RT19: Eine beklemmende Studie über Holocausterfahrungen, die eine Mutter-Tochter Beziehung noch in der übernächsten Generation traumatisiert

Vision oder Wirklichkeit? „Evolution“ nennt Kornél Mundruczó seine neueste Kreation, die als letzte Musiktheaterpremiere am 5. September ihre Uraufführung auf der Ruhrtriennale in der Jahrhunderthalle in Bochum gefeiert hat. In drei zeitlich aufeinanderfolgenden Bildern entwickelt der künstlerische Leiter, Theaterregisseur und Mitgründer des freien Budapester Proton-Theaters die Handlung. Die Vergangenheit entdeckt ein Putztrupp. Er reinigt eine Sammeldusche und wird von der Vision einer Gaskammer heimgesucht. Im zweiten Bild, der Gegenwart zugeordnet, so Mundruczó, setzen sich Tochter und Mutter über das Jüdisch-sein auseinander und offenbaren sich dabei ihre Geschichten und ihre traumatischen Verletzungen. Im letzten Bild sorgt ein gigantischer Lichtstrahl aus den Tiefen der Jahrhunderthalle für Licht in einem Tunnel, in den der Sohn, bzw. Enkel mitsamt seinen Chatfreund*innen aufbricht, die ihre zuvor an einander ausgetestete Mobbingmaschinchen dabei haben, Mobilfunkgeräte. Ist das die Zukunft? (Von Sabine Weber)

(5.9.2019, Jahrhunderthalle, Bochum) György Ligetis „Requiem“ wird seinen Stempel als unheimliche Klangkulisse zu „2001 – Odyssee im Weltraum“ auch hier nicht los. Aber die gigantisch aufgefächerte mikropolyphone Riesenchorpartie mit den Bochumer Symphonikern, dem lettischen Staatschor und zwei hervorragenden Chorsolisten unter der Leitung von Steven Sloane leibhaftig zu erleben, ist doch an diesem Abend eine neue Sensation! Wie zu Anfang die beiden gestopften Posaunen in der Tiefe eine leise, undeutliche, aber reibende Spur legen. Die Vibrationen sind körperlich zu spüren, aus denen heraus tiefe Männerstimmen die „Requiem aeterna“-Worte so zerdehnen, dass sie von toten Wiedergängern zu kommen scheinen. Weiteres gestopftes Blech klettert aus der Tiefe in slow motion herauf, Kontrabässe reiben plötzlich noch dazu, der Frauenchor fädelt sich anfangs fast unhörbar und dann unaufhaltsam ein, fächert sich auf, die beiden Chorsolistinnen legen sich darüber und alles verharrt in einer gigantischen Starre, die einem Schrei ohne Laut gleich kommt. Ein dunkler Lobgesang flutet die riesige Jahrhunderthalle in Bochum bedrohlich, weil er sich dem Trostversprechen so völlig verweigert.

Das mag ein Grund dafür sein, warum diese Musik Kornél Mundruczó zu seiner Studie über postraumatische Störungen inspiriert hat. Und natürlich gilt Ligeti als Ungar, obwohl er aus Siebenbürgen kommt, das inzwischen zu Rumänien gehört.

Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker
Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker

Noch bevor die Musik loslegt und der Bühnenraum mit zwei weißen Torflügeln geschlossen ist, hört man Schritte über Metall, die unheimlich in den Raum hallen. Die Tore fahren nach rechts und links auseinander und zeigen eine vernebelte gekachelte Werk-Sammeldusche. Eine Tür geht auf und lässt Licht durchstrahlen. Wie Nosferatu steht ein Mann mit Eimer als Schattenumriss in der Tür. Er lässt die Gummihandschuhe flutschen, die ein irres Echo durch den Raum schicken. Bald sind es drei Männer in Schutzkleidung und mit Gummihandschuhen, die auf seltsam rituelle Weise den verdreckten Raum reinigen. Reinigungsmittel wird aus schwarzen Flaschen in derwischartigen Drehungen auf die Wand gesprüht, dann wird geschrubbt, bis plötzlich einer aus einem Loch Haare zieht, Haarwolle wie ein Knäuel aneinander. Immer mehr Haare kommen aus den Duschköpfen, unter den Matten hervor, bis ein bedrohlicher Haarberg da liegt. Und sofort wird die Gaskammer assoziiert. Eine Sammeldusche löst die Phobie einer Gaskammer aus und die Haarberge – man denkt sofort an die Haare der geschorenen Opfer – sind der konkrete Horror dazu. Als plötzlich ein Baby schreit sind Bilder aus David Lynchs Eraserhead sofort vor dem inneren Auge. Aber es ist Éva. Die in Auschwitz zur Welt gekommene Mutter, die im zweiten Bild hinter einer Containerähnlichen Häuserwand in einer häßlich-billig Wohnung in Budapest vegetiert. Ihre Tochter platzt hinein und beginnt einen Disput. Die Szene wird als Film auf die weißen Flügeltüren projiziert. Und erst viel später wird einem klar, dass der Film real in diesem Container gespielt und per Live-Cam übertragen wird.

Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker
Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker

Die Tochter fordert, endlich Jüdin sein zu dürfen und ihre jüdische Geburtsurkunde zu bekommen, weil sie, inzwischen in Deutschland als Alleinerziehende von ihrem Mann getrennt, als Holocaustopfer Unterstützung bekäme. Die Mutter hat mit allerhand Geburtsurkundenfälschungen das unterschlagen. Niemals dürfe doch zugeben werden, jüdisch zu sein! Es sei nie gut, auf Listen zu stehen, dann würde man abgeschlachtet! Und auch eine Nummer dürfe man nicht haben! Dann wäre man eingereiht. Es tut sich eine Schere zwischen der Mutter, der es immer noch ums Überleben geht, und der Tochter auf, die im hier und jetzt befreit leben will. Die Mutter führt immer wieder scheinbar groteske Geschichten ins Feld. Beispielsweise erzählt sie vom Karpfen, der für jüdisch erklärt worden sei, weil viele Juden ihn essen würden. Aber sie hätte jetzt keine Lust, für Karpfen einzutreten. Man hätte damals ja auch keine Lust gehabt, den Juden zu helfen… Die Textdialoge hat Theater- und Drehbuchautorin Kata Weber subtil darauf hin entwickelt, die offensichtlich kranke und medikamentenabhängige Mutter trotz ihrer scheinbar grotesken Handlungsmotivationen glaubhaft wirken zu lassen. Die angesichts ungeheurer Erlebnisse psychotische Mutter ist von Überlebensstrategien besessen, verweigert sich Emotionen und kann schlussendlich selbst der Tochter gegenüber keine Empathie zeigen. Um sie zu schützen!!! Lili Monori ist eine in Ungarn bekannte Filmschauspielerin, die schon mit Isabelle Huppert gedreht hat und bringt die gezeichnete Empathie-lose Mutter einem schlussendlich beklemmend nahe. Ebenso wie mit Annamarie Lang Lena, der Tochter mitgefühlt wird, die emotionalisiert aufbegehrt und sich doch nicht befreien kann. „Weil Du keine Kindheit hattest, durfte ich auch keine haben!“ … Wasserfluten stürzen aus Wänden und Schränken. Denn nur eine biblische Sintflut könnte dieses Trauma

Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker
Foto: Heinrich Brinkmöller-Becker

wegspülen. Der dritte Teil setzt die Evolution mit dem Enkel in einer Chatgruppe fort. Kurzbotschaften auf dem Mobilbildschirm werden auf die Flügeltüren projiziert. Es wird offensichtlich gemobbt. Erst ein Mädchen, dann Jonas, der Sohn, beziehungsweise Enkel, der als Pinocchio mit langer Nase lächerlich gemacht wird. Dass die Pinocchio-Nase jetzt eine Weiterdeutung der behaupteten jüdischen Hakennase sein soll, darf bezweifelt werden. Ausgrenzung geht allerdings immer weiter. Zum Schluss öffnet sich der Raum in einer gigantischen Lichtprojektion aus dem Hallenhintergrund. Nachdem im zweiten Teil Ausschnitte aus Ligetis Requiem lediglich als Filmmusik hergehalten hat, gewinnt sie jetzt noch einmal szenische Kraft. Der lettische Staatschor marschiert langsam von hinten aus dem Lichtstrahl nach vorne und schließt mit Ligetis Requiem Aeterna-Satz, vom Anfang des Requiems, einen großen Bogen ab. Die Kinder gehen dem Lichtstrahl entgegen, ihre Handys schwenkend. So gigantisch das letzte Bild ist, der gelbe Lichtstrahl öffnet sich sogar zur Lichtfläche mit galaktischen Nebelschwaden, Mundruczo hat offensichtlich keine Abschlussbotschaft, sondern zieht sich auf ein – zugegeben – gigantisch und beeindruckendes ästhetisches Bild zurück. Ligetis Requiem ist ja auch keine Trostmusik, sondern genau genommen eine große Klage. Der Abend wirkt nach, der unglaubliche lettische Staatschor, die Bochumer Symphoniker, die Schauspieler, das Mutter-Tochter-Drama.
Überleben gegen Leben wollen? Beides sollte zusammenkommen und allen Menschen immer garantiert sein!

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