Der Verführer. Zum 10. Todestag des großen französischen Regisseurs Patrice Chéreau

Er war ein Magier und detailversessener Arbeiter am singenden und sprechenden Menschen auf der Bühne – ob im Schauspiel, in der Oper oder im Film. ARTE erinnert in seiner Mediathek zum 10. Todestag am 7. Oktober mit einer großartigen neuen Doku, der Aufzeichnung von „Elektra“ sowie dem frühen Film „Judith Therpauve – Die letzte Ausgabe“ mit Simone Signoret an den begnadeten französischen Regisseur. Er starb im Alter von 68 Jahren an Lungenkrebs. (Von Klaus Kalchschmid)

Patrice Chéreau . Wiki Commons

(7. Oktober 2023) Le corps au travail – Der Körper bei der Arbeit, so lautet ein Film aus dem Jahr 2009 über Patrice Chéreau seines Assistenten Stéphane Metge, in dem der 25-jährige gleich zu Beginn ebenso wundersam natürlich wie kraftvoll tanzt. Elektras finaler, ekstatisch selbstvergessener Todes-Tanz war das letzte, was dieser große Schauspieler, Theater-, Film- und Opernregisseur im Sommer beim Festival d’Aix-en-Provence inszeniert hat. Diese Aufführung reiste nach Mailand, New York, Helsinki, Barcelona und Berlin. Dort singt im Oktober Waltraud Meier ihre Abschiedsvorstellungen. Bis 6. November 2023 ist die Aufzeichnung aus Aix mit ihr auch in der Mediathek www.arte-tv.com zu sehen. Für Meier war Chéreau der „Lebens-Regisseur“.

Jubel nach der Elektrapremiere in Aix-en-Provence.
Szenische Version der Wesendonk-Lieder

Mit Chérau erarbeitet sich Meier auch die Wozzeck-Marie, Isolde und eine szenische Version der Wesendonk-Lieder. Wer den 31jährigen Chéreau 1976, als sein Ring in Bayreuth das Publikum anfangs in glühende Verfechter und ebenso leidenschaftliche Verächter spaltet, in einer lebhaften Podiumsdiskussion erlebt, der wird das nicht vergessen: Wie da ein junger Mann in ausgezeichnetem Deutsch ganz unaufgeregt Fragen beantwortet und seine Sache wortgewandt verteidigt. Als Chéreau 34 Jahre später, im Mai 2010, in den leeren Räumen der Akademie der Schönen Künste in München drei Tage mit Publikum eine szenische Version von Wagners Wesendonk-Liedern für Aufführungen im Louvre probt, mit der grandiosen Waltraud Meier, steht er da zwischen den Zuschauern und beobachtet Waltraud Meier mit den neugierigen Augen eines kleinen Jungen.

Mit körperlicher Lust, größten Zärtlichkeit und purer Gewalt

„Mein Begehren für den Körper des Schauspielers, die Anziehungskraft, die ein Schauspieler ausübt, den man im Raum dirigiert“, sei in Film, Theater und Oper von der gleichen Intensität, beschreibt Chéreau das Verhältnis zu seinen Darstellern. Eine musiktheatralische Szene erzählt das paradigmatisch: Wenn in Chéreaus Version von Leoš Janáčeks Aus einem Totenhaus (2007) die Gefangenen selber Theater spielen und dafür auch in Frauenrollen schlüpfen, dann tun sie das bei Chéreau mit einer extremen körperlichen Lust, einer Natürlichkeit, der alle Scham fehlt und die zugleich die größte Zärtlichkeit besitzt, während davor und danach in dieser Männerwelt die pure Gewalt regiert.

Chéreaus Bühnenbildner

Immer wieder hat der Franzose auf der Opernbühne den Ausdruck des Sängers, seine Gestik, Mimik und Körpersprache in den Mittelpunkt gerückt, hat aus Sängern großartige Schauspieler gemacht, man denke nur an Gwyneth Jones als Brünnhilde im Ring, Teresa Stratas als Lulu oder Waltraud Meier. Über die Jahre hinweg hat er dabei immer mit denselben Bühnen- und Kostümbildern gearbeitet wie Richard Peduzzi oder dem 1996 gestorbenen Jacques Schmidt.

Seine Personenführung

Früh schon lernte der junge Patrice das Zeichnen von seinen Eltern, kam mit den Gemälden – und vor allem den Plastiken – des Louvre in Berührung, interessierte sich für das Entwerfen von Bühnenbildern, sah als ganz junger Mann am Berliner Ensemble Bert Brechts dem Entstehungsprozess eines Theaterabends zu. Später schlich er sich in Paris ebenfalls in Proben, um zu lernen, wie Personenführung funktioniert, wie man Licht setzt (bis heute prägt eine subtile Lichtregie alle seine Arbeiten), wie sich das richtige „Verhältnis zwischen Text und dem Körper im Raum“ herstellt.

Statt des Prestige-trächtigen Odéons nimmt Chéreau die Leitung des Les Amandiers Theaters im Pariser Brennpunkt

In den 1980er Jahren machte er das Théâtre des Amandiers samt seiner Schauspielschule in Nanterre, einem Außenbezirk von Paris, mit großem Erfolg zum Zentrum seiner Arbeit. Nach Der Kampf des Negers und der Hunde seines engen Freundes Bernard-Marie Koltés (1983) und inszenierte er später viele von dessen Stücken, in Die Einsamkeit der Baumwollfelder spielte er sogar einen der beiden Protagonisten. Eine neue anderthalbstündige Doku (Patrice Chéreau – Frankreichs Theatergenie; bis 30. Dezember 2023 in der Arte-Mediathek) legt den Fokus nicht zuletzt auf den jungen Regisseur und seine frühen Theaterarbeiten. Sie sind hier nicht zuletzt in raren Filmausschnitten und Fotos zu erleben. Chéreaus letzte Theaterarbeit sollte nach einigen Jahren Pause 2011 Jon Fosses I am the wind (in englischer Sprache) mit zwei Männern in einem Boot auf hoher See sein.

Kinofilme

Daneben geht es natürlich im neuen Dokumentarfilm um einige der zehn Kinofilme, so L’homme blessé – Der verletzte Mann, der die Amour fou eines 18-jährigen in der homosexuellen Stricher-Szene darstellt, oder 1998 das Road-Movie Ceux qui m’aiment prendront le train – Wer mich liebt, nimmt den Zug. Die unterschiedlichsten Männer und Frauen reisen da dem Sarg ihres schwulen Freundes hinterher. Für Intimicy über einen Mann und Frau, die eine klar geregelte ausschließlich sexuelle Beziehung unterhalten, bevor Gefühle das labile Gleichgewicht stören, bekam Chéreau 2001 den Golden Bären. 2003 drehte er Son frère – Sein Bruder über einen krebskranken jungen Mann und die Beziehung zu seinem schwulen Bruder.

Die Bartholomäus-Nacht

Wichtige Filme waren auch das große, dreistündige Epos Die Bartholomäus-Nacht mit Isabel Adjani (1994), Gabrielle (2005) nach Joseph Conrad mit Isabelle Huppert und Chéreaus Lieblingsschauspieler Pascal Greggory sowie zuletzt Persécution (2009) mit Romain Duris, Charlotte Gainsbourg und Jean-Hugues Anglande, seinem Protagonisten aus L’homme blessé.

Der Jahrhundert-Ring

Glücklicherweise sind Patrice Chéreaus Inszenierungen von Opern ebenfalls großteils auf DVD erschienen, so Così fan tutte, Tristan und Isolde, Wozzeck und Aus einem Totenhaus, nicht zu vergessen Der Ring des Nibelungen. Ihn inszenierte Chéreau bekanntlich 1976 an der Seite von Pierre Boulez am Pult in Bayreuth .  (Bis 1980). Leider ist die Fernseh-Aufzeichnung der Uraufführung der dreiaktigen Lulu von Alban Berg, die Chéreau 1979 in Paris (ebenfalls mit Pierre Boulez) herausbrachte, bislang nicht auf DVD erschienen.

 

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