Wieder eine kleine, widerständige „deutsche“ Spur beim 71. Locarno Filmfestival

Letztes Jahr wurde Jean-Marie Straub mit dem Pardo d’honore geehrt. Ein überzeugter Kommunist und Filmemacher, der zusammen mit seiner verstorbenen Lebenspartnerin Danièle Huillet rigoros die filmische Auseinandersetzung mit der Literatur durch entemotionalisiertes verfremdetes Sprechen und monotone Bildeinstellungen gesucht hat. Dieses Jahr wird der deutsche Filmemacher Wolf-Eckart Bühler nicht geehrt, aber wiederentdeckt.
(Von Sabine Weber)

Die Piazza Grande wird beim Locarno Filmfestival jedes Jahr zu einem gigantischen Kinosaal!  Foto: Massimo Pedrazzini
Die Piazza Grande wird beim Locarno Filmfestival jedes Jahr zu einem gigantischen Kinosaal!
Foto: Massimo Pedrazzini


(1.08-4.8.2018, Locarno) „Willkommen Piazza Grande!“ „Grande“ ist nicht übertrieben. Eine Vorführung in diesem gigantischen open-air Kinosaal vor historischer Stadt und Bergkulisse zu erleben ist gigantisch. Selbst ein paar Tage genügen, um sich mit diesem Filmfestival wieder anzufreunden. Das Festival am Lago Maggiore ist und bleibt das Publikumsfestival überhaupt. Die Atmosphäre ist wunderbar. Überall Leopardenmuster, auf Bändern, Wimpeln, selbst die Schaufenster sind mit Plüschtieren geschmückt. Cineasten sitzen in Straßenkaffees, schwärmen in Gruppen durch die Straßen, über Kreuzungen hin und her. Zu erkennen an gelb-schwarzgefleckten Bändchen, an denen die Pässe baumeln. Die Kinosäle liegen Fussnah beieinander. Wenn auch ein ziemlich sportlicher Fussmarsch zwischen dem Pala Video oder Rialto Kino in Muralto am Berg und dem FEVI-Riesensaal am anderen Ende der Altstadt liegt. Bei den aktuellen Temperaturen ist der ganz schön schweißtreibend gewesen. Dennoch – alles ist in Locarno gefühlt beieinander. Experimentelle Kurz-, Langfilmspiele, im, außerhalb des Wettbewerbs, Action-Filme, witzige Konversationsfilme (Was uns nicht umbringt, Regie: Sandra Nettelbeck) oder tiefgründige (L’Ordre des médecins, Regie: David Roux). Auch den ein oder anderen Promi-Schauspieler trifft man unauffällig sitzend in einem der Straßenkaffees. Man kommt mit Kinobetreibern oder dem Filmhistoriker und Leiter des Münchner Filmmuseums Stefan Drößler ganz zufällig „auf’m Weg“ ins Gespräch. Neben den Primo Mondiale-Vorführungen punktet dieses Festival nämlich immer wieder mit einer großartigen Retrospektive. Dieses Jahr wurde im historischen GranRex Kino sogar viel gelacht. Denn der Filmproduzent und Regisseur Leo McCarey, der Erfinder von Dick und Doof, wurde gefeiert. Die schwarz-weißen Stummfilme des Duos Laurel & Hardy, bis zu fünf werden hinter einander in Serie gezeigt, werden sogar mit Live-Klaviermusik begleitet. Der niederländische Komponist, Jazz-, Konzert- und Stummfilmpianist Daan van den Hurk, links vom Podium am Klavier, greift beherzt in die Tasten, um im Stil der swingenden 20er Jahre Spannung aufzubauen, den Bewegungsrhythmus der Schauspieler aufzunehmen, wenn beispielsweise Foxtrott getanzt wird. Und auch zur unvermeidlichen Tortenschlacht findet er die richtigen Töne! Dem Festival ganz groß anzurechnen sind auch die Entdeckungen am Rande unter der Kategorie „Histoire(s) du cinema“. Und da kommt auch das Filmmuseum München ins Spiel, das zwei Filme von Wolf-Eckart Bühler restauriert hat. Sie werden in Locarno erstmals nach 35 Jahren wieder gezeigt und entdecken ein Stück verlorene deutsche, vor allem politische, Filmgeschichte wieder. Die wird all zu gern vergessen. Der Münchner Filmemacher und Regisseur Bühler hat sich nämlich mit dem nicht opportunen Thema kommunistische Regisseure und Schauspieler in Hollywood auseinander gesetzt.

Wolf-Eckart Bühler signiert das Plexiglas. Ein Locarno-Ritual auf dem roten Teppich. Foto: Massimo Pedrazzini
Wolf-Eckart Bühler signiert das Plexiglas. Ein Locarno-Ritual auf dem roten Teppich.
Foto: Massimo Pedrazzini

In den Berufsverboten des Radikalenerlasses von 1972 sieht er deutliche Zeichen einer Wiederholung der kommunistische Hetze in den 50er Jahren der USA, damals ausgelöst durch das Komitee für (sogenannte) unamerikanische Umtriebe. In der McCarthy-Ära werden Hollywoods Stars und Regisseure einer regelrechten Inquisition unterzogen. Diesen Spiegel will Bühler Deutschland vorhalten. Bühler dreht also einen Film über das Berufsverbot, mit dem Hollywood-Regisseur Abraham Polonsky gebrandmarkt wird. Und kommt auf den Hollywoodstar Sterling Hayden, der vor dem Komitee eben jenen Polonsky denunziert hat, woran Hayden später menschlich zerbricht. Das will Bühler ins Bild bringen und Sterling Haydens selbstkritische Autobiographie Wanderer verfilmen. Robert Redford ist allerdings da dran. Aber Bühler trifft Hayden persönlich auf seinem Hausschiff bei Besançon und bekommt die Filmrechte. Aus dieser Begegnung entsteht der Dokumentarfilm Leuchtturm des Chaos. So heißt das Hausschiff Haydens, auf dem 1983 spontan gedreht wird – mit fast ausschließlich Sterling Hayden im Bild. Haydens Gesicht mit Ahab-Bart ist zerfurcht, immer noch eindrucksvoll. Dennoch ist er ein Schatten der einstigen Hollywood-Ikone, der die Johnny Walker Red Label Flasche immer zur Hand hat und Zigarette oder Pfeifchen. „Strange, isn’t it, hein?“ Ein Tick von ihm, der manchmal sogar nervt. Aber Haydens Stimme ist sonor geblieben. Zwei Stunden lang packt der Endsiebziger über sein Leben aus. Das Leben eines Seglers, Schiffskapitäns und Hollywoodstars. Bühler blendet Aufnahmen und Bilder aus dessen Filmen und Aufnahmen vor dem Komitee als kurze Blenden ein. In dem experimentellen Spielfilm Der Havarist von 1985 – mit einem dreigeteilten Hayden – stellt Bühler dann die Zeit des Verhörs ins Zentrum. Burkhard Driest verkörpert Hayden im Verhör, das Edgar Selge führt. Gedreht wird in der Münchener Landesbank. Rüdiger Vogler als Hayden Nummer zwei streift einsam vor den roten Felsen Helgolands und reflektiert. Hannes Wader, sitzt in einem Aufnahmestudio und liest als dritter Hayden originale Auszüge aus dem Wanderer vor. Die Art und Weise, wie gesprochen wird, erinnert an die Filme Jean-Marie Straubs und Danièle Huillets. Bühler kannte die beiden auch gut. Konstantin Wecker sorgt für eine collagenhafte Filmmusik. Bühler und Wecker sind befreundet, wohnen im selben Haus in München Schwabing. Und weil Wecker auf Gage verzichtet, wie übrigens die meisten Schauspieler dieser Produktion, ist er dabei. Bühler dreht nämlich ohne Budget. Heute kaum mehr vorstellbar!
Dass solche Filme weit weg vom Mainstream in Locarno von einem 1058243ChatrianMassimoPedrazziniahnungslosen Publikum entdeckt werden können, das ist geradezu großartig. Leuchtturm des Chaos ist übrigens auf der Berlinale erstmals gezeigt worden, wie er nach einer Filmvorstellung vor Ort verrät. Gut möglich, dass Der Havarist dann auch demnächst mal wieder in Deutschland, in Berlin läuft. Locarnos künstlerischer Filmchef arbeitet ab nächstem Jahr für die Berlinale. Dies war Carlo Chatrians letzte Saison in Locarno. Chatrian beerbt Dieter Kosslick und wird sich im Februar 2020 als neuer Ko-Leiter der Berlinale mit eigenem Programm vorstellen. Wäre toll, wenn dann auch dort solche Filme einen Raum bekämen!

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