Camille Saint-Saëns! Palazzetto Bru Zane erforscht dessen Opernschaffen

„Samson et Dalila“ hat es ins Repertoire geschafft. Doch Camille Saint-Saëns (1835-1921), Titulaire an der Madeleine, also Organist und Pianist, vor allem sinfonischer Komponist, der bis ins hohe Alter hinein für Frankreich untypisch großartige kammermusikalische Werke wie Sonaten für Holzblasinstrumente schreibt nicht zu vergessen: die erste französische Stummfilmmusik vorlegt – er hat zeitlebend versucht, die Opernbühne zu erobern. Auch seine französischen Kollegen Bizet, Berlioz oder Massenet kämpften da mit Widerständen. Ob es an Charles Baudelaire lag, der beim Besuch einer Tannhäuser-Aufführung in Paris 1870 ein spirituelles Erlebnis in der Größenordnung einer „schwindelerregenden Opium-Vorstellung“ erlebt und mit seiner anschließenden Schrift der „Wagner-Rausch“ einen Wagner-Hype in Paris ausgelöst hat?

Es gab weitere Gründe, wie die Stiftung Bru Zane darlegt. Auch eine den eigenen Komponisten gegenüber feindselige Journaille. Inzwischen hat das Patrimoine längst einen Fokus. Und Bru Zane hat die meist nach wenigen Aufführungen in Vergessenheit geratenen Opern Saint-Saëns auch als Partner von Opernhäusern mit Wiederaufführungen koproduziert. Faszinierende Bühnenwerke sind mit wissenschaftlichen Begleittexten im Anschluss in einem Buch mitsamt CD-Einspielung aufbereitet worden. Auch wenn das Saint-Saëns-Jubiläum letztes Jahr begangen wurde: hier sind Schätze gehoben worden, die auf lange Sicht Aufmerksamkeit verdienen! Klassikfavori stellt Ihnen daher fünf Einspielungen vor. Mit La princesse jaune von 1872 beginnen wir. (Von Klaus Kalchschmid und Sabine Weber)

Hier eine Übersicht, damit Sie zu den einzelnen Besprechungen springen können:

La Princess jaune (1872) SW
Le timbre d‘argent (1864 / 1877) SW
Proserpine (1887) KK
Phryné (1893) SW
Les Barbares (1901) KK

DAS FRÜHWERK La Princesse jaune (1872) und
Le timbre d’argent (1864 / 1877)

1. La Princesse jaune: Kokain und „Japonisme“

La Princesse jaune, Judith van Wanroij, Mathias Vidal, Orchestre national du Capitole de Toulouse, ML Leo Hussain, Palazzetto Bru Zane BZ 1045

La princesse jaune schafft es als erstes auf eine Pariser Bühne, auch wenn die Arbeiten an der nachfolgend aufgeführten Le timbre d‘argent schon begonnen hatten. Der Opern-Einakter für zwei Solisten, Frauenchor und Orchester wird eben vorher fertig und an der Opéra-Comique uraufgeführt.  Wahnhafte Hingerissenheit muss in vernünftige, sprich reale Liebe umgewandelt werden (Libretto Louis Gallet). Lena ist in ihren adoptierten Bruder oder Cousin Kornélis verliebt. Der interessiert sich in seinem Künstleratelier mehr für japanische Kultur als für Lena. Seine Leidenschaft nährt er sogar rauschhaft in einer tristanesken Liebesvision für eine japanische Dame auf einem Bild. Dachte Saint-Saëns etwa an Vincent van Goghs berühmte japanische Kurtisane?

Japonisme und Drogenrausch

Die besondere Couleur, die Saint-Saëns in diesem Einakter bedient, sind also Japonisme und Drogenrausch. Vincent Giraud, einer der Autoren der Bru Zane Edition, vermutet, dass es sich bei der Droge, die Kornélis konsumiert, um Kokain handeln müsste. 1855 ist Kokain erstmals von dem deutschen Chemiker und Apotheker Friedrich Gaedeke extrahiert worden, und kommt bei einem Augenarzt in Wien erstmals zum Einsatz. Das erste Lokalanästhetikum ist erfunden. Selbstversuche sind diesem Einsatz höchstwahrscheinlich vorausgegangen.

Pentatonisch ausgespielter Witz

Ob Haschisch, Opium oder Kokain, Saint-Saëns rezipiert also ein Zeitphänomen. Im Mittelpunkt steht natürlich der Rausch (Vision de Kornélis), den Saint-Saëns mit Streicherfiguren und Orchestertremoli antreibt. Die tristaneske Verzückung, in der Kornélis seine angebetete Ming erwecken will, ist sicherlich Wagnerischem Vorbild geschuldet. Sie klingt dennoch leicht, und damit französisch, ist sogar mit kleinen Glöckchen garniert. Kornélis schwelgt auch mal in Naturvisionen oder entwirft ein japanisches Panorama mit Markt, Pagoden, Tee-Gerüchen… Das gibt Gelegenheit, fernöstliches Couleur hinein zu bringen. Pentatonisch ausgespielter Witz gehört auch ins Klangbild. Witzig, weil schulmeisterlich, klingen Lenas im staccato gesetzten pentatonischen Töne, wenn sie eifersüchtig japanische Verse und ihre Übersetzung entziffert. Dann wieder resigniert Lena mit einer einfachen Kanzone.

Auf den Punkt

Das Psychogramm dieser beiden Liebenden bleibt musikalisch stets auf Spannung, auch wenn die Handlung im Grunde spießig und aufgesetzt wirkt. La princesse jaune ist dennoch eine wunderbare Konversations-Miniatüre mit kleinem Drama, mehr Witz und Charme, genährt von einem auch musikalisch inszenierten auch mal komisch gemeinten „Japonisme“ – damit sogar ein kleiner Vorreiter der Madama Butterfly! Judith van Wanroij bringt die Facetten der jugendlichen Lena mit ihrer klar und leicht geführten Stimme, die wenige Male vielleicht etwas scharf ist, jedenfalls perfekt zum Ausdruck. Mathias Vidals Tenor tönt verträumt schön, ist aber auch zu ekstatischem Ausdruck fähig. Das Orchestre national du Capitole de Toulouse unter Leo Hussain begleitet aufmerksam einfühlend immer auf den Punkt. Die vielen solistischen Momente liefern besonders feine Farben.

Liedzyklus Mélodies Persanes als Plus

Hörbar wird in dieser Aufnahme jedenfalls, warum Saint-Saëns dieses Werk auch im Alter noch für eine der besten Sachen hielt, die er je für das Theater geschrieben habe. Eine lohnenswerte Entdeckung, die für einen Opernabend mit einem weiteren Einakter ergänzt werden müsste. François Xavier Roth und sein Siècles-Orchester haben im Mai dieses Jahr für eine Aufführung am Theater in Tourcoing Bizets Djamileh dazu gesetzt (Regie: Géraldine Martineau). Die vorliegende CD wird mit sechs Liedern aus Saint-Saëns  Liedzyklus Mélodies Persanes ergänzt, jeweils wechselnd von einem Sänger oder einer Sängerin gesungen und wiederum begleitet vom Orchestre national de Toulouse unter Leo Hussain. (Sabine Weber)


2. Le timbre d‘argent: Schauerromantik und ein bisschen fauler Zauber!

Le timbre d‘argent, Weltersteinspielung, Hélène Guilmette, Jodie Devos, Edgaras Montvidas, Yu Shao, Tassis Christoyannis, Jean-Yves Ravoux, Matthieu Chapuis, accentus, Les Siècles, ML: François-Xavier Roth. 2020 Palazzetto Bru Zane BZ 1041

Le timbre d‘argent hat Saint-Saëns selbst nur in zwei Produktionen erleben können. Schon 1864/65 komponiert, hat es nur wenige Uraufführungen am Théatre national lyrique in Paris 1877 gegeben. Und 1904 am La Monnaie in Brüssel die  Zweitproduktion. An dieser letzten, auch von Saint-Saëns überarbeiteten Version (Édition Choudens), hat sich diese Bru-Zane-Produktion orientiert.

Das Opern-„Frühwerk“ liefert, was Oper – hier mit vier vollen Akten – braucht. Saint-Saëns in seinem 40. Lebensjahr war nun auch kein Anfänger mehr, hatte auch schon einige Versuche in diese Richtung hinter sich: Ivanhoé; Le retour de Virginie, Les noces de Prométée. Die Opern seiner Kollegen hat er sicherlich genau studiert. Die Ouvertüre zu Le timbre d’argent hat jedenfalls gefühlt Berliozsche Verve und erinnert an die von Les Troyens. Offenbachsches Barcarolenschaukeln kommt aus den Contes d’Hoffmann. Aus diesem fantastischen Werk hat sich Saint-Saëns, beziehungsweise haben sich seine Librettisten Jules Barbier und Michel Carré offenkundig auch einen Doktor Mirakel entlehnt. Der Arzt Spiridon kann ebenfalls seine Gestalt verändern und tritt als Teufel oder Marquis auf.

Alles nur ein Albtraum

Spiridon ist Dreh- und Angelpunkt der Vision des depressiven Kunststudenten oder Malers namens Conrad. Der hadert, weil er kein Geld hat, leidet aber vor allem an Fieber. In einem Fiebertraum überreicht ihm eine Phantomtänzerin ein Zauberglöckchen, das ihm beim Klingeln Gold beschert. Mit dem Gold begibt er sich in Gesellschaft und unterstützt als großzügiger Mäzen eine Tänzerin (stumme Rolle). Zu diesen Zeiten sind Tänzerinnen übrigens ein Synonym für Prostituierte. Für jeden erklingelten Goldhaufen, den Conrad fürs Amüsement einsetzt, muss eine ihm nahestehende Person sterben. Was für ein fauler Zauber! Nachdem es seinen bester Freund Benedikt trifft, Höhepunkt des Dramas, wacht Conrad auf. Alles nur Fiebertraum. Ein Albtraum, von dem er erlöst wird. Und Benedict lebt! Hélène darf er heiraten, und es endet mit Orgelbegleitetetem Engelsgesang (Frauenchor). Da war der Kirchenmusiker und Organist Saint-Saëns in seinem Element.

Kontrastdramaturgie

Dass hier die Frau wie schon in der gelben Prinzessin den abtriftenden Geliebten frei kämpfen muss, fällt auf. Jetzt ist es allerdings nicht nur ein Rausch, sondern mehrere fantastische Situationen sorgen für Turbulenzen, eine imaginierte Theater- oder Spielszene, eine auflaufende städtische Feiergesellschaft, die Prinz Karneval zujubelt und Trinklieder mit großen Choreinsatz (Accentus) angestimmt. Hélènes Sphäre ist die der heilen Natur, sie kommt vom Land, was sie in einer Arie des Typs „Unschuldiges Lied “ auch erzählt. Religiösität gehört auch zu ihr. Zwei Mal trägt sie mit ihrer Schwester fromme Gebete vor, wie in Humperdincks Hänsel und Gretel. Ab und zu darf Hélène Guilmette – nomen est omen – mit ihrer heilig schlank und unschuldigen Stimme auch mal kleine, feine Koloraturen anbringen. Zur musikalischen Kontrastdramaturgie gehören dann auch Freischütz-Wolfsschlucht-Anklänge im Orchester und Geisterchoreinsätze.  Tassis Christoyannis hat als Spiridon und Teufelsinkarnation einen orgiastisch wild ausrastenden exotisch gefärbten Auftritt, darf zuvor aber auch eine mehrstrophige Schauerballade nach deutscher Manier zum Besten geben.

Meisterhafte Suche nach dem eigenen Stil

Conrad steht natürlich im Zentrum. Eine Riesenpartie! Tenor Edgaras Montvida bleibt aber selbst im Ausnahmezustand stimmlich lyrisch, ohne den Brustdruck all zu sehr zu forcieren. Auch wenn er wütet, klingt es noch französisch. Saint-Saëns Stilistik ist insgesamt verblüffend, er scheint, wenn auch meisterhaft, auf der Suche nach seinem Stil eher zu schöpfen. Operettenhaftes steht neben schauerromantischen Orchesterfarben, die wohl mit Blick nach Deutschland gewonnen wurden. Es müssen im letzten Akt sogar noch E.T.A. Hoffmanns Nixen locken, damit wellenbewegte Undinenmusik erklingen kann.

Eine erstklassige Aufnahme

Unter der Leitung von François Xavier Roth macht Les Siécles jedes Detail hörbar oder drückt mächtig auf die Tube. Der Chor accentus ist in den Gesamtklang wunderbar integriert, die Solisten  werden stets gut begleitet. Wiederum eine erstklassige Aufnahme also … (Sabine Weber)

 

DAS SPÄTWERK: Proserpine (1887) – Phryné (1893) – Les Barbares (1901)

4. Phryné: antike Verführungskunst

Opéra-comique in zwei Akten mit Rezitativen von André Messager, Florie Valiqette, Cyrille Dubois, Thomas Dolié, François Rougier, Patrick Bolleire, Orchestre de l‘Opéra de Rouqen Normandie, Choeur du Concert Spirituel, ML: Hervé Niquet Palazzetto Bru Zane BZ 1047

Was für eine Geschichte! Es geht um das erste Nacktmodell, das dem antiken Bildhauer Praxiteles für seine legendäre Aphrodite von Knidos gedient haben soll. Phryné war eine Hetäre, sprich Prostituierte, trat staunenswert selbstbewusst in der Pollis auf und soll bei einer Gerichtsverhandlung vor dem natürlich rein männlichen Areopag ihre entblössten Brüste als Argument eingesetzt haben. Erfolgreich! Eine Frau also, die „mit einem einzigen Blick eine ganze Stadt in Flammen setzt“, wie Chef-Archont Dicéphile zugeben muss. Die legendäre Gerichtsszene findet in Camille Saint-Saëns Oper nicht statt. Statt dessen sucht Dicéphile Phryné in ihrem Haus auf, um sie vorab zu befragen. Sie beginnt entspannt ihre Toilette und verdreht dem schwach werdenden Mann den Kopf. Dicéphile streckt natürlich die Waffen, wirft sich ihr zu Füßen, worauf dem Wunder der Schönheit der Aphrodite, verkörpert in Phryné, gehuldigt und im Kirchenton mit Orgel und hymnischem Chor „Ah!“ geheiligt wird.

Saint-Saëns gleicht die  Schwächen des Libretto aus

Die Verführungsszene garantierte dem Werk schon allein den Erfolg, bescheinigten Kritiker nach der Uraufführung an der Opéra-Comique im Mai 1896. Aber ob sie Operette sei, darüber stritt man. „Sie habe nicht die Ausgelassenheit eines Chabriers oder gar Offenbach, der die Antike als Stoffsammlung zuletzt für seine Belle Hélène geplündert hatte. Dennoch sei es ein raffiniertes Werk, in dem die Musik die Schwächen des Libretto von Lucien Augé de Lassus ausgleiche und Leichtigkeit, Spiritualität mit extatischem Chorgesang auf die Liebesgöttin, dazu Eleganz, nicht zuletzt komische Couplets auch ausgelassene Tambourins aufböte. Saint-Saëns griechische Operette beginnt mit chorischem Herrscherlob und „Gloire“ auf den tugendhaften Dicéphile, der wiederum serviert seinem schuldenüberladenen Neffen Nicias eine komische Gardinenpredigt zu lustiger Fagottbegleitung, zieht in einem Couplet über Frauen her, die es besser zu bewachen gilt, als es Orpheus mit seiner Eurydike gelungen sei. Es gibt ein komisches Buffopaar Lampito und Agoragine, die sich sowohl über Dicéphile also auch Phryné lustig machen. Und nicht zuletzt ist der jugendliche Neffe Nicias Hals über Kopf auch noch in Phryné verliebt. Allein zur Solovioline ohne Orchesterbegleitung beklagt er seine Liebesnot, worauf sie wie eine Salondame die Tür öffnet und sich eine feine Liebesbegegnung entspinnt.

In Deutschland wird die Walküre, in Frankreich Phryné gefeiert
Illustration des Klavierauszuges 1893. Foto: Wiki Commons

Ob dieser Opernplot, bar jedes Geheimnisses, das ans Licht gebracht werden muss, ohne politischen und gesellschaftlichen Impetus heute noch ein Publikum findet, ist die Frage. Der damalige Erfolg war zum einen das Verdienst der beraubenden schönen Hauptdarstellerin Sibyl Sandersen. Zum anderen wurde in Deutschland die Walküre gefeiert. So feierten die Franzosen eben die Phryné ihres Nationalkomponisten! Phryné wurde in Frankreich überall aufgeführt, aber auch in italienischer und deutscher Übersetzung exportiert, wie Alexandre Dratwitzki, künstlerischer Leiter der Bru Zane Stiftung, in seinem Einführungstext schreibt. 1896 wurden die gesprochenen Dialoge im Auftrag Saint-Saëns durch nachkomponierte Rezitative von André Messager ersetzt.

Saint-Saëns spielt mit antiker Couleur

Das Werk traf einen Zeitnerv. Phryné war zu Saint-Saëns Lebzeiten der zweitgrößte Erfolg nach Samson et Dalila. Die Musik ist natürlich auch wieder großartiger Saint-Saëns, der hier mit antiker Couleur spielt, er verwendet den dorischen „griechischen“ Modus. Oder komponiert archaisch einstimmigen Chorgesang beim Blick auf die Liebesgöttin. Immer wieder fallen exquisite Soloinstrumente auf, im besonderen Klarinettenpassagen. Für dieses Instrument hatte Saint-Saëns einen Faible und widmete ihm eine seiner letzten Sonatenkompositionen.

Hervé Niquet sorgt in jedem Moment für Clarté

Dieser Einspielung gingen natürlich auch Aufführungen am Theater voraus (Oper Rouen). Das ist ein Teil des Wiederentdeckungsprogramms von Palazzetto Bru Zane, die Partituren sollen auch aufgeführt werden. Florie Valiquette gibt in dieser Produktion eine in den Höhen kokett-spitze aber auch sanftstimmige Phryné, Thomas Dolié verdeutlicht die komische Autorität von Dicéphile, Cyrille Dubois verkörpert rollengerecht einen zartbesaiteten, sehr lyrischen Nicias. Der Chor von Concert Spirituel und das Orchestre de l‘Opéra de Rouen Normandie umrahmen die Solisten unter der Leitung des Alte Musik Spezialisten Hervé Niquet, der dieser fein instrumentierten Partitur auch vor modernem Orchester in jedem Moment französische Clarté schenkt!

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