Sozialdrama mit Kindsmord – Leoš Janáčeks “Jenůfa” spielt sich in Berlin in eiskaltem Raum ab

Auch das macht digitale Technik möglich. Zwei Online-Premieren am selben Tag könnten wir Dank Aufnahmetechnik nacheinander verfolgen. Dann wird bekannt gegeben, dass die aktuelle Freischütz-Produktion aus München (siehe podcast-Besprechung) sowie diese Jenůfa aus der Staatsoper unter den Linden in Berlin sogar weitere 30 Tage im Stream kostenlos verfügbar bleiben! Beides Sozialdramen, die zu Morden führen. (Von Sabine Weber)

Camilla Nylund (Jenůfa), Ladislav Elgr (Števa). Foto: Bernd Uhlig

(13. Februar 2021, Online-Premiere aus der Staatsoper unter den Linden, Berlin im 3sat-Stream) Leoš Janáčeks Oper aus dem Jahr 1904 ist ein düsteres Familiendrama. Entstanden nach Gabriela Preissovás Schauspiel Die Ziehtochter hält eine dörfliche Gesellschaft vor allem Frauen unter Ehrverlust-Androhung in Schach. Der schönen Jenůfa (Camilla Nylund) droht Schande, wenn sie nicht heiratet. Denn sie ist von Števa geschwängert worden. Aber Männer wie Števa gehen grob und leichtfertig durchs Leben. Števa führt sich mit Machogehabe auf, was Ladislaus Elgr in Kurzhaarrasur, Tarnflecken und mit Springerstiefeln augenscheinlich und stimmlich präsent verkörpert. Als erstes zerhackt er wie wildgeworden einen Eisblock, den er auf die Bühne schleppt. Diese Welt ist kalt, weil Menschen sie kalt machen. Und solche mit Mitgefühl wie Laca werden verachtet. Laca ist Števas Stiefbruder, eine adoptierte Waise, und wird deshalb in der Familie wenig liebevoll behandelt. Darunter leidet er, was Stuart Skelton mimisch, aber auch in seinen Bewegungen als ein unbeholfener Mann mit langem strähnigem Haar und im blauen Wollpullover absolut deutlich macht. Dennoch, er hat die größte Herzensbildung. Rührend kommt er immer wieder mit Blumensträußen an. Denn auch er liebt Jenůfa, und nicht, wie Števa, nur weil sie schön ist. Behauptet er jedenfalls.

Števa lässt die Boryjovkas abblitzen

Camilla Nylund (Jenůfa), Stuart Skelton (Laca). Foto: Bernd Uhlig

Im zweiten Akt (Sechs Monate später) liegt das Kind in einer Wiege, die einsam im Raum steht. Jenůfa, unter der Vorgabe in Wien zu sein, hat heimlich das Kind bekommen. Die Hochzeit mit Števa hat natürlich nicht stattgefunden. Küsterin Boryjovka versucht aber noch einmal alles. Sie überwindet sich, lädt Števa zu sich ein, wirft sich vor ihm und vor der Wiege auf die Knie und fleht, Kind und Mutter aus der Schande zu befreien. Števa lässt die Boryjovkas abblitzen. Die Küsterin vertraut sich dann Laca an, weil er immer wieder nach Jenůfa fragt. Aber da ist er hart: „Nein, Števas Kind lasse er sich nicht unterschieben!“ Das Kind muss also weg! Küsterin Boryjovka betäubt die inzwischen zur liebenden Mutter gewordene Jenůfa, die allerdings immer noch auf Števa hofft, und holt das Kind aus der Wiege. „Während ihres Fieberschlafes sei das Kind gestorben“, erklärt sie der klagenden Mutter. Als es dann zur Hochzeit zwischen Laca und einer noch traumatisierten Jenůfa kommt, platzt die Nachricht von der Eisleiche eines Kindes hinein. Ein riesiger Schockmoment. Jenůfa erkennt die Kleidungsstücke ihres Kindes.

Es gibt doch ein Gewissen und Gerechtigkeit. Der Eisblock schmilzt

Jenůfa wird sofort des Kindsmords angeklagt. Laca stellt sich schützend vor sie. Sein „zurück!“ sprengt fast den Fernsehbildschirm. Küsterin Boryjovka gesteht die Tat. „Ihr Leben, Jenůfas Glück habe sie retten wollen“. Alles kommt ans Tageslicht, auch Števas gemeines Verhalten. Seine neue Geliebte und Verlobte sagt sich von ihm los. Es gibt doch ein Gewissen und Gerechtigkeit. Die gefallene Jenůfa, die immer wieder Laca abgesagt hat, weil sie es doch nicht wert sei, von ihm geheiratet zu werden, richtet sich auf. „Ja, Laca sei der beste Mensch, den sie je kennen gelernt habe!“ Und sie nimmt ihr Schicksal mit ihm an, während die Küsterin, die ihr strenges Gouvernantenkostüm mit Kreuz am Revers längst abgelegt hat, in dem Eisloch steht, das sich im Bühnenboden geöffnet hat. Ein Eisblock hat sich von oben in den Raum gesenkt. Jetzt tropft er und schmilzt auf ihren Kopf mit aufgelöstem wirren Haarknoten hinunter. Jenůfa verzeiht ihr, aber ob es ein Verzeihen und ein glückliches Ende für sie geben kann? Jenůfa und Laca entfliehen in einen sonnengelb leuchtenden Lichtkegel und lassen sie zurück. Die Musik kündet ihnen optimistisch von Zukunft!

Wie Evelyn Herlitzius als Küsterin Boryjovka mit sich ringt, das Kind für Jenůfa zu opfern, vermittelt die eisige Grausamkeit einer Gemeinschaft, die solche Optionen ausspielt

Die Regie von Damiano Michieletto im Einheitsbühnenbild von Paolo Fantin geht auf. In den senkrecht aufgestellten durchscheinenden Plastikwellblechwänden – allenfalls durch grelle Lichtröhren an der Seite gnadenlos beleuchtet – gibt es nur (Kirchen-)Bänke als Einrichtungsgegenstände. Sie werden immer wieder hin- und hergeschoben, wie die Menschen, die auf ihnen sitzen oder liegen. Hinten, später nach rechts verschoben, ein Andachtsaltar mit Kerzen und Kreuz. Will sagen, der Moralkodex ist christlich abgesegnet. Der Eisblock, der sich in der Fernsehbildoptik ziemlich plastikmäßig ins Bild schiebt, wäre vielleicht nicht nötig gewesen, um die vereiste Welt zu markieren, die Menschen gegeneinander aufhetzt. Die Personenregie ist eindrücklich genug. Wie Evelyn Herlitzius als Küsterin Boryjovka mit sich ringt, das Kind für Jenufa zu opfern, vermittelt die eisige Grausamkeit einer Gemeinschaft, die solche Optionen gegeneinander aufwirft. Herlitzius ist in ihrer großen dramatischen Partie beeindruckend. Sie sieht schon zu Anfang das Drama mit Števa kommen. So einen Mann hat sie selbst an ihrer Seite erfahren. Und muss als Beobachterin – fast immer auf der Bühne – alles noch einmal mitansehen. Camilla Nylund mit ihrem jugendlich dramatischen Sopran verkörpert eine sowohl verletzlich ausgelieferte wie zuletzt erstarkte Frau. Zu den Boryjovkas zählt auch noch die alte Boryjovka, für die sich die Wagnerlegende Hanna Schwarz als tatsächlich Betagte großartig in Szene setzt. Großartig überhaupt die gesamte Besetzung. Ladislav Elgr als großer schlanker schnittiger junger Mann, der als Enfant terrible alle vor den Kopf stößt und Stuart Skelton als minderbemittelter ewiger Verlierer, der einen zunächst nervt, sich aber immer mehr in die Herzen singt. Und einem zuletzt wirklich die Tränen in die Augen drückt, weil er so unabänderlich mit seinem gesamten Ausdrucksvermögen an Jenůfas Liebe glaubt und zu ihr steht.

Camilla Nylund (Jenůfa), Evelyn Herlitzius (Küsterin Buryjovka), Stuart Skelton (Laca). Foto: Bernd Uhlig

Ein Puzzle aus verschiedensten Befindlichkeiten dieser ach so engen Welt anschaulich zusammensetzt

In dem sich in drei Akten kulminierenden Familienkonflikt ist die Partitur natürlich der Hauptgewinn. Janáček liefert eine schillernde, geradezu vielfarbig leuchtende Musik, die minutiös in die Charaktere hineinleuchtet. Immer wieder neue Dispute, Auseinandersetzungen, Begegnungen, die ein Puzzle aus verschiedensten Befindlichkeiten dieser ach so engen Welt anschaulich zusammensetzt. Angstbesetzte Gebete, Vorwürfe, Vorsätze, harsche Belehrungen, verzweifelte Ausbrüche. Alles begleitet vom typischen Janáček-Sound, der Idylle, also volksmusikalische Anklänge und tänzerische Bewegungsmuster, immer wieder mit drohendem Unterton in Frage stellt. Menschliche Not und Naturlaut, bei Janáček ergänzt sich das bruchlos und mündet in einen Klangsprachfluss, der immer wieder aufhorchen lässt. Hier Pauken, da insistierende Xylophon-Töne, die Posaunen Jerichos, als es heißt, den Jungen zu Gott zu singen. Hier geht es um die verlorenen Kinder Evas, so heißt es auch im Libretto.

Simon Rattle ist bei der Staatskapelle derzeit die erste Wahl für Janáček

Simon Rattle weiß alle Nuancen dieser Janáček-Klangwelt zu entfesseln. Das hat er schon mit dessen Spätwerk vorgeführt. Seine Interpretation von Janáčeks Aus einem Totenhaus in der Regie von Patrice Chereau in der Staatsoper im Schillertheater ist unvergessen. Spätestens nach Katja Kabanowa und der Glagolitischen Messe gilt Rattle bei der Staatskapelle als erste Wahl für Janáček. Und steht derzeit im medialen Fokus, weil er zum Nachfolger von Mariss Jansons beim Rundfunkorchester des Bayerischen Rundfunks bald in München eine Rolle spielt.

Rattle steht auf der Bühne und bittet sein Orchester aufzustehen

Zu den Klängen – mit einem besonderen Kopfhörer gelauscht – gehört auch der Staatsopernchor. Im rotbestuhlten Parkett und den Logen ist er verteilt mal im Bild zu sehen. Er mischt sich immer wieder kommentierend. ein. Ein Frauenchor agiert auch mal auf der Bühne als Teil der Dorfgemeinde. Und schön, dass man für diese Online-Produktion nicht vergessen hat, Applaus zu bedenken. Der Chor applaudiert. Rattle steht auf der Bühne und bittet sein Orchester aufzustehen. Wie geht das so schnell? Hat man etwa vorproduziert? Egal! Vor allem, weil das Ergebnis so für die nächsten 30 Tage ab der Premiere in der 3sat Mediathek verfügbar sein darf!

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