Gleich zwei CD-Veröffentlichungen laden Ende Februar in das beeindruckende Opernhaus des Château de Versailles ein. Reinhard Goebel, ehemals barocker Virtuosengeiger und spiritus rector der Musica Antiqua Köln, heute ein bis unter die Haarspitzen mit Erfahrungen aus der historischen Aufführungspraxis gewappneter Dirigent, lässt das seit 2019 dort inthronisierte Königliche Opernorchester informiert tanzen. Patrick Bismuth und La Tempesta – mit fünfköpfigem Sängerensemble – verleihen einem allegorischen Bühnenspiel von André Campra neuen Glanz. Die verschollene Partitur hat Bismuth als Zufallsfund aus der Mediathek von Saint-Denis gezogen. Ihr Thema: Krieg und Frieden in einem neuen Jahrhundert! Mit pädagogischem Fingerzeig also und höchst aktuell. Im Mai 1700 wurde es erstmals am Collège de Louis-Le-Grand mit Jesuitenschülern aufgeführt. (Von Sabine Weber)
(2. März 2022) In diesen Zeiten möchten wir doch gern in heile arkadische Welten flüchten und mit Fragonards Schaukeldame in Rosa auf dem Booklet über Rosen und Amouretten den Schuh fliegen lassen. Heute wie damals sind solche glücklichen Momente natürlich Blasen gewesen. Kriege gegen Spanien, die Niederlande, Deutschland, der pfälzische Erbfolgekrieg hat des Sonnenkönigs Frankreich letztendlich ruiniert und eine elende Hungersnot heraufbeschworen. Aus der Entfernung betrachtet lässt sich die arkadische Blase allerdings wunderbar aufblasen. Zumal sie mit französischer Musik des Stile classique und des aufziehenden galanten Rokokos vom Feinsten gefüllt werden kann.
Reinhard Goebel und Musica Antiqua Köln machten mit diesem Repertoire für die Einspielung der Filmmusik zu Le Roi danse bereits vor 20 Jahren Bekanntschaft. Zum Film über Jean-Baptiste Lully und seinem Aufstieg am Hofe Ludwigs XIV. lieferte Lully natürlich auch die Musik. Als musikalischer Zeremonienmeister eines durch den Sonnenkönig neu heraufbeschworenen kulturellen Nationalstolzes natürlich beste Filmmusik. Freilich mit Goebel als Spezialist für hochvirtuoses italienisches und deutsches Violin-dominiertes Repertoire, damals als deutscher Beitrag aus Köln ein „muss“, weil Filmförderung von dort kam, klang es irritierend ruppig, Goebels Bon goût eher kantig. Zwanzig Jahre später hat es sich gemildert. Mit dem Orchestre de l‘Opéra Royal klingt es geradezu irritierend weich, was auch an der indirekten Mikrofonierung liegen könnte, aber auch an den etwas verschwommenen, wenig konturierten Innenstimmen und den auffallend zurückgenommenen Akzentuierungen, beispielsweise der Auftakte.
Dass Jean-Baptiste Lullys Tanzsätze zu Molières Stück Le Bourgeois Gentilhomme einen 16-Fuß bekommen, ist nicht stilecht, aber akzeptabel. Erst mit Rameau sollte das Orchester in der Tiefe rumpeln. Die Tanzsätze der 4. Szene zu dessen Pygmalion-Einakter – als solche zwar nicht Air des differents Caractères überschrieben – sind aber tatsächlich eine Folge von pétits mouvements de danses wie die Caractères-de-la-Danses-Miniaturen Jean-Ferry Rebels, die angeblich einer Charakterfolge der Frankreich zugehörigen Provinzen entsprechen sollte. Interessanterweise sei Rebels Tanzmusik die erste gewesen, mit der Damen aufs französische Parkett gebeten wurden, so Goebel, womit sie die ewig männliche Kriegsgötterei mildern konnten. Rameau konnte auf die Tänzerin Marie Sallé in seinen Tanzopern fest setzen. Und hat auch Anspruch auf den 16-Fuss der Kontrabässe, wobei er auch mal petites flûtes in Terzen zwitschern lässt. Dennoch, so richtig schwungvoll geraten die Rameautänze noch nicht, die eigentlich zum Besten zählen, was Rameau komponiert haben soll…
Mit Christoph Willibald Glucks Tänzen aus Orphée et Eurydice entwickeln Klang und Darstellung mit einem Mal Selbstbewusstsein und Charakterstärke. In der Ouvertüre schon allein der Hörner wegen! Im Maestoso eröffnen sie furchterregend das Tor für die Furien der Unterwelt. Ihr Tanz hat verblüffende Ähnlichkeit mit Don Juans Höllenfahrt aus Glucks nach dem Frauenheld benannter Ballettmusik. In einer Don-Juan-Vorstellung soll das Wiener Theater bis auf die Grundmauern abgefackelt worden sein.
Wolfgang Amadeus Mozarts Ballettmusik zu Idomeneo ist die Schlussapotheose dieser französischen Tanzgenealogie in die Wiener Klassik hinein, wobei Mozarts Chaconne eigentlich keine ist, wie Goebel in seinem rekurrierenden Begleittext wissend erläutert. Gekonnt liefert er Bogen und die Erklärung dazu, warum mit Lullys Tanzmusik seinen Anfang nahm, was bei Mozart furios mit Pauken endet.
Die Wieder-entdeckung und Wiederaufführung von André Campras allegorischem Spiel Le Destin Du Nouveau Siècles ist ein Coup: beste Musik, Airs, Récits und großartige Choreinlagen. Die hatte man ja schon mit dessen Opern-Ballett L‘Europe galante auf dem Plan. Dazu – wie könnte es auch hier anders sein – großartige Tanzmusik. Noch bis in die Romantik müssen auf französischen Bühnen immer Ballette sein. Also hier barocke Menuette, Giguen, Musetten – seltsamerweise keine Sarabanden – die das heraufziehende Jahrhundert begleiten, beflügeln, Kriegern Ruhm und Prestige, den Pazifisten Kunst und Kultur bringen. Leider muss der Zwischensieg des Friedens im dritten und letzten Teil wieder dem Krieg Platz einräumen, der als unvermeidbar ins Bild zu gehören hat. Angesichts des aktuellen Kriegs unfassbar. Der Vierzehnte führte unentwegt Krieg, das hatten die angehenden Schüler zu begreifen. Konzentrieren wir uns lieber darauf, dass die Musikausbildung in dem Jesuitenkolleg Louis-Le-Grand damals ambitioniert gewesen sein muss. Heute ist das Gymnasium immer noch die erste Pariser Adresse für gesellschaftliche Aufsteiger in Paris. Allerdings inzwischen weniger in musischer Hinsicht. Die Chöre für die damaligen Zöglinge sind anspruchsvoll, die Tänze nicht minder. Heute wird ganz sicher nicht mehr getanzt. Die Aufführungen dieses Jesuitenkollegs sollen damals sogar eine Stadtattraktion gewesen sein. Und Komponisten wie Charpentier, Colasse und eben Campra haben dafür komponiert, damit die besten Choreographen die Tänze entwickeln konnten. Die Götter, der allegorisierte Frieden sowie der Krieg bekommen von großartigen Solisten (Florie Valiquette, Claire Lefilliâtre, Marc Mauillon, Mathias Vidal, Thomas van Essen) ihre Stimme geliehen, fein austariert konturiert klingen die Instrumente unter Patrick Bismuths Leitung. Vielleicht ist die allegorische Trouvaille insgesamt ein bisschen zu lang. Aber wunderbare französische Bühnenmusik des Stile classique, die hier erstmals auf CD gebannt erscheint.