Schmelzendes Eis und warnende Rufe! Die Uraufführung von Bernard Foccroulles „Cassandra“ ist ein durchschlagender Erfolg zu Beginn dieser Saison in Brüssel!

In einem genialen Wurf bringen Librettist Matthew Jocelyn und Komponist Bernard Foccroulle den alten Mythos vom Fall Trojas mit der Klimakatastrophe zusammen, changieren zwischen den Zeiten und weisen auf Übereinstimmungen der ungehörten Warnungen Kassandras und einer Klimawissenschaftlerin von heute hin, die gegen Klimawandelleugnung kämpft. Regisseurin Marie-Eve Signeyrole, eine Meisterin des Filmischen, leuchtet die 13 Szenen subtil symbolisch aus und gestaltet ein Bühnengeschehen, in dem analoge und mediale Bilder bruchlos ineinander übergehen und sich ergänzen. Die Ebenen des Vergangenen und Aktuellen sind perfekt mit einander verwoben. Es wird menschlich überzeugend agiert, und sogar die Zuschauer im wunderbar historischen Operntheater werden mit einbezogen. (Von Sabine Weber)

(10. September 2023, Théâtre la Monnaie, Brüssel) Wir sind also mittendrin im antiken Troja, das in dieser Produktion ein Abbild unserer durch Klimaerwärmung bedrohten Erde ist. Ohne plakativ zu werden, sondern poetisch anspielungsreich werden überzeitliche Ideenverbindungen zu einem Ganzen.

Klimakatastrophe: Jessica Niles als Klimaforscherin Sandy auf Vortragstour in Bernard Foccroulles neuer Oper "Cassandra"
Jessica Niles (Sandy) auf Vortragstour. Foto: Karl Forster

Es gibt also mal nur Gutes über eine Uraufführungsproduktion zu erzählen. Zu allererst über Komponist Bernard Foccroulle, bei dem Peter de Caluwe bereits eine Oper nachgefragt hat, als Foccroulle noch Intendant in Aix-en-Provence war. 2018 aus sämtlichen Intendanzverpflichtungen demissioniert, findet Fouccroulle 2020 im Lockdown Zeit, sein Sujet zu entwickeln. Warum Cassandra? Sie sei als Verkünderin der Zukunft zwar ein mythologisches, vergangenes, dennoch aktuell brennendes Thema. Auf die heutigen warnenden Stimmen würde nicht gehört wie vor über 2800 Jahren auf die Warnungen Kassandras! Trojas Steine sind gefallen, so, wie heute das Eis der Gletscher und an den Polkappen schmilzt.

Bernard Foccroulle

Eine Klimawandel-Oper hat Bernard Foccroulle komponiert und sich mit seinen bald 70 Jahren den Wunsch einer ersten Oper grandios und aktuell relevant verwirklicht. Als Mensch, und das teilt sich mit, wenn man dem circa 1.85 Meter großen Schlacksigen spricht, der ernst wie ein Pastor wirken könnte, aber in seinem freundlichen Gesicht sofort ein Lachen aufzieht, ist er mit beiden Beinen immer auf dem Boden geblieben.

Der in Lüttich geborene Belgier war Opern-Intendant in Brüssel, Nachfolger übrigens von Mortier, hat dann nach 15 Jahren an den jetzigen Peter de Caluwe übergeben, um als Festival-Intendant ins Südfranzösische Aix-en-Provence zu gehen. Unvergessen ist, wie er dort 2014 den Streik der „Intermittents“ einholt, indem er den durch angekündigte Gesetze in ihrer Existenz bedrohten saisonalen Bühnenarbeitern vor und nach den Aufführungen ein Podium zum Protest gibt. Dadurch finden die Aufführungen statt. Foccroulle wusste schon immer, auch als Leiter großer Institutionen, glaubhaft Empathie zu zeigen und wohl auch Institutionen inhaltlich zu bewegen.

Der Protestchor Cassandra. Foto: Sabine Weber

Wie das Brüsseler La Monnaie, wo sein Nachfolger Peter de Caluwe mit seiner Oper der Spielzeit gleich auch „grüne Aktualität“ prophezeit. Bühnenbilder, die zukünftig bis zu 60 Prozent aus recyceltem Material bestehen werden, sind eine Vorgabe. Vor allem will das Haus Solidarität mit denen zeigen, die Verantwortung für die Zukunft übernehmen wollen. Den Nachfolgegenerationen, der „letzten Generation“ an seinem Haus also eine Stimme geben, ohne dass sie freilich so genannt würde.

Der Protestchor gehört dazu

Also gehört auch das zum Auftakt an diesem Brüsseler September-Tag: Eine Stunde vor Premierenbeginn läuft ein Laienchor mit Protestschildern auf, pflanzt sich vor das Haus und stimmt poppige Lieder an, die auf den Klimawandel bezogen werden können. Es ist an diesem Tag auf dem Opernplatz so brütend heiß, dass es keiner Erklärung der Notwendigkeit, den Klimawandel zu stoppen, mehr bedarf.

Protestchor Cassandra. Foto: Sabine Weber
Cassandras Ruf

Das schmelzende Eis, die bedrohten Bienen, das brennende und einstürzende Troja, die Warnungen einer Klimaforscherin auf Vorträgen, die ausgelacht wird oder die Warnungen einer mythologischen Seherin, die überhört wird, das sind die aufgegriffenen Bilder und Themen dieser Oper. Cassandras Ruf sei in den Steinen und in der Literatur, den Büchern lebendig geblieben, wie Signeyrole gleich zu Anfang in den Belichtungen der ersten Szenen auf einer Reliefmauer verdeutlicht. Vor einer Reliefmauer steht Cassandra (mit dunkeltönend vollem Timbre: Katarina Bradić) und wird von der Projektion von Buchrücken verschluckt. Dann von einem bunten Muster, dem sie wie aus dem Nichts entsteigt, um mit einem jungen Literaturstudenten namens Blake (Paul Appleby) Kontakt aufzunehmen. Blake wird der Lebensgefährte der Klimaktivistin Sandy.

„Ototoi popoi da“

Es fallen immer wieder antike Namen, Aischylos, Euripides oder Epikur … und es geht um die Frage, warum nicht zugehört oder hingehört wird. Weshalb aus der Geschichte grundsätzlich nichts gelernt würde. Dabei könnte doch schon bei den jahtausendealten Mythen angefangen werden. Wären die Sterblichen nicht so doof, sagt Apollon, der zu den mythologischen Charakteren des Stücks gehört wie Priamos, Hekabe und Cassandra, dann würden sie auch zuhören. „Ototoi popoi da“ diese Wehklage wird immer wieder im Stück zitiert. Das hat Aischylos in seiner Orestie Kassandra in den Mund gelegt. Die ungehörten Frauen, wären sie doch gehört worden!

Eine Klimawandel-Oper, die alle angeht!

Bernard Foccroulle und Librettist Matthew Jocelyn verstehen ihre Klimawandel-Oper nicht als aktivistisch. Und doch geht sie alle an. Denn es geht um die Tragödie des Nicht-gehört-werdens! Troja, in mythischer Vergangenheit, und unsere, durch die Erderwärmung bedrohte Welt, hätten eine Chance (gehabt), wenn die Warnerinnen doch gehört würden. Also stürzt die erwähnte Reliefmauer ein und verletzt und begräbt Menschen, was mittels Handicam und Nahaufnahme dieses eine Mal drastisch inszeniert wird. Es gibt folgend aber keine Video-Bilder von Umweltkatastrophen oder furchtbaren Szenarien, die abschrecken sollen. Signeyrole arbeitet lieber poetische Bilder ein, von Bienen, weil das Bienensterben ebenfalls zu einem Symbol für die Umweltkatastrophe geworden ist. Bienen in Nahaufnahme. Bienenschwärme, die kunstvoll durchs Bild schwirren, es gibt auch zwei Bühnenwände mit Wabenelementen, die den Rahmen für Projektionen bieten, sich im Nebel aufschieben oder durch den Cassandra ins Geschehen eintritt (Bühnen-Decor: Fabien Teigné).

Es ist mühelos dem Ablauf zu folgen
Klimakatastrophe: Paul Appleby (Apollon), Katarina Bradic (Cassandra). Foto: Karl Forster
Paul Appleby (Apollon), Katarina Bradic (Cassandra). Foto: Karl Forster

Auch wenn man nicht alles sofort erfasst, geschweige denn versteht, die Bilder fügen sich in Stimmungen und Atmosphären, vermischen sich in den Szenen, und es ist mühelos dem Ablauf zu folgen, denn auch die Musik hält gekonnt gefangen. Da spricht Cassandra mit dem plötzlich auftauchenden Apollon (ganz in weiß wie Cassandra mit langem Gehrock: Joshua Hopkins) über ihr Nicht-gehört-worden-sein in der trojanischen Königsfamilie. Apollon fordert sie auf, die Menschen überhaupt zu verlassen und lieber mit ihm Liebe zu machen, wirft sich sogar auf sie. Cassandra schüttelt ihn ab, denn sie hat bei der unbelehrbaren Menschheit noch eine Mission.

Die Bibliothek der Toten wird wach!

Und da steht schon die Klimawissenschaftlerin Sandy (die wie eine jugendliche Aktivistin wirkt und mit deutlich klarer Stimme intoniert: Jessica Niles). Sie beginnt einen provozierenden Vortrag am Eisblock, auf den sie mit einem Hammer einschlägt. Sie muss sich Gehör verschaffen!

Klimakatastrophe: Jessica Niles als Klimaforscherin Sandy setzt sich mit ihrem Vater (Gidon Saks), der Mutter Susan Bickley Mutter auseinander. Foto: Karl Forster
Jessica Niles (Sandy), Gidon Saks (Vater), Susan Bickley (Mutter), Sarah Defrise (Schwester). Foto: Karl Forster

Später läuft sie mit Blake bei ihrer Familie auf, einer gut situierten US-amerikanischen Mittelklasse-Family, die an einer Geburtstagstafel sitzt. Die Mutter mit Turban feiert (Susan Bickley). Und sieht aus wie die überkandidelte Ermittlerin einer US-amerikanischen Fernsehserie (Kostüme: Yashi). Der Vater (Gidon Saks) trägt schwarzes, weiß umrandetes Jackett. In der sehr komischen, dennoch realistischen Szene läuft alles aus dem Ruder. Sandy wird durch ihren Vater mit Argumenten der Klimaleugner provoziert. Der Vater setzt sogar auf die ökonomischen Chancen der Erderwärmung. Endlich seien die vereisten polaren Meerespassagen von Eis und für die Schifffahrt frei, Öl und Kohle könnten dort noch besser ausgebeutet werden. Sandy und Blake halten dagegen, bis sie entrüstet abhauen. Die Mutter ruft verzweifelt: aber es ist doch mein Geburtstagsfest! Der Vater mutiert auf der Bühne zu Priamos, dem trojanischen König, die

Klimakatastrophe: Katarina Bradic als Cassandra neben einer eingestürzten Bibliothekswand. Foto: Karl Forster
Katarina Bradic (Cassandra). Foto: Karl Forster

Mutter zu Hekabe, seiner Frau. Die Bibliothek der Toten wird wieder wach! Seneca, Homer und auch Christa Wolf, die Kassandra literarisch verarbeitet hat. Sie lesen nach, was war! Cassandra möchte die Bücher lieber schließen.

Sandy und Blake

Eine nach Operngesetzen taugliche Liebesszene zwischen Sandy und Blake gibt es auch. Und sie wirkt sogar überhaupt nicht aufgesetzt. Eine Nacht, in der eben nicht alles so klappt, wie im Kino. Blake wird später von einem tragisches Schicksal eingeholt. Er ertrinkt bei einer Umweltaktion auf einem Schiff im südlichen Polarmeer, das an einem Eisberg zerschellt. Oder war es doch eher ein Raketenangriff?

Die Musik spricht und trägt das Drama mit passgenau inszenierten Bildern

Die Szenen sind allesamt real konstruiert und rutschen mit großer Kunstfertigkeit immer wieder ins Surreale ab, genau wie es in der Wirklichkeit doch auch ist. Keine Minute der Bildfolgen und keine Minute der Musik wird in den fast zwei Stunden langweilig. Die Partitur ist farbig, immer neu zusammengesetzt, die Strukturen bauen sich von fein bis hoch-dramatisch auf. Der Gesang wird im Mondeverdischen Sinn von der Musik getragen. Das Libretto ist auf Englisch und gut zu verstehen. In den Übertiteln ins Französische und Niederländische übersetzt, sind sie für Deutsche nicht ganz leicht zu verfolgen, aber die Musik spricht und trägt das Drama mit den passgenau inszenierten Bildern.

Focroulle  – ein Bachspezialist

Foccroulle, von Haus aus Organist – er hat das gesamte Orgelwerk von Bach eingespielt – ist als ausübender Musiker sowohl ein Spezialist der Alten, wie auch als Komponist und Musik-Analyse-Dozent und Prof der Hochschulen in Lüttich und Brüssel, der Neuen Musik. Er hat in seinen Intendanzen mitbekommen, wie dramatische Musik funktionieren kann. Und natürlich zitiert der Bachspezialist auch einmal Bach!

Ein Bachchoral

Im Finale wird der Bachchoral Ach wie flüchtig, ach wie nichtig aus BWV 26 von dem Chor der Geister gesungen (Choeur de la Monnaie), der von Anfang an mit dabei ist, kommentiert oder Stimmungen mitgestaltet. Hier klingt er aus dem Off über einer wabernden disharmonischen Klangfläche aus dem Graben. Von Bach war zuvor auch die Rede: „Ohne Eis auf der Erde zu leben, das wegen der Erderwärmung derzeit rasant schmilzt, sei doch wie ohne Bach zu leben! Vorstellbar?“ So eröffnet die Klimaforscherin Sandy ihren zweiten Vortrag. Und es gibt sogar einen bedrohten antarktischen Eisflächenarchipel namens Bach Ice Shelf und dort weitere Halbinseln, die auf Komponisten, auf Monteverdi oder Beethoven getauft sind.

Auch die Gegner dürfen aus den Balkonen des Zuschauerraums aufbegehren.

Es werden unentwegt Bezüge hergestellt. Die große Kunst des Abends ist, dass trotz aller Ideeneinflüsse, trotz Mythos und Klimawandelthematik der Text nie verschwurbelt wirkt, verkopft oder maniriert. Librettist Matthew Jocelyn bricht die Sprache der mythologischen Figuren auf heutiges Maß, wie er auch ihr zeitgenössisches Pendant, die Wissenschaftlerin und Klimaktivistin Sandy, ziemlich normal und doch bühnenwirksam argumentieren lässt. Auch ihre Gegner dürfen aus den Balkonen des Zuschauerraums aufbegehren.

Cassandra und Sandy in einem betörenden Schlussduett

Am Ende begegnen sich Cassandra und Sandy in einem betörenden Schlussduett. Sie tauschen sich über ihre Erfahrungen beim Nicht-gehört-werden aus, bestärken sich, dass es trotzdem gut sei weiterzumachen. Und es gibt danach die dritte und letzte Bienensumm-Musik. Streicher, die flageolettartig fast bedrohlich surren. So vieles könnte und müsste noch erwähnt werden.
Der Fall Trojas erfährt mit Foccroulles „Cassandra” nicht zuletzt durch die Umsetzung vom Orchestre Symphonique et Choeurs de La Monnaie unter Kazushi Ono und einem perfekten Solisten-Cast eine geniale Neudeutung!
Am Donnerstag wird der Opernabend übrigen auf Opera Visions  gestreamt. Dieser von der EU geförderte kostenlose Opern-Streaming-Dienst hat übrigens seinen Hauptsitz in den Werkstätten hinter der Brüsseler Oper. Dafür hat nicht zuletzt Bernard Foccroulle gesorgt, der erste Präsident und Mitbegründer von Opera Visions!

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