Im Saal 1 im Staatenhaus bilden langgezogene schwarze Ellipsen als Rahmen hintereinander gebaut die Bühne. Ein magischer Raum mit Tiefe. Vorne sitzt das Gürzenich-Orchester. Wann eine solche Großbesetzung zuletzt zu erleben war, können wir kaum noch erinnern: großer Streicherapparat, doppeltes Holz, vier Harfen, gewaltiges Blech, eine zwei-manualige Orgel mit Fußpedalen, eine oftmals wirbelnde Pauke, auch das für die französischen Revolutionsorchester erfundene schaurige Riesen-Tam-Tam hat nicht gefehlt. Links im Raumhintergrund versteckt bis hinter die Tribünenränge der Chor. Eine opulente Premiere also, die mit der frühen Faust-Fassung, also gesprochenen Dialogen (siehe das Interview mit Dramaturgin Birgit Meyer), auch in neue Dimensionen vorstößt! Und François-Xavier Roth spricht für den Teufel, während er mit seinem dunkelgrünen Faber-Castell-Bleistift Orchestermassen und Bühnengeschehen unter Obacht hält! (Von Sabine Weber)
(5. Juni 2021, Oper Köln im Staatenhaus) Der Kölner GMD liebt es ja, sich mit in Szene zu setzen. Und hier sogar eine gelungene Notlösung. Samuel Youn, der in der Rolle Mephistos seinen Bassbariton natürlich gewohnt souverän ausspielt und sogar durchtrieben Bühnenaktivitäten wie nie zuvor entfesselt, wäre mit dem Sprechen französischer Dialoge in teuflischem Duktus möglicherweise überfordert gewesen. So spricht François-Xavier Roth, über die Partitur gebeugt, dessen Dialoge, was geisterhaft aus dem Off kommt. Und sich gut anhört. Er ist ja auch Franzose. Mephisto und Dirigent sind von Anfang an ein Gespann. Wie ein Gauner-Du, beide mit Schmetterlingsmuster auf Hemd und Hose, schleichen sie sich kurz vor Beginn hinein. Roth mit Sonnenbrille und Maske kaum zu erkennen durchs Orchester. Youn, in dieser Inszenierung ein Ketten-rauchender Teufel, am Bühnenrand entlang, bis, auf der Höhe des Dirigentenpultes angekommen, Roth ihm die Sonnenbrille rüberreicht, ahh, alles klar!, und der Teufel sie aufsetzt.
Das Volk reitet im Schweinsgalopp
Die Musik, die nach diesem Mini-Coup mit einem Orchesterschlag in Gang gesetzt wird, spricht dann eine völlig andere Sprache. Lang gezogene Streicherklänge im Lamento-Ton eines Requiem aeternam klagen. Sie künden von einem herzzerreißenden Drama. Vanitatum Vanitas! Schädel aus Pappmaché werden bald auch hineingeschoben, aber auch sich verrenkende Zirkusartisten. Das Leben ist endlich, sollte aber doch auch mal Spaß gemacht haben! Faust rollt als verbitterter alter Mann (Alexander Fedin) in einem Rollstuhl einen der mittleren Bühnenrahmen entlang. In einem Bühnenauge ist seine EKG-Kurve zu verfolgen. Er hadert mit sich. Aber noch schlägt das Herz. Bevor der Exitus kommt, ein Chor erinnert an geistliche Tugenden, verflucht er Gott und ruft den Teufel an. Von ihm verlangt er Jugend, Liebe, Frauen, Ausschweifung. Gewährt! Sein junges Double (Young Woo Kim) betritt im Schmetterlingsmuster die Bühne. Los geht‘s zum Volksfest, vom Orchester mit Melodie über volksliedhaften Bordunklängen eingeleitet. Das Volk reitet im Schweinsgalopp auf pinken Plastiksäuen im Wettstreit. Warum müssen Männer mit Jackett und Hut eigentlich immer Unterhose tragen?
Mephisto lenkt mit wildem Gesang über das Goldene Kalb ab
Faust entdeckt in der Menge die junge Marguerite (Anne-Catherine Gillet, die hinreißend singt und spielt). Sie muss seine Beute sein. Davon ist ihr Freund Siebel (eine Hosenrolle; Regina Richter) natürlich nicht begeistert. Ebensowenig ihr Bruder Valentin (Miljenko Turk), allesamt in brave Schuluniformen gekleidet. In der Oper sind sie Rekruten, die in den Krieg ziehen. Mephisto lenkt mit einem wilden Gesang über das Goldene Kalb „Le veau d’or est toujours debout!“ ab, legt sich mit den Rekruten an, wird von denen und mit heiliger Musik aus dem Orchestergraben ausgebremst und schon walzert es mit einer schattenhaften Projektion von Beinen und Gestalten.
Die Dialoge sind kein Störfaktor
Regisseur Johannes Erath zeichnet die Gestalten im zumeist schwarz-weißen Bild von Bühnenbildner Herbert Murauer scharf. Grell sind die Farben, die Murauer für einzelne Statisten schneidert. In der berühmten Walpurgisnacht – eingeleitet von einem gigantischen Tam-Tam-Schlag – gerieren sich groteske Barockschranzen mit Stehreifröcken und Turmperücken. Warum in einer Szene Hasenkostüme getragen werden, erklärt sich nicht. Ist aber auch schnell wieder vergessen. Traumszenen und Sehnsüchte laufen im Bühnenauge als Film ab, etwa wenn Faust Marguerite begehrt und sie in ihrem Zimmer sieht. Das funktioniert alles wunderbar zwischen diesen Rahmen, die auch einige Male magisch zusammenfahren und das Bühnenauge bilden. Die Dialoge sind, obwohl auf Französisch, kein Störfaktor. Im Gegenteil, sie stärken die Charaktere und sorgen erstaunlicherweise sogar für Brisanz, die die Musiknummern vorbereitet. Vor allem, wenn Faust mit Mephisto verhandelt. Erath unterlegt sie auch mit einer Art Sound, sodass es klanglich keinen Bruch gibt. Für die nahtlosen Übergänge sorgt Dirigent François-Xavier Roth, auch die perfekte Synchronisierung in den melodramatischen Abschnitten, selbst wenn er es ist, der spricht!
Gounods Partitur ist das Füllhorn des Abends
Gounods Partitur liefert ein erstaunliches Füllhorn. Sanft, einfach, sinnlich, rauschhaft, kirchenmusikalisch, krachend patriotisch wenn Märsche lostreten. Französische Opern sind im Kommen! (Siehe klassikfavori über César Francks Hulda und Gabriel Faurés Pénélope) Bei einer mit unerträglichem Pathos ausgemalten siegreichen Schlacht in einer Chornummer konnte Eraht wohl nicht anders, als mit Lazarettbetten zu kontern, aus denen Posttraumatisierte heraussteigen. Eine Metakritik, die mit der Handlung nichts zu tun hat, aber bruchlos eingearbeitet ist.
Eine rundum gelungene Wiedereröffnung der Kölner Oper
Die berühmte Kavatine des Faust „Salut! Demeure chaste et pure“, von einer Solovioline sanft umspielt, erklingt an diesem Abend übrigens erstmals mit ihrem aufgewühlten zweiten Teil. Der wurde kürzlich auf einem Flohmarkt gefunden (siehe podcast favori).
Marguerite lebt ihr Verliebtsein begleitet von einem herrlichen Klarinettensolo aus. Die berühmte Schmuckarie ist ein Höhepunkt des Abends und gelingt Anne-Catherine Gillet mit Tüll und Ohrgehänge kokettierend wunderbar. Ihre Klage „Il ne reviens pas!“ lässt zum Taschentuch greifen. Gounod, damals in Frankreich eher bekannt als Kirchenmusikkomponist, konnte wohl nicht anders, er musste Marguerite das Seelenheil komponieren. Ein Chorchoral feiert im Finale zum Orgelklang trostspendend Jesu Auferstehung. Faust sitzt derweil wieder im Rollstuhl. Sein letztes Wort ist „rien“. Nichts bleibt für ihn als der Tod. Aber viel für das Gürzenich-Orchester, das die französische Klangfarbenpalette von feinfühlig bis großspurig überzeugend und perfekt ausgekostet hat, und für die Kölner Oper, die ihre Wiedereröffnung mit einer rundum gelungenen Premiere gefeiert hat.
Weitere Aufführungstermine im Juni am 08., 12, 17. 25. Juni. Beginn ist jeweils 19.30 Uhr. Weitere Infos hier Streaming-Termine werden noch bekannt gegeben.