„Das verratene Meer“: Am Ende gefriert das Bild über dem Anführer einer Jungs-Gang, der gleich den „Seemann, der die See verriet“ – so der deutsche Titel des Mishima-Romans „Gogo no Eiko“ – mit einem Hammer erschlägt. Black out und – Stille. Nacheinander Auftritt der sieben Sänger sowie einer Sängerin und – Stille. Zuletzt kommt Dirigentin Simone Young auf die Bühne und fordert ihre Musiker im Graben auf, aufzustehen. Da gibt es ein paar Geräusche, und wieder – Stille. (Von Klaus Kalchschmid)
(14. Dezember 2020, Staatsoper Wien, Live-Stream) Gespenstisch! Weil dieser Abend so dicht und intensiv ist, hat man fast vergessen, dass er unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfand, aber immerhin: Er hat stattgefunden. Die Produktion von „Das verratene Meer“ mit Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito im Bühnen- und Kostümbild von Anna Viebrock hat Premierenreife erreicht. Sie wird hoffentlich auch irgendwann vor Publikum gespielt werden.
Stück wie Vertonung, sowie musikalische und szenische Umsetzung hätten das verdient.
Das ist für die Jungen sein Todesurteil!
Der Roman Mishimas entstand im Jahr 1963 und wurde 1976 unter dem Titel The Sailor Who Fell from Grace with the Sea verfilmt. Er handelt von einem 13-jährigen Jungen, Noboru (Josh Lovell), der im sexuellen Erwachen die Mutter Fusako Kuroda (Vera-Lotte Boecker) als Objekt der Begierde entdeckt und durch ein Guckloch allein in ihrem Schlafzimmer beobachtet; aber auch mit ihrem Liebhaber Ryuji Tsukazaki (Bo Skovhus), Offizier eines großen Frachtschiffs. Er ist für den Jungen, der sich ebenfalls in ihn verliebt, Rivale, aber auch väterlicher Kumpel. Denn Fusako und Ryuji wollen heiraten. Mit vier weiteren Jungs seiner Gang, dem namenlosen Anführer (Erik Van Heyningen) und drei weiteren (Kangmin Justin Kim, Stefan Astakhov und Martin Häßler) trifft Noburu Ryujii. Während dieser betäubenden Tee trinkt, gesteht er, dass er Seemann nicht aus Liebe zum Meer wurde, sondern „weil ich das Land hasste.“ Das ist für die Jungen sein Todesurteil.
Intensive „Verwandlungsmusiken“ in Henzes überarbeiteter Fassung von 2005
Henzes Musik setzt formal in Sprechgesang und Reihentechnik, im expressiven Ausdruck und der sinnlichen Klangfülle bei den Opern Alban Bergs an. Und Henze komponiert die intensivste, reichste Musik in den zahlreichen „Verwandlungsmusiken“. Sie können auf offener Szene stattfinden, weil die rätselhaft vielschichtige Bühne Anna Viebrocks, deren Elemente sich oft geisterhaft verschieben, alles sein kann: ein Schiff, Schlafzimmer, eine Boutique, Hafengelände. Gespielt wird die gegenüber der ursprünglichen Version von 1990 etwas längere Fassung von 2005. Allerdings nicht auf Japanisch, sondern wie die Urfassung auf Deutsch. Simone Young: „Wir finden sie insgesamt schlüssiger, musikalisch interessanter. Nicht zuletzt für die zahlreichen phänomenalen Zwischenspiele, genauer: Verwandlungsmusiken, nahm sich der reifere Henze mehr Zeit – insbesondere die leisen und zarten, nachdenklichen, sparsam orchestrierten Passagen bekamen ein größeres Gewicht.“
Wieler/Morabito und Anna Viebrock zeigen die sechs Jungs (in den Stimmcharakteren Altus über Tenor, Bariton bis zum Bass) mit seltsam künstlich wirkenden Perücken als Gang der 1960er Jahre. Das verleiht ihnen die Gefährlichkeit nicht ganz menschlicher Wesen wie aus Science-Fiction-Filmen dieser Zeit. Gerade ihrem Anführer gibt Erik Van Heyningen mit schillernd verführerischem Bariton optisch wie musikalisch aufreizende Gefährlichkeit. Allein sechs der vierzehn Szenen gehören diesen sechs Heranwachsenden, die sich gegenseitig zu immer mehr Brutalität anstacheln. Wie sie da an der Reling lümmeln, lauernd beobachten, sich immer mal wieder musikalisch im Ensemble finden – das besitzt große Spannung. Oft bemalt der junge kanadische Tenor Josh Lovell als halbwüchsiger Noboru im Schlafanzug seinen nackten Oberkörper mit allerlei Schrift-Zeichen oder einem Anker, als wollte er sich tätowieren und seiner Liebe zum Liebhaber seiner Mutter bildhaften Ausdruck geben.
Bo Skohvus ist mit männlich-herbem Gesichtsausdruck und ebensolcher Stimme das rechte Objekt der jungmännlichen wie der weiblichen Begierde. Seine Szenen mit der Mutter des Jungen sind deutlich und doch immer mit Dezenz inszeniert, wie auch japanisches Idiom, etwa in den Kostümen, Zitat bleibt.
Vera-Lotte Boecker ist eine Idealbesetzung als Fusako: Die große Solo-Szene kurz vor Schluss, wenn sie in ihrer Modeboutique vom Hochzeitskleid und ihrer Verbindung mit Ryuji träumt, ist eine famos gestaltete Koloraturarie.
Schade, dass die Aufführung nur 24 Stunden online war. Am 21.Dezember (19 Uhr) gibt es eine Wiederholung des Premieren-Streams auf der Staatsopernseite, die wieder 24 Stunden on demand sein wird.