Ein Tierbändiger und dressierte Ballerinas. In Brüssel treibt Lulu-Hannigan die Jungfrau-Aktie in den Keller und wird gefeiert!

Und heute geht es in die letzte Runde der Wiederaufnahme-Produktion von Alban Bergs „Lulu“ nach Texten von Frank Wedekind. (Dernière 18. November 2021) Krzysztof Warlikowski hat seine Regie von 2012 (seit 2014 auf DVD) völlig auf die Ausnahmekünstlerin Barbara Hannigan zugeschnitten. Und Lulu-Hannigan zeigt, was sie zu bieten hat: viel Haut, einen perfekten Body und maximalen sportlich-körperlichen Einsatz, um dem männlichen Personal Schaden zuzufügen. Dabei meistert sie die irre-schwere Partie (Spitzentöne, Koloraturen, Sprechgesang) über drei Stunden scheinbar mühelos (vollendete dreiaktige Cerha-Fassung, uraufgeführt 1979 an der Pariser Opéra Garnier). Bo Skovhus als Dr. Schön wie man ihn kennt und liebt – auch zu großem menschlichem Ausdruck fähig – ist ein perfekter Gegenspieler und zuletzt als Jack The Ripper auch ihr Schicksal. Das Orchestre Symphonique de la Monnaie spielt unter Alain Altinoglu – immer lautstarker Jubel, wenn er im Graben erscheint – wie auf Bergs Klänge abonniert und hat sämtliche bei der Premiere monierten Probleme ausgeräumt! (Von Sabine Weber)

Lulu-Hannigan in Spitzenhöschen tanzt auf Spitzentanz und singt
Lulu (Barbara Hannigan). Foto: Simon Van Rompay

(16. November 2021, vorletzte Vorstellung, La Monnaie, Brüssel) Es raubt einem schier den Atem, was diese attraktive, agile und in allem die oberste Latte reißende Hannigan vorführt. Auf Spitze als Ballerina mit erhobenen Armen trippelnd singt sie ebenso souverän wie sie auf mindestens 10cm High Heels sich mit Verve auf Männer stürzt und auch schon mal zu Boden wirft. Beine, Po, bedeckt von schwarzem Spitzenhöschen, Bauch, Arme, alles tadellos durchtrainiert, sie geht angeblich auf die 50 zu oder ist sie es schon? Nicht zu fassen. Es könnte keine bessere jugendliche Lulu geben, denn da ist ja auch noch ihre Stimme, die man fast subsumiert vor lauter Bild. Auf Video-Screens spreizt sie ihre Beine. Im Vollbildportrait unter immer anderer Perücke, züngelt sie geilig aufdringlich geschminkt nach merkwürdigen Nippelobjekten. Beängstigend! Erotisch ist das weniger, denn Lulu ist Hannigan. Und Hannigan ist stark und dazu intelligent. Sie hat die Lage im Griff! Ihren Absturz am Schluss kauft man da sogar fast nicht ab. Wieso hat diese Frau ihre Finanzen nicht auch so im Griff… Wie sie allerdings nach ihrem Mord von der Bühne wankt, zeigt, dass auch die Hannigan nach so viel Einsatz mitgenommen ist. Was ist es nur, das einen dennoch ziemlich kalt lässt? Ist es Warlikowskis Inszenierung, die Frauen wenig menschliche Gefühle zeigen lässt? Seine Debussy-Mélisande bei der Ruhrtriennale, ebenfalls mit Hannigan, zeigte ziemlich kalt-nüchtern eine Borderline-Persönlichkeit ohne woher und wohin. Geheimnisvoll? In Brüssel stakst die hoffnungslos in Lulu verschossene Lesbe Fräulein von Gerschwitz, Natascha Petrinsky mit sonorem Mezzo, mühevoll auf ihren High Heels. Als sei diese Irritierung der Grund, warum sie keine glaubhaften Liebesbeweise mehr an den Tag legen kann. Und dann ist da auch noch der Ballerinen-Corps in Tütüs ständig im Bild. Wie aus Edgar Degas‘ Bildern für die gut betuchte Hautevolee in Paris herausgesprungen. Reiche Herren haben die Pariser Oper als ihr Bordell verstanden und mit Zutritt zu einem speziellen Ballettfoyer in der Garnier unter den Tänzerinnen frei auswählen dürfen. Widerlich: Ballett bedeutete im 19 Jahrhundert auch Sexarbeit, was gerade an Wolfgang Joops Spiegelinterview aus der Modebranche erinnert. Ach wie schön war die sündige Zeit in den 1980er und 90er! Damals, als bei den Modeshows die Zimmerschlüssel der minderen Models an zahlende Herren ausgegeben wurden. „Und wenn sie nicht wollten, könne man auf sie verzichten!“ Joop hat sich für seine all zu offen ausgebreiteten Macho-Sehnsüchte inzwischen entschuldigt.

„Ich bin nichts als Weib“ LULU

Doch wird in Brüssel etwas in Frage gestellt? Kritisiert? Oder finden Regisseur Warlikowski und seine Ausstatterin Małgorzata Szczęśniak, die auch wieder ihren Glaskasten hingesetzt hat, alles nur schön? Wer ist überhaupt diese Lulu. Könnte sie denn keine Zweifel an sich erkennen. Ist sie denn nur Kunstfigur, kein Mensch, wovon die Musik Alban Bergs in vielen Zwischenspielen geradezu leidenschaftlich tönt. Etwa nur genetisch bestimmte Sexmaschine und nicht auch Projektion einer patriarchalischen Welt, die unter die Lupe genommen werden könnte? „Ich bin nichts als Weib“, hat ihr doch ein Mann in den Mund gelegt!

Auch der Ballettdresseur geht auf die Spitze

Vor den Prolog lässt Warlikowski einen an den biblischen Schöpfungsbericht angelehnten Adam-aber-ohne-Eva- mit-Lilith-Text trocken verlesen. Nachdem von Gott geschaffen und Adam zugeführt, will Lilith beim Sex obenauf liegen. Das will Adam auch, daher geht die Chose in die Hose. Beziehungsweise: Frau und Mann heißt permanenter Sexkampf. Es war von Anbeginn so und wird es bleiben. Verkündet von der Proszeniumsloge rechts neben der Bühne aus vom Tierbändiger oder dem Teufel. In schwarze Ganzkörperspitze ist er eingehüllt, nur mit Mundschlitz, wie auch der Ballettdresseur Claude Bardouil, der dann sogar auf die Spitze geht! Choreographin Rosalba Torres Guerrero setzt die Kinder inklusive Balletjungs immer wieder ins Bild. Am eindrucksvollsten ist ihr Black-Swan-Solo. Als Double von Lulu, die gleich gekleidet an der Seite lehnt, tanzt sie ein leidenschaftlich-verzweifeltes Solo, fliegt mit den Armen, verheddert sich und stürzt schließlich ab, was eine ungeheure Dramatik zur Musik entwickelt. Toll umgesetzte Musik.

Der Balletdresseur (Claude Bardouil) und the Black Swan (Rosalba Torres Guerrero). Foto: Simon Van Rompay

Das Briefduett – per sms – ein Adam-Lilith-Kampf

Unglaublich viel originalen Wedekind-Dialog hat Alban Berg in seinem Libretto übernommen. Die feinen Changierungen und Untertöne darin, die auch Spots auf Zeit und Zeitgeist im Geschlechtermiteinander werfen, haben in dieser Inszenierung kaum Auswirkung. Das groteske Personal, ein Athlet, ein Neger, ein Marquis, eine Kunstgewerblerin und einige mehr, fallen als grell geschminkte groteske Gestalten auf und gerierten sich auch grotesk. Unfreiwillig komisch ist, wie Lulus erster Mann, Medizinalrat Groll (Sprechrolle) auf die Bühne stürmt und tot umfällt – mit mitgebrachtem Kissen für den Kopf. Das Publikum giggelt! Die Todesursache ist der Lulu anbaggernde malende Nebenbuhler. Der Maler ist dann der nächste Ehemann (Rainer Trost, ein lyrischer Tenor mit ausnahmslos herausstechender Leidenschaftlichkeit, allerdings etwas überkandidelt). Er schlitzt sich im Glaskasten die Kehle auf, nachdem er von Dr. Schön über Lulus Vergangenheit aufgeklärt wird. Bezeichnend ist dann das Briefduett, ein Adam-Lilith-Kampf zwischen Dr. Schön und Lulu. Lulu ganz Hannigan, bringt Dr. Schön dazu, per sms seine Braut zu verstoßen und sie zu ehelichen. Klar, wer hier oben liegt.

Handwerklich top und musikalische eins „a“

Lulu (Barbara Hannigan) Dr. Schön (Bo Skovhus). Foto: Simon Van Rompay

Dr. Schön will sich ebenfalls aus Eifersucht umbringen und fuchtelt in Fliegerseide mit dem Revolver herum. Auf verletzte männlich Eitelkeit versteht sich Bo Skovhus mit Donald-Trump-Frisur auch stimmlich ganz hervorragend – bis dann Lulu ihn, statt sich, wie von ihm gefordert, umzubringen, erschießt… Der letzte von Friedrich Cerha vollendete Akt, bis dahin wurde immer nur der unvollendet geblieben Torso der ersten beiden Akte gegeben, bleibt erstaunlich gut im Alban-Berg-Ton. Die Jungfrau-Aktien-Szene ist eine zynische Verarbeitung von Frauenhandel und Börsencrash.

Erstaunlich viele junge Leute im vollbesetzten Opernhaus jubeln, stehende Ovationen!

Unvermittelt kommt das ultimative Ende. Und das liegt auch am Libretto und der Geschichte. Kann wirklich nur ein Monster wie Jack the Ripper Lulu bändigen? Als eine Mischung von Willem Dafoes Grüner Kobold und Boris Karloffs Frankenstein macht der Ripper kurzen Prozess und ersticht die Gräfin gleich mit, die kurz zuvor noch ihren Neuanfang beschworen hat. Alles wird schwarz! Das mit erstaunlich vielen jungen Leuten vollbesetzte Opernhaus (hier gilt 2 G, und ohne QR-Code kein Einlass!) jubelt, stehende Ovationen, natürlich vor allem für Lulu-Hannigan, die, bei aller Kritik an der Lulu-Figur, einfach eine staunenswerte Darstellerin ist. So emotional auspsychologisiert wie das Andrea Breth in ihrer Berliner Insenierung 2012 getan hat, ist diese Lulu nicht. Handwerklich dennoch top und musikalisch eins a! Intendant Peter de Caluwe behauptet das architektonisch wunderbar klassizistische Theaterhaus seit 2007 gegen die Brüsselisierung. Mit zunehmendem Erfolg. Er hat mit einer hervorragenden Programmgestaltung das belgische Haus längst in die obere Liga gespielt. Es lohnt den Ausflug!

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