Die Straßburger Opéra du Rhin eröffnet die Saison mit Philip Venables Psychosis 4.48 und feiert sich als Opernhaus des Jahres!

Was für ein „Europa-Tag“ in Straßburg! Das dort beheimatete ARTE-Studio lädt europaweit Journalisten ein, um seine TV Konzert- und Opernsaison bekannt zu geben. ARD-Journalisten sind ebenfalls vor Ort, um Tuchfühlung mit neu nominierten EU-Ministern aufzunehmen, und, nach einem kaiserlicher Spätsommerwettertag, wird auch noch bekannt gegeben, dass Strasbourg sein Opernhaus als Opernhaus des Jahres feiern darf! Die Umfrage der Zeitschrift Opernwelt hat die Opéra du Rhin mit seinen Spielstätten in Strasbourg, Colmar und Mulhouse als ein Haus gewürdigt, das sich als „Opéra d’Europe“ versteht und „durch Entdeckerfreude, originelle Programme, vorbildliche Repertoirepflege sowie kreativen Esprit Aufsehen erregt!“ (Von Sabine Weber)
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Foto: Klara Beck
Foto: Klara Beck

(18. September 2019, Opéra du Rhin, Strasbourg) Und an diesem besonderen Tag beweist die Straßburger Oper, was diese Würdigung hier konkret heißt. Für die Eröffnungspremiere der Saison 19/20 Philip Venables’ Kammeroper „Psychosis 4.48“ im großen Haus zu bringen, beweist Mut! Und den hat die verstorbene Intendatin Eva Kleinitz gehabt, die das Stück noch geplant hat!
Denn in diesem Stück gibt es keinen Paukenschlag mit Jubel oder Opulenz. Im Gegenteil, Depression und Suizidgefährdung sind zwar brandaktuelle, aber schockierende Themen. Der britische Komponist Venables hat es gewagt, das in einer Kammeroper für Sopransextett, Instrumentalensemble und elektronische Einspielungen zur Sprache zu bringen. Damit fordert er zur Auseinandersetzung mit Tabu-Themen auf einer unerwarteten Ebene heraus. Die Vorlage ist ebenso sensationell wie einmalig. Denn noch nie ist ein Sarah-Kane-Stück vertont worden. Hier: Sarah Kanes letztes Theaterstück “Psychosis 4.48”, in welchem sie schonungslos ihre eigenen Depressionen und erschütternden Erfahrungen in der Psychiatrie sprachgewaltig oder aphoristisch in 24 Szenen offenbart. Monologisch, dialogisch mit sich selbst, in Fetzen und Ausbrüchen zu einem literarischen Drama überhöht. Was für ein erfolgreiches Musiktheater ist daraus geworden! Die deutsche Erstaufführung in der Übersetzung von Durs Grünbein – Grünbein hat alle Kane-Dramen übersetzt – ist letztes Jahr in Dresden an der Semper Zwei mit einem Spezialensemble am Start frenetisch gefeiert worden. (Siehe klassikfavori-Kritik auch mit weiteren Details zur Musik und zum Stück) Strasbourg hat sich die französische Erstaufführung – im englischen Original – gesichert und beweist jetzt die Repertoire-Tauglichkeit an einem festen Haus. Erstmals zeichnen Mitglieder eines Opernorchesters, Streicher und Bläser des Orchestre philharmonique de Strasbourg mit Akkordeonverstärkung und Synthesizer für Orgel- und Cembaloklänge für die Venables-Musik verantwortlich. Über dem Bühnenbild sichtbar platziert entfesseln die 12 Musiker*innen unter Richard Baker die immer wieder überraschenden Sounds, crazy Intermezzi oder klanglich motivisch gesteuerten Klänge, liefern sie passgerecht zu den Sprech- und Musikeinspielungen, alles muss bei Venables ineinandergreifen. Eine geniale Erfindung sind die mehrmals gehämmert oder gepaukten, einmal auch gesägten, Dialogabrisse zwischen Arzt und Patient. Jeder Schlag ist eine Silbe, die im Duktus des Sprachrhythmus auf die Wand projiziert erscheint, bis sich Sätze formen. Die kommen in Strasbourg allerdings nicht ganz so eindrücklich wie an der Semper Zwei. Die Schlagzeugerin der Arztpartie wirkt zu wenig engagiert und nicht als Teil der Inszenierung. Obwohl sie ganz vorne, quasi über, fast im Bühnenbild steht. Auf der Bühne ist das Ensemble um so mehr mit großem Einsatz dabei. Drei der Sopranistinnen haben in der Uraufführung 2016 im Lyric Hammersmith mitgesungen. Das gesamte Sextett des Abends hat sich bei der zweiten Londoner Aufführung gefunden, die nach dem Erfolgsdebüt sofort angesetzt wurde. Angeführt wird das Sextett von Gweneth-Ann Rands warmer Mezzostimme. Spitzentöne und sphärische Linien liefert Robyn Allegra Parton. Mit dem wie ein Stillstandsmoment im Stile altenglischer Lautenlieder eingestreuten Song erobert Rachel Lloyd die Zuhörer. In dem psychotisch-weiß leeren Raum mit Stühlen arbeiten sich die Sängerinnen szenisch aneinander ab. Sie würgen sich, sie verfolgen sich, sie werfen sich hin. Und röcheln und atmen auch schon einmal im Kollektiv. Die von Huffman entwickelten Aktionen bleiben allerdings eher abstrakt. Ganz im Gegensatz zu der Inszenierung von Tobias Heyder an der Semper Zwei. Heyder hat sich an Ausdeutungen der Szenen gewagt. Beispielsweise bei der erschütternden Psychopharmaka-Szene, wo die von Ärzten verordneten Dosierungen und ihre Nebenwirkungen, bildlich als Geschenke verpackt, zur Büchse der Pandora werden. Auch den Doktorkittel lässt er überziehen. Die in der Psychiatrie angewendeten Zahlentests haben an der Semper Zwei real

Foto: Klara Beck
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stattgefunden. (Siehe klassikfavori-Kritik) In Strasbourg werden abnehmende Zahlen filmisch abgespult. Hufmanns Regie, für Strasbourg umgesetzt von Elayce Ismail, lässt das Ensemble eher als eine Person agieren. Das verleiht den auskomponierten Madrigalszenen wiederum mehr Ensemble-Kraft, lässt auch mehr Konzentration auf die immer wieder assoziative Freiräume öffnende Musik zu.

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Zum Schluss steht Gweneth-Ann Rand dennoch allein, in ihrer Jeans und im schwarzen Hemd auf dem Tisch. Von den anderen „Ichs“ – alle gleich gekleidet – sind lediglich deren Schuhpaare und daneben geworfene Strickjacken übrig. Spätestens nach den Worten „Ich habe kein Verlangen nach dem Tod. Welcher Selbstmörder hätte das…“ wird einem richtig mulmig. Zum Äußersten kommt es nicht. „Please open the curtains!“ sind die letzten Worte. Will sagen: „hört auf, jetzt ist es genug!!“ Das Licht geht aus. Könnte das als ein von Kane vage angedeuteter Hoffnungsschimmer gelten? Auch wenn ihr Fall hoffnungslos geblieben ist, Venables Kammeroper ist ein Appell an die Auseinandersetzung mit solchen Fällen. Ein Appell, Empathie für die Menschen aufzubringen, deren Probleme wir vielleicht mit nicht so starkem Ausschlag, wieder erkennen könnten. Das wird angenommen! Der Applaus am Ende ist groß und einhellig. Für das Gesangssextett, für die Musiker‘innen, für Dirigent Richard Baker, übrigens ein Weggefährte Venables und ebenfalls Komponist. Natürlich auch für das Opernwagnis, das Eva Kleinitz eingegangen ist. Nur war der Applaus vielleicht nicht lang genug. Denn nach zwei Vorhängen stehen schon die Redner auf der Bühne, um die Frohe Botschaft der Kür der Opéra du Rhin zum Opernhaus des Jahres 2019 zu verkünden. Die Stimmung schlägt sofort in eine andere um, vielleicht auch gut so! Nur wo war eigentlich das Erfindungs-Duo hinter “Psychosis 4.48”, Philip Venables und Ted Huffman? Sie erleben just an diesem Abend die Weltpremiere ihrer neuen Opernkreation „Denis & Katja“ an der Opera in Philadelphia. Philip Venables als Komponist, Ted Huffman dieses Mal als Regisseur und als Librettist. Also noch einmal: Was für ein Tag!

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