Mütze und sieht mit ihrem Bogen ein bisschen wie Jennifer Lawrence in Die Triubute in Panem aus. Die Krönung ist dann Diana (Charlotte Quadt). Die der Keuschheit verpflichtete Jagdgöttin verstößt Calisto unbarmherzig wegen des unverschuldeten Seitensprungs, pflegt aber ihrerseits ein herzergreifendes Techtelmechtel mit Endymion (Benno Schachtner).
Eigentlich eine Geschichte, die heute niemand braucht!
Das ist eine Geschichte, die heute wirklich niemand braucht, allenfalls beim Mätressen-König Ludwig XIV. hätte angesagt sein können. Drei Jahre zuvor war Cavalli, dem ein Ruf bis nach Frankreich vorauseilte, auch aus Venedig nach Paris gerufen worden, um dessen Krönungsfeierlichkeiten mit einer Xerxes-Oper zu gestalten. Da lief ihm allerdings Giovanni-Battista Lulli (besser französisiert bekannt als Jean-Baptiste Lully) mit Balletteinlagen den Rang derart ab, dass die Legende sagt, Cavalli sei als gebrochener Mann nach Italien zurück gekehrt. Heute ist seine Calisto-Oper allerdings weit vor Lully eine der meistgespielten Barockopern überhaupt. Und ein Gebot der Corona-Stunde – wie unser klassikfavori-Experte Klaus Kalchschmid in unserer ersten Opernkonferenz prognostiziert hat: Mozart und Barockmusik, weil es da kleinere Corona-konforme Ensembles gäbe. Corona hin oder her, der international berühmte Francesco Cavalli zaubert die allergrößte Musik hervor. Und das mit erstaunlich kleinem Orchesterapparat. Erste und zweite Geigen – die Partitur ist meist dreistimmig – und Basso continuo mit zwei Celli, Cembalo, Chitarrone, Orgelpositiv und ein bisschen Tamburinschlagwerk. Die Opernhäuser Venedigs waren damals ziemlich klein. Die Musiker des Bonner Beethoven-Orchesters werden wunderbar unterstützt vom Alte-Musik-Spezialist Sören Leupold, dessen Chitarronenbegleitung tatsächlich bis in den hintersten Sessel des zweiten Rangs – ganz hinten – deutlich hörbar ist.
Das antike Theater ist Vorbild und wird durch ein bruchlos musikalisches Affektspiel bedient
Es entstehen immer neue Affekte aus den Basslinien heraus, die bei Cavalli wie Feuerwerke zünden. Dem musikalischen Leiter Hermes Helfricht gelingt es, sowohl den monodischen Gesang, das war ja die etablierte neue Gesangsmode, mit der Monteverdi die Oper als Gattung etablieren konnte, und ihre manirierten Gesangsgesten bis hin zu ausschweifenden Koloraturen mit farbiger Generalbass-Begleitung zu entfesseln, auch Bassmodelle wie Ciaconna auszukosten, und alles so zu bewegen, dass in jedem Moment neuer Ausdruck entsteht. Die Tempi und den Gesang gibt Helfricht von einem zweiten Cembalo aus an, vor dem er historisch exakt meist nur dirigierend sitzt. Nahtlos geht es in die Ritornelle und instrumentalen Zwischenspiele mit meist tänzerischem Charakter hinein und wieder heraus.
Die Szenen ergeben so wie im antiken Theater ein bruchloses Spiel. Das wird von fettFilm, Momme Hinrichs und Torge Møller durch eine Drehbühne unterstützt. Sie sieht von vorne aus wie ein Bunkerbetonbruchlandschaft, die mehrere absteigende Treppen hat, auf die das fettFilm-Duo auch kunstvoll projiziert. Wird die Bühne umgedreht, gibt es eine Höhle, in der Calisto von Juno im Bärenüberwurf kaserniert wird. Sie wird dem Mythos nach zum großen oder kleinen Bärensternbild. Wie in der Kölner Zauberflöte geht der Mond auch in Bonn nachthimmlisch über dieser Bruchbetonlandschaft auf. Der Mond ist hier das Zeichen der Göttin Diana und ihrer keuschen Nymphenschaft.
Die Leistung des Bonner Sängerensembles ist nicht hoch genug zu preisen!
Charlotte Quadt als Diana und Diana-Jupiter – jeweils unterschieden durch ein mondsilbernes oder goldenes Schulterteil, ist eine der großen Gewinnerinnen des Abends. Mit ihrer wohlgerundeten Mezzostimme gibt sie ihrem Sehnen, Schmachten und Zehren nach Endymion klagend Ausdruck. Das Lamento gilt als Errungenschaft von Monteverdi und seinem Nachfolger Cavalli. Endymion erscheint als Outdoor-Antiheld mit Rucksack in Wanderschuhen und verschläft seine Liebesszenen am liebsten. Countertenor Benno Schachtner überrascht als Endymion mit wohlgeformten Alttönen. Zuletzt war er in Bonn in Echnaton von Philip Glass zu hören. 2010 ist er zum besten Nachwuchssänger Nordrhein-Westfalens gekürt worden. Die Battuta di gola – eine damals geläufige frühbarocke Verzierung in den Kadenzen – gelingen den Protagonist*innen zwar unterschiedlich gut. Dennoch ist die Leistung des Sängerensembles nicht hoch genug zu preisen. Die Streicher phrasieren mit ihren modernen Bögen wunderbar barock. Bleiben noch die Störtruppe um Gott Pan zu erwähnen, mit Hörnern an den Schultern, und allen voran die Nachwuchssängerin Ava Gesell. Sie setzt mit hoffnungsgroßer Stimme und viel Spieltalent den Panhörigen Hirten Satirino in Szene. Und legt sich mit Dianas komischer Nymphe Linfea spitzbübisch an. Die ist übrigens wie die Amme in Monteverdis letzter Oper L‘incoronazione di Poppea mit einem Mann (Kieran Carrel) besetzt. Cavalli hat bei Monteverdi gut gelernt. Die Kürzung auf 90 Minuten – ohne Pause – sind geschickt gemacht und kommen diesem außergewöhnlich gelungenen Opernabend entgegen. Der von uns, von klassikfavori, sehr empfohlen wird!