Es hätte kein besserer Raum sein können als die romanische Basilika Sankt Gereon mit Gott-als-Richter des Jüngsten Gerichts im Chor-Fresko. Ensemble Sequentia stellt Endzeitfragmente vor. Wie detailliert Mönche in Fulda, Alkuin, der Musikchef Karls des Großen, oder Otfrid von Weißenburg im Elsass das Ende der Zeiten ausgemalt haben und Endzeitstimmung verbreiten, erstaunt. Benjamin Bagby und seine Mitstreiterin Jasmina Črnčič tragen die Texte mit Mimik und Gestik, trotz Leier in der Hand, so lebhaft vor, dass einem vor dem Weltgericht bange werden konnte. Norbert Rodenkirchen auf mittelalterlichen Flöten in pythagoreischer Stimmung oder Ian Harrison auf einer trompeten-ähnlichen Olifant-Nachbildung unterstützen atmosphärisch. (Von Sabine Weber)
(30. Juni 2021, Sankt Gereon) Diese Basilika mit dem romanischen Dekagon vor dem Hochaltar blieb selbst den letzten Romanischen Sommerausgaben immer verschlossen. Das ZAMUS-Festival schafft es, ihn während der ersten neuen Ausgabe nach dem Lockdown zu öffnen. Ensemble Sequentia in Vierer-Besetzung nutzt die Ebenen vor und hinter dem Altar. Wie Patriarchen mit dichtem grauen teils wallendem Haar mitsamt einer weiblichen Prophetin bewegen sie sich in einem Ritual und formieren sich stets neu.
In den 1970ern hat Benjamin Bagby hier in Köln damit begonnen, mittelalterliches, zum Vortrag überliefertes Schriftmaterial aufzuspüren, zu entziffern und wieder aufzuführen. Auch die Bedingungen für die Rezitationen hat er erforscht. Bis heute ist er der größte mittelalterliche Epenerzähler, den wir kennen. Die Stimme seiner Mitstreiterin Jasmina Črnčič entspricht verblüffend dem Timbre von Barbara Thornton, die mit Bagby das Sequentia-Projekt gestartet und die er 1998 auf tragische Weise verloren hat. Die Prophezeiung aus der alt-isländischen Edda ist bereits in einem älteren Sequentia-Konzert zu erleben gewesen. In diesem Konzert ist Ragnarök das Finale. Wie Bagby und Črnčič den Refrain über den laut heulenden Garm vor Gnipahellir in dräuendem Ton zweistimmig vortragen, ist herrlich bedrohlich. Zweistimmig heißt in Quint- und Quartparallelen. Im Evangelienbuch des Otfrid von Weißenburg ist der Gerichtstag als Drohung formuliert. „Glücklich die, gegen die bei diesem Gerichtstag nichts Schwerwiegendes vorgebracht werden kann. … Denn Hilfe, glaube mir, gibt es dann keine mehr. Weh uns, das ist auch der Tag der Finsternis und des Sturmes, der die Sünder hinwegfegt…“ Črnčič mit einem kleinen Gesangbüchlein in der Hand blickt streng nach vorn. Bagby begleitet mit der Leier und starrt sie an, um dann im Refrain wie in Trance einzusteigen…
Norbert Rodenkirchen auf einer Schwanenknochenflöte, deren Spielweise er entwickelt hat, und Ian Harrison auf einem Widderhorn treten miteinander an. Harrison, schon als der Miles Davis der Alten Musik betitelt, beherrscht die Zirkularatmung. Auf dem Olifant hält er trompetenähnliche Orgelpunkte, die den Kirchenraum auch mal sehr dominieren. Die mittelalterliche Altflöte wird jedenfalls überdeckt. Im Muspilli-Fragment aus Fulda muss der alttestamentliche Prophet Elias gegen den Antichrist antreten. „Wenn sein Blut auf die Erde tropft, beginnen die Berge zu brennen…“ Wunderbar, dass wir am Beginn des Konzerts die ins Hochdeutsch übersetzten Texte in die Hand gedrückt bekamen und das Mittelhochdeutsch teilweise mitverfolgen konnten. Das unterstützt die Bilder im Kopf! Dazu die archaischen Melodien und pentatonisch gestimmten Klänge der Leier, die in eine andere Welt führen. Es ist Nacht, als wir nach Hause kommen. Wie könnte es nach diesen Endzeitenhörbildern, die jedem SciFi Paroli bieten könnten, auch anders sein. Das Konzert hat um 22 Uhr begonnen. Und noch lange steht das Publikum mit den wieder zu normalen Menschen mutierten Weisen-Propheten zusammen…