Beethrifft: „Fidelio” als Türkei-Tribunal! Das Theater Bonn eröffnet das Beethovenjahr 2020 mit Zeitzeugen und Dokumentationen über politische Gefangene in der Türkei!

Was hat  „Fidelio” mit der Kurdenfrage zu tun? Im Theater Bonn derzeit erstaunlich viel. Es werden in Beethovens einzigem Opernoeuvre Parallelen zu Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gezogen. Fidelio handelt ja auch von einem politischen Gefangenen in Isolationshaft, er soll aus dem Weg geräumt werden. Das nimmt Regisseur Volker Lösch zum Anlass, statt zwischen den Musiknummern Dialoge einzufügen, türkische Zeitzeugen und Aktivisten zu Wort zu bitten. Sie berichten über die Situation von inhaftierten Verwandten, aber auch über eigene Erfahrungen. Isolationshaft, Folter, menschliche Demütigung bekommt an einem „Arbeitstisch“ Gesichter! Mit dem Schriftsteller Doğan Akhanlı, der drei Mal verhaftet wurde oder Hakan Akay, der für die Freilassung seines Bruders Soydan Akay kämpft. Er sitzt seit 27 Jahren ein und ist schwer erkrankt. Eine Behandlung wird ihm verweigert. Moderator und zeitweilig Bühnen-Regisseur der Fidelio-Produktion ist Matthias Kelle, der Fragen auch an die Opernprotagonisten stellt, wenn sie an den Tisch kommen. Der Bühnenraum ist ein giftgrünes virtuelles Studio, wie es für die Fernseh-Nachrichten in den Sendern gebraucht wird. Auf einem Bildschirm werden Bilddokumentationen eingeblendet oder auch die Opernprotagonisten in filmischen Szenarien mit Live-Cam hinein projiziert. Ein mutiger Ansatz, der bis zum Schluss konsequent durchgezogen wird und vom Publikum positiv quittiert wird, auch wenn einige ältere Herrschaften schon nach einer halben Stunde aufstehen und gehen. Unser Sitznachbar stürzt sich noch während des Schlussapplauses in die Diskussion, ob hier nicht Beethoven missbraucht werde. Wir finden, er wird ernst genommen. (von Sabine Weber)


(1. Januar 2010, Theater Bonn) Dirk Kaftan, der Bonner Generalintendant, nimmt Beethovens Musik als Ausdruck von Aufruhr und Widerstandsgeist ernst, lässt weder Pathos noch Gefälligkeit zu. Zu Beginn ist der Orchestergraben für das „Kommando Beethoven“ sogar hochgefahren. Das haben Dirk Kaftan und Volker Lösch als Überschrift über dieses politisch-musikalische Experiment gesetzt. Das steht auf dem Bühnen-Screen über den Musikern zu lesen, wo auch die Testbildfarben eingeblendet sind, an die wir uns noch vage erinnern, als das Fernsehen noch nicht 24 Stunden gesendet hat. Und dann schlagen wie aus dem Nichts Paukenschläge der Ouvertüre zu Bildern eines Menschenauflaufs wie Granateinwürfen ein. In den ruhigen Zwischenteilen (Viedeodesign: Chris Kondeck, Ruth Stofer) ist die Istanbuler Süleymaniye-Moschee in Luftaufnahme im Bild, bei den bewegteren Teilen landen Flüchtlingsboote. Später dann Verhaftungen. Dazu eingeblendet die Namen des Journalisten Ahmet Altan, des Menschenrechtlers Peter Steudtner oder von Deniz Jüksel,  an sie erinnern wir uns. Es sind noch mehr Namen. Dann steht Tayyip Erdoğan neben Angela Merkel am Rednerpult. Irgendwann spricht Dirk Kaftan in ein vorgehaltenes Mikrophon: „Fidelio ist voller Hoffnungen …“ Und schon rollen Panzer – Marke deutscher Leopard? – Attacken in Nordsyrien, feuern auf ein Dorf. Ein Soldat rammt eine rote Halbmondfahne auf einem Geröllfelsen ein. Es geht bildlich und musikalisch heftig zur Sache. Als dann Marzelline im

Kieran Carrel (Jaquino); Marie Heeschen (Marzelline); Ensemble. Foto: Thilo Beu

Fliederfarbenen Kleid und weißen Turnschuhen (Marie Heeschen) mit Jaquino (Kieran Karell) real auf einem grünen Podest, auf dem Screen in einen Supermarkt projiziert, sich einen boffenesken Schlagabtausch liefern, ist man fast gestört. Wie jetzt …? Aber Beethoven lässt Fidelio, im Auftrag von Emanuel Schikaneder für das Theater an der Wien in Angriff genommen, nach der Ouvertüre erst einmal harmlos tun. Marzelline hat sich in Fidelio verliebt, der gerade bei ihrem Vater, Gefängniswärter Rocco, aufgelaufen ist und gibt ihrem Jaquino einen Korb. Der Sprecher-Regisseur fragt in die Tisch-Runde, was es mit dem harmlosen Heile-Welt-Spielen in der Türkei auf sich hat. Doğan Akhanlı antwortet: „Die kleine private Gefühlswelt soll nicht gestört werden. Das Wegschauen hat Tradition. Vor allem in Deutschland!“ „Glücklich ist, wer vergisst“, singt dann Rocco (Karl-Heinz Lehner) und greift das private Scheinglück wieder auf. Fidelio (Martina Welschenbach, sie hat in der Bonner Saisoneröffnung die Marschallin im Rosenkavalier gegeben) wird hinter dem Tisch öffentlich für ihre Mission zum Mann präpariert! Sie erklärt auch der Tischrunde, warum sie sich ins System konform infiltriert. Nur so kann sie die Wahrheit über ihren verschwundenen Mann herausfinden. Und spielt dann auch den Verliebten und wackelt mit Marzelline auf einem fliegenden Geldscheinteppich durch einen Sternenhimmel, auf der Projektion der großen Leinwand mit Emoji-Herzchen dekoriert.
Der Abend ist dicht. Durch die Laienschauspieler, die Zeitzeugen, bekommt er manchmal den Hauch des Pädagogischen. Denn es wird verdammt viel erzählt und berichtet und auch abgelesen. Ahmet Altans „Texte aus dem Gefängnis“ gehen allerdings zu Herzen. Nachwirkung haben die Foltererzählung oder wie – im Bild – bei einem zivilen Trauerzug im syrischen Kurdengebiet, wo weiße Fahnen um den Karren mit den eingewickelten Leichen hoch gehalten werden, dennoch eine Bombe einschlägt. Und die virtuellen Projektionen der Protagonisten in die Szenarien wackeln manchmal doch zu sehr.

Doğan Akhanlı, Hakan Akay (Zeitzeugen); Thomas Mohr (Florestan); Agît Keser, Süleyman Demirtaş (Zeitzeugen). Foto: Thilo Beu

Die beiden Ebenen – Türkei-Tribunal und Fidelio-Oper – verschränken sich erstaunlich gut. Es ist auch keinen Moment langweilig, im Gegensatz zu vielen bereits erlebten Fidelio-Inszenierungen. Denn diese Oper hat ihre Regietücken, ihres dramaturgischen Aufbaus und der Dialoge wegen. Wobei der musikalische Anspruch keinen Nachlass duldet. Musiziert und gesungen wird in Bonn auch auf höchstem Niveau. Karl-Heinz Lehner als Rocco sitzt der Osminische Schalk im Nacken. Martina Welschenbach ist eine kämpferisch auftrumpfende Befreiungskämpferin, Thomas Mohr ein gereifter Heldenbariton, der im grünen Overall den 2. Akt mit der berühmte Arie des Florestans mit stimmlicher Verve besteht.

Der Gefangenen-Chor. Foto: Thilo Beu

Nicht zu vergessen die Ensembleszenen oder der Gefangenen- Chor. Die Männer stecken in grünen Anzügen, womit sie in der digitalen Projektion nicht mehr präsent, auf der großen Leinwand über ihen also ausgelöscht sind. Ein passendes Bild, wenn sie in der Freigangszene Luft und Freiheit schnuppern und die Overalls abziehen und dann erst sichtbar werden. Und zum Schluss stützen die Zeitzeugen die Protagonisten und stehen neben ihnen im Bild! „Kommando Beethoven“ ist ein gewagtes Experiment. Aber Opern haben doch angeblich auch schon eine Revolution ausgelöst, vielleicht könnte diese mithelfen, menschenverachtende Inhaftierungen zu beenden. Das Theater Bonn nimmt seine Mission zum Beethovenjahr jedenfalls ernst und bietet auf seiner Netzseite unter #freethemall auch Anleitungen an, wie man die aus politischen Gründen Inhaftierten unterstützen und sich für ihre Freilassung einsetzen könnte. Bleibt jedenfalls abzuwarten, ob es diplomatische Einlassungen geben wird.

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