RT_21: D•I•E – Überforderungstrance mit Hologrammen, Aufzählungspoesie und Frauengeschrei

„Rauschartige Überforderungstrance“ – kündet das Programmheft an! Michael Wertmüllers neues Musiktheater D•I•E setzt ein klassisches Streichquartett, ein Metal-Jazz-Neue-Musik-Trio, eine Garage-Band, drei Sängerinnen, eine Rapperin und eine Performerin in rotierenden 3-D Raumbilder in Aktion! (Von Sabine Weber)

(Ruhrtriennale 2021, 2. September 2021 Kraftzentrale im Landschaftspark Duisburg-Nord) Viele sitzen Albert Oehlen wegen auf den in der gigantischen Halle verteilten Drehsitzen. Der aus Krefeld stammende Maler, Objektkünstler und Protagonist des Neoexpressionismus aus dem Dunstkreis der sogenannten Neue Wilden hat mit 13 abstrakten Kohlezeichnungen ja auch alles ins Rollen gebracht. Seit 10 Jahren schwärt angeblich die Idee, diese Zeichnungen, Röhren, Wolken, Striche in 3D zu übersetzen, als Hologramme zu verräumlichen und beweglich zu machen. Dem Architekten, Filmkünstler und ab sofort auch „Holografischem Musikvisualisierer“ Thomas Stammer ist hier der Coup gelungen, die 3D-animierten Bilder (Tim Markgraf) per Kombination der Programme Ableton und Touch Design, per Mikrofonie, Creative Coding (Daniel Dalfovo), Clicks, Cues und händischer Auslösung exakt in die Musikpartitur einzuschreiben. Zehn gigantische Gazewände werden von Beamern in der Decke beleuchtet: mit seltsam abstrakt verschlungenen schwarzweißen Röhren, Tuben, Kugelwolken. Sie scheinen sich im Raum sogar zu bewegen.

Steamboat Switzerland. Foto: Volker Beushaus

Die Künstler laufen auf einem Rundumlauf an der Mauerwand – 360° wie in der letzten Produktion von Bernd Alois Zimmermans Die Soldaten in Köln, vor, hinter oder neben einem Bild. Steamboat Switzerland, allen voran Drummer Lucas Niggli an der einen Giebelfront des Raumes, eine Garage-Band mit zwei blutjungen Frontfrauen an E-Bass und E-Gitarre auf der anderen, das Asassello Quartet von der Seite her, beschallen den Raum und werden auch mal per Lautsprecher übertragen und durch Elektronikklänge ergänzt.

Asasello Quartett. Foto: Volker Beushaus

Her, brutal, laut, klangvoll…

Hehr, brutal, laut, klangvoll – ganz exquisite Klänge kommen von der Hammond C-3, die Dominik Blum eigens aus Zürich angeschleppt hat. Sylvia Rohrer in karmesinrot ist die Conferencière. Sie rezitiert die Texte, Wortaufzählungen, die Rainald Goetz den Zeichnungen von Albert Oehlen in dem Buch D•I•E abstrakte realität von 2010 assoziativ hinzugefügt hat. Diesem Buch ist der Titel fürs Musiktheater entlehnt, das der Schweizer Komponist wie ein Ritual angelegt hat, die Frederick Zeller in Noten und Partitur übertragen musste. Handlung gibt es mit „bürste zeitung lorbeer schinken müsste küste lust kurort…“ usw. keine. Die Worte werden im Raum erst gesprochen. Die drei Solistinnen Carlin Melzer, Sarah Pagin und Christina Daleska greifen sie dann mit halsbrecherischen Koloraturen und zackigen Intervallsprüngen auf. Oder kommen von der Rapperin Catnapp zu Elektroklängen, körperlich im

Christina Dalatska. Foto: Volker Beushaus

Extremeinsatz ,wie sich eben Rapper so bewegen, aber stimmlich war ihre Performance doch eher enttäuschend. Die Frontfrauen der Garage-Band Jealous schreien auch mal und hüpfen dazu in Rockpose, fallen auf die Knie und biegen den Oberkörper mit Gitarre davor durch. Die Solistinnen werfen die Neoprenschalen ihrer schwarzweißen oder roten Montur, die sie zu dadaistischen Figurinen mit Samurai-Touch machen, im Verlauf ab. (Kostüme: Uta Gruber-Ballehr, Regie: Anika Rutkofsky) Ihre Entkleidung ist wohl Teil der Steigerungsdramaturgie: erst die Ensembles im Wechsel mit einzelnen Sängerinnen, dann kumuliert sich der Sound, bis alle zusammen Krach machen. Die Hüllen fallen. Der Sound, oft vom Schlagzeug dominiert, wummert durch den Brustkorb derZuhörer. Nach spätestens 10 Minuten war klar, wie das hier funktioniert und weitergeht. Am Anfang gab es aber auch mal feine Klänge, sogar ein Geigensolo im Stile Bachs in durchlaufender Bewegung mit Sopranistin im Duo. Am Ende dann plötzlich C-Dur-Harmonien, die fast kitschig nach Erlösung rufen. „aphasie, anämie…!“ 90 Minuten dauert das Spektakel, in dem sich irgendwann die Worte verlieren und nurmehr Aktionen in Bann halten. Die Converencière schwebt in Klettergurten kopfüber vor den Bildern. Es wird sich zu Boden geworfen, gerungen, vertrieben gekämpft.

Der Spannungsbogen wird von der Intensität der Sänger-Darstellerinnen und den Bandmusikern getragen

Dirigent des Abends ist Titus Engel, bei der Ruhrtriennale bekannt, hat er hier doch unter anderem Charles Ives Universe incomplete in der Jahrhunderthalle aufgeführt. In der Mitte des Raumes stehend gibt er Einsätze in alle vier Himmelsrichtungen und auch für die händischen Cues. Für einen 5er Takt läuft auch mal ein Monitor zu seinen Füßen, um den Takt an die verschiedenen Podien weiterzugeben. Es ist keine Minute langweilig, allerdings doch lang. Denn die Aktionen lassen sich nicht wirklich einem Sinnzusammenhang zu ordnen. Der Spannungsbogen wird von der Intensität der Sänger-Darstellerinnen und den Bandmusikern getragen. Es wird sich auf den Stühlchen zu den Lichtspots hingedreht, beispielsweise zu der Garage-Band, die in einer Improvisationen auch mal zeigt, womit sie zur Hochform auflaufen. Es wird gewippt, mit dem Fuß getappt, der ein oder andere hätte sicherlich Lust gehabt, abzurocken. Auf Party-Rap-Rock-Neue-Musik-Entgrenzung legt es der Komponist Michael Wertmüller an, dessen letztes Musiktheater an der Oper in Basel aufgeführt wurde. Vielleicht gab es vereinzelt auch Rauschzustände. Aber überfordert war hier niemand. In der gigantischen Vermischung der Musik-Genres und Hologramme haben schlussendlich vielleicht aber doch eher die Bilder gesiegt. Auf jeden Fall bei denjenigen, die räumlich sehen können. Doch wie hätten sie gewirkt ohne die pulsierende Musik? Die Ruhrtriennale hat auf jeden Fall gepunktet – sie steht ja für gewagte großformatige Experimente! Und auch die Schweizer, die mit der Intendantin Barbara Frey hier präsent werden. Erinnert sei unbedingt an Mats Staub und seine faszinierende Video- Installation 21 Erinnerungen ans Erwachsenwerden in der Turbinenhalle bei der Bochumer Jahrhunderthalle.

Weitere Vorstellungdn von  D•I•E am 3. 4./ 5./ 11./ 12./ September

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