Die Stimmung im sehr gut besuchten Wiesbadener Theater ist äußerst gut. Auch nach drei Stunden mächtiger Klang- und Bilderfluten. Und einer eigentlich banalen Liebesgeschichte, Mann zwischen zwei Frauen, allerdings im Strudel von Mythen und heidnischer Rituale wie dem Menschenopfer. Das Phänomen von Naturkatastrophen wird aus Sicht der Bibel auch noch thematisiert, die Sintflut unter anderen. (Von Sabine Weber)
(14. Juli 2022, Hessisches Staatstheater, Wiesbaden) Am Ende fühlt man sich wie nach einem Katastrophenfilm. Regenfluten, ein in Wasserfluten versinkender Flughafen, sich aufbäumende Meereswellen, im Wasser schwebende Menschenkörper sind in einer gigantischen Videoprojektion im Hintergrund der Bühne zu erleben. Aber auch abstrakte Bilderfolgen wie rauchige Farbschlieren, animierte Vogelschwärme oder ein angedeuteter Schlangendrachen, der gefährlich sich durch die Luft windet. Im zweiten Teil nach der Pause dann auch Kosmisches wie aufsteigende Sonnen oder ein aufgehender Planet am Horizont wie in Lars von Triers Melancholia.
Das sind sehr spektakulär gedrehte Videos von Astrid Steiner. Sie bebildern die statischen Chorszenen (mit Juden, Babylonier oder Unterweltschatten) und bringen auch optische Bewegung in die Mehrschichtenklängen. Widmann produziert daraus, wie Stanisław Lem aus seinem Solaris-Meer die Gestalten, Popsong-affine Melodien bis hin zu Kinderliedern, pathetisch aufgeladene Bachchoräle – mit falschen Tönen, Blechfanfaren, Märsche, oder Strauss-Mahler- und Wagner-Allüre. Furchtbar kitschig wird es selbst bei tosendem Lärm durch unzählige Quintfallsequenzen.
Regisseurin Daniele Kerck lässt die Hauptfiguren vor einem israelischen Flughafen im Transitraum aufeinander treffen. Einen Skorpionmann im Daunenanorak mit Backpackerrucksack (Philipp Mathmann) oder Tammu (Leonardo Ferrand), seine hausbacken gekleidete gute Seele (Michelle Ryan), die babylonische Priesterin Inanna, ein blond üppiges Prachtweib (Sarah Traubel). Zwischen Tammu und ihr gibt es, mit vielen Unterbrechungen, eine Liebesgeschichte. Eine der Unterbrechungen ist der Euphrat, der als eine gewaltige Ischtar-Diva mit Turmfrisur und Ringreifkleid (auch mit gewaltigem Organ: Andrea Baker) erklärt, warum er über seine Ufer tritt (siehe Titelbild).
Ein heidnischer Oberpriester (Claudio Otelli) opfert zur Vorbeugung kommender Fluten Tammu, indem er ihm nach einem Reinigungsprozedere die Kehle durchschneidet. Inanna muss ihn dann wie einst Orpheus seine Eurydike aus der Unterwelt zurück holen. Otto Katzameier, mit Bart und Teufelsfedern am Arm, scheint es als Tod so richtig zu genießen, wei ein grotesker Alter an Krücken über die Bühne zu schlackern und sich kindisch zu gerieren.
Dass der Flughafentransitraum zunächst von orthodoxen Juden mit Hüten, Locken, Kippa bevölkert wird (Kostüme; Andrea Schmidt-Futterer) ist schlüssig, denn es geht ja um das jüdische Volk in der babylonischen Gefangenschaft. Das Ganze bleibt dennoch rätselhaft, präsentiert keine Handlung. Nebeneinander stehen die der Mythologie oder der Bibel entlehnten Anspielungen und mystisch aufgeladenen Tableaux, die übrigens mit einem bösbiblischen Rachefluch beginnen.
Das Libretto vom Philosophen und Kulturwissenschaftler Peter Sloterdijk changiert zwischen hohl bedeutungsschwanger „gereinigt von den heiligen Euphratwassern geht ihr ins Verborgene ein“, meint wohl „nach der Flutkatastrophe seid ihr schlauer“, bis hin zu Sätzen, wie „wohin Du gehst, gehe ich auch…“, die, obwohl sogar aus dem alttestamentlichen Buch Ruth zitiert, in diesem Zusammenhang einfach banal wirken. Zumal wenn sie mit Quintfallsequenz begleitet gesungen werden. Belsazzars „Menetekel“, letzte Worte Jesu am Kreuz sind auch eingearbeitet, und weitere Zitate – alles sicherlich mit Hintergedanken geschehen.
Ob die drei Stunden (inklusive einer Pause) wirklich als kulturhistorische Tiefenbohrungen zu erleben sind, darf offen gelassen werden. Ob sie einen Mehrwert erzeugen, sogar bezweifelt werden. Das ist allerdings ein Werkproblem. Die Uraufführung war 2012 in München, eine revidierte Fassung wurde in Berlin 2019 vorgestellt. Die Wiesbadener Inszenierung präsentiert Babylon jedenfalls aller berechtigten Werkkritik zum Trotz mit großem Unterhaltungswert. Nicht nur wegen der gelungenen und bildmächtigen Regie, die gehörig Spannung zuliefert, sondern auch wegen das hervorragend singenden und spielenden Ensembles. Albert Horne führt die Solisten, Chorsolisten, Chor und das Hessische Staatsorchester sicher durch die Partitur, auch wenn der ein oder andere Großeinsatz aus dem Graben schon einmal einen Sänger zudeckt. Es werden aber auch feinere Klänge produziert. Besonders delikat aus den Proszeniumslogen, von Akkordeon und einer Glasharfe rechts und links von zwei Harfen.