Keinesfalls neobarock! Andreas Staier hat komponiert

Andreas Staier ist ein, wenn nicht der führende deutsche Experte für und Virtuose auf historischen Tasteninstrumenten. Seine Programme für Cembalo, Hammerflügel oder Pianoforte sind immer fein durchdacht, unerwartet kontextualisiert und musikwissenschaftlich kompetent durchdrungen. Schon manche Belegschaft von wie vielen Plattenfirmen hat Staier überlebt. Seit 2004 ist er bei Harmonia Mundi France unter Vertrag und legt immer wieder neue Wege frei. In naher Ferne sogar Neue Musik mit komponierten Cembalo-Piècen. Am 4. Januar 2023 findet die Welturaufführung von „Anklänge an Bachs Präludium und Fuge BWV 878“ in der Kölner Philharmonie statt, mit ihm am Cembalo. Klassikfavori hat Andreas Staier besucht, um mehr über seine Neue-Musik-Ambitionen herauszufinden und natürlich zu erfahren, warum Johann Sebastian Bach Pate gestanden hat.

Also das ist Deine Hexenküche! Und erst einmal darf ich über die Instrumente staunen, die in deinem Atelier verteilt stehen. Das rote Cembalo ist geöffnet und spielbereit. Ich nehme an, darauf wirst Du Deine Komposition spielen…

Richtig. Da ist ein Hass, ein Nachbau von Hieronymus Albrecht Hass aus Hamburg. Das Original ist von 1734. Hass baute die Cembali mit den meisten Registern. Es gibt sogar von ihm eines mit drei Manualen. Dieses hat zwei, jeweils einen 8-Fuß, und auf dem oberen gibt es auch ein „Nasalregister“, wo ganz nah am Steg die Saite angezupft wird (spielt vor). Dann gibt es noch einen 4-Fuß und einen 16-Fuß. Es gibt nicht allzu viele Cembali, die einen 16-Fuß haben. Ein paar mitteldeutsche gibt es. Das berühmt-berüchtigte Bachcembalo, das im Berliner Museum war, das war mal ein Kultinstrument, was inzwischen nicht mehr so ist, aber man hat daran so viel rumgebastelt, dass es irgendwann einen 16-Fuß hatte. Man kann nicht mehr genau sagen, wie es ursprünglich mal disponiert war. Die Cembali mit 16-Fuß sollten jedenfalls so orgelartig wie möglich klingen, ein plein jeu wie auf der Orgel.

Also ist das ein Modell in Richtung konzertierendes Cembalo vor Orchester?

Es hat eine ganz andere Klangästhetik als die Italienischen und Französischen. Man kann nicht sagen, dass je mehr Register, umso mehr Klang da ist. Denn bei mehr Registern braucht es einen dickeren Resonanzboden, der schwingt wieder weniger. Es ist also nicht eine Frage der Lautstärke, sondern eine der Farbigkeit.

Was für Dein Spiel steht, das unter anderem wegen seiner Klangfarbigkeit gelobt wird! Du wirst demnächst Neue Musik spielen. Und ich verstehe jetzt auch, warum ich Dich in der Kölner Philharmonie so häufig nach Neue-Musik-Konzerten getroffen habe. Da hast Du dann gern süffisant geantwortet: Interessiert mich! Seit wann gibt es denn bei Dir dieses Interesse?

Das gibt es schon lange. Ich geh in der Tat häufiger in Konzerte mit Neuer Musik als mit klassischer Musik. Ich habe nie ein brennendes Interesse dafür gehabt, zum 20. Mal die Fünfte zu hören und Dirigent x mit Dirigent y und z zu vergleichen. Für mich war das Verstehen, was im Inneren Musik zusammenhält oder wie sie gemacht ist, immer wichtiger als Interpretationsvergleiche. Ich finde es schön in ein Konzert zu gehen, gucke kurz ins Programm nach den Komponisten oder Komponistinnen und habe nicht die leiseste Ahnung, ob ich mich gleich furchtbar ärgere oder begeistert oder gelangweilt sein werde, oder ob es eine Mischung mit weiteren Ingredienzien ist. Das ist übrigens eine Situation, die im 18 Jahrhundert die Regel war. Man hörte Musik, die neu geschrieben war. Und wenn sie großbesetzt war, bei bestimmten Orchesterwerken, Oratorien oder Opern, da ist das Publikum mit dem Bewusstsein rein gegangen, das werde ich nur dieses eine Mal in meinem Leben hören können. Das schärft die Sinne und gibt eine Neugier. Nichts gegen Matthäuspassion oder Beethovens Fünfte. Aber wenn man das schon auswendig singen kann …, ich sage ja nicht, dass man das nicht hören soll. Aber Neue Musik ist da ein anderes Hören. Kurz gesagt, diese Neugier und dieses Sich-Überraschen-lassen fand ich immer was schönes. Und, das geht jetzt über das Musikalische hinaus, ich finde, die Neugier ist eine der schönsten Eigenschaften des Menschen!

Andreas Staier in seinem Studio. Foto: Sabine Weber

Vor Ewigkeiten war hier in Köln ja noch viel mehr los in der der Neuen-Musik-Szene. Da habe ich Werke von befreundeten Komponistinnen und Komponisten uraufgeführt. Aber ich habe dann gedacht, wenn ich mir nur diese Werke für Tasteninstrumente aneigne, die so unglaublich schwer zu lernen sind, da werde ich wahnsinnig. Ich bleibe mal schön in meiner barocken klassischen Musik und mache das nur als Exkursion. Aber bei den Exkursionen habe ich immer sehr viel gelernt. Es gibt Pianisten, die das können und die ich wahnsinnig bewundere wie Nicolas Hodges oder auch Pierre-Laurent Aimard. Die haben einfach Dutzende, Hunderte von neuen Stücken aufgeführt. Oder das Arditti Quartet. Das könnte ich nervlich nicht. Ich würde mich zu sehr aufregen. So bin ich innerlich hin und her gerissen zwischen den Welten.

Du hast eben gesagt, dass Du dabei was lernst, lernst Du auch was für die Alte Musik?

Das finde ich sehr schwer zu sagen. Es sind nicht Dinge, wo ich dann sagen kann, „Ah, jetzt spiele ich Takt 15 anders“, was ich ohne die Kenntnis nicht getan hätte. Es ist eher das Öffnen einer Tür. Oder die Möglichkeit, ein paar Schritte zurück zutreten und sich zu fragen, wie wirkt das denn mit einem Abstand. Es ist eher eine perspektivische Sache, und die ist schon interessant.

Bevor wir auf die „Anklänge an Bachs Präludium und Fuge BWV 878“ zu sprechen kommen, die Gretchenfrage: Hast Du schon einmal etwas vorher fertig komponiert oder sind diese „Anklänge“, sechs Stücke insgesamt, Dein Opus 1?

Also „fertig“ nicht in dem Sinne, dass ich das Fertige auf die Menschheit loslassen wollte. Fertig geworden sind Stücke schon. Aber damit wollte ich niemanden beglücken. (Lacht) Das war so eine Ferienbeschäftigung, wenn ich Zeit hatte, dann ging ich mit den Sachen spazieren. Die aktuellen Stücke gehen auf viele Gespräche zurück, die ich mit Komponist Brice Pauset und Komponistin Isabel Mundry geführt habe und noch ein paar anderen. Die beiden sind aber die wichtigsten. Und dann dachte ich, naja dann mache ich mal was. Es war aber nie geplant, dass ich jetzt sechs Stücke schreiben werden oder nur eins. Das war eine Frucht der zahlreichen Lockdowns, die es mir ermöglichten, einen riesigen Berg von Zetteln zu sichten…

Kompositionsskizzen?

die in den Ferien entstanden. Im Alltag ging es nicht. Mir war das jedenfalls nicht möglich. Ich brauchte immer so lange, um rein zu kommen. Ich musste auch ziemlich viel Zeit damit zubringen, meine Gedankengänge aus den letzten Jahren wieder zu verstehen. Schließlich wurde die Komposition dann doch fertig. Und dann habe ich sie an die beiden geschickt. Und durchgesprochen. Man fühlt sich da wie ein kleiner Junge, der AA gemacht hat und zu seiner Mama geht. Ich hatte ehrlich keine Ahnung, ob das jetzt lächerlich sein würde. Das kann man selbst am wenigstens beurteilen. Die Kommentare waren sehr ermutigend. Und… das letzte ist fertig geworden am…

25. Oktober…!

Du weißt es besser: 2020 sind sie fertig geworden.

Steht ganz unten auf Deinen Noten. Nehme mal an, das ist das Fertigstellungsdatum.

Die letzte Seite aus „Anklänge an Bachs Präludium und Fuge E-dur …” von Andreas Staier

Dann wurde noch Korrekturgelesen, das war ziemlich zum Mäusemelken, bei Klaviermusik oder Tastenmusik ist einfach soviel Information. Bis die Fehler raus waren, das hat gedauert. Und dann habe ich es im Oktober dieses Jahr aufgenommen. Als ich für die Aufnahme dann doch nach einer Pause von zwei Jahren die Stücke wieder vornahm und mich fragte, wirst Du die blöd finden oder akzeptabel, fand ich sie zu meiner Erleichterung akzeptabel… (Lacht)

Johann Sebastian Bach hast Du immer wieder wie einen Bastler im Staub der eigenen Werkstatt auseinandergenommen. Du hast seine Werke genau analysiert. Untersucht, wie Bach vorgegangen ist, wenn er Werke anderer verarbeitet hat, beispielsweise Johann Adam Reinken. Bach hast Du dann 1998 auch selbst bearbeitet, nachzuhören auf einer Teldec-Scheibe – Das Alte Werk. Und jetzt ist Bach Dein Sprungbrett für eine eigene Komposition. Zumindest legt das der Titel nah:

Anklänge an Bachs Präludium und Fuge in E-dur…“ aus dem Wohltemperierten Klavier II. Warum hat ausgerechnet dieses Präludium-Fugen-Doppel Deine kompositorischen Ambitionen herausgefordert. Gibt es da etwas Besonderes?

Wenn ich ein Paar aus beiden Bänden des Wohltemperierten Klaviers auf eine Insel mitnehmen dürfte, dann wäre es unbedingt dieses in E-dur, das ich einfach am liebsten mag. Ein ganz wunderbares Produkt des späten Bachs, der im zweiten Teil des WK eine noch größere stilistische Bandbreite zeigt als im ersten Teil schon. Und das Präludium ist ein so galantes Stück, und die Fuge ist das reinstes Beispiel im Palestrina-Stil, das Bach je geschrieben hat. Die liegen beide stilistisch mehr als 200 Jahre auseinander. Und ergänzen sich trotzdem so großartig. Ich liebe es. Ich war dann noch einmal besonders charmiert, weil ich zufällig einen späten Rundfunkbeitrag von Theodor W. Adorno über „Schöne Stellen“ entdeckt habe, den hat er für den hessischen Rundfunk mal gesprochen. Er musste natürlich zuerst sagen, dass „Schöne Stellen“ einfach so herauszugreifen, das wäre so, wie man Musik nicht hören sollte. Denn man verzichte auf Kontext, Struktur und Beziehungsreichtum zugunsten eines „masturbativen Missbrauchs“ von schönen Stellen, die man so schön findet, wie man sich in die Badewanne legt. Dann zählt er aber widerwillig doch einige Beispiele auf. Da kommt das Ende genau dieser E-dur-Fuge vor. Und ich dachte, „Adorno, das finde ich jetzt nett, dass für Dich auch diese E-dur-Fuge so schön ist“. Es es ist, glaube ich, das einzige Beispiel von Bach, das Adorno bringt. Der Text hat keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Aber ich habe mich dann gefreut. Ich bin nicht der einzige.

Akkorde haben ja schon Geschichte geschrieben. Der Mystische Akkord, der Tristan-Akkord. Deiner Komposition liegen sechs Akkorde zugrunde. Wie Du im Vorwort zum geplanten Notendruck schreibst. Was sind das für Akkorde?

Wie hast Du sie gebildet, bzw. gefunden?

Andreas Staier. Foto: Sabine Weber

Es hat sich manches so ergeben. Präludium und Fuge… Vielleicht spiele ich das an. Das Präludium fängt mit einer Figur an (spielt) … Quinte, Sexte, bzw. eine große Sekunde. Die Fuge fängt eigentlich mit der gleichen Konstellation an (spielt). In der Fuge sind nur die Tonhöhen vertauscht. Da ist es eine große Sekunde und ein Quarte über dem Grundton. Ich will nicht zu detailliert sein.

Du hast die Akkorde schon aus dem Bach herausgezogen?

Die sind aus dem Bach herausgezogen, und als ich mitten in der Arbeit war, fanden sich noch Sachen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Im Grunde genommen zieht sich diese Dreitonkonstellation durch alle sechs Stücke in unterschiedlicher Weise…

(Spielt die sechs Akkorde) … Da ist die Konstellation… (spielt), neben den drei Tönen gibt es noch drei andere. Der zweite Akkord ist der (spielt), der hat wieder noch drei andere Töne. Der dritte ähnelt dem ersten. Hat auch wieder die Konstellation. Der vierte… der fünfte… Der sechste…

Also Du hast in Intervallen gedacht?

Es gibt eine Reihenfolge, die sich durch Strukturmerkmale ergibt. Es ist eine Alternation von symmetrischen und nichtsymmetrischen Akkorden. Symmetrischer Akkord ist, wenn Du von oben wie von unten anfängst, da gibt es dieselben Intervalle. Wenn du den symmetrischen spiegelst, bekommst du den selben Akkord.

Also in der Mittelachse spiegelst!

Der zweite, vierte und sechste ist symmetrisch, die anderen sind unsymmetrisch. Dann gibt es noch einen… eingebauten kleinen Fehler. In den sechs Akkorden kommt eine Note nicht vor von 12 Tönen. Das cis. Wie zaubere ich eine Note hervor, die es nicht gibt? Das cis spielt dann irgendwie als fehlende Note eine wichtige Rolle. Kommt vor…! Aber musste erstmal erzeugt werden.

Du hast schon Geschichten dabei. Also denkst nicht nur strukturell. Die geheimnisvolle cis-Note, ist ja immerhin die parallele Molltonart, wenn man tonal denkt…

Es gibt immer wieder Bezüge. Die dritte Note, die im Präludium erklingt, erste und zweite sind die Quinte von E-dur. Sie gehören zur Tonart E-dur. Die dritte Note ist das cis!

Es gibt die unterschiedlichsten Herangehensweisen an diese Stücke. Wichtig ist zu bemerken, dass es nie beabsichtigt war, dass sie Neobarock klingen sollten. Ich fand die Herangehensweisen für mich spannend. Das ist ’ne ganz andere Sache. Man hat eine Vorstellung, wie man etwas gern hätte und wie man das dann realisiert. Und ich glaube, da steckt in mir ein Pedant. Und um die Pedanterie unter Kontrolle zu kriegen, habe ich mir Fragen gestellt. Ich will nicht einfach ein paar schräge Noten spielen. Aber wenn ich das für mich rechtfertige, dann komme ich in so etwas wie eine Zwangsneurose. Irgendwie war es auch eine Entdeckungsreise in meine eigene musikalische Persönlichkeit. Das Stück, das zuerst fertig war, das war schon ewig fertig, das ist zufällig das Fünfte…

Das sehr motorische Stück!

Genau. Und das hat Spielregeln, die vorher genau festgelegt sind, so dass es nix Zufälliges in dem Stück gibt. Alles läuft nach einem Plan ab, könnte auch nicht länger sein. Nichts in diesem Stück ist spontane Entscheidung… Das ist in den anderen Stücken ganz anders.

Bis auf den Moment, es ist ja ein Krebsgang, wo Du es dann rumdrehst. Es geht los und dreht sich dann im Takt…

Es dreht sich…

den habe ich aber nicht gefunden, den Takt!

Es ist auch nicht ein ganz wörtlicher Krebsgang, ein Krebsgang von den Akkordkonstellationen, nicht von den Tönen her.

Ist bei Takt 24 ungefähr?

Ist ziemlich genau in der Mitte…

Es sind 48 Takte, ich bin da dann auch ein Pedant und zähle mal nach (Lachen).

Das kommt auch aus dem Bachpräludium, das hat zwei Teile wie erwähnt. Der erste Teil hat 24 Takte und der zweite 30. Die stehen im Längenverhältnis 5 : 6. Bestimmte Proportionen im Großen hängen an solchen Proportionen. Der zweite ist ein 6tel länger als der erste, und daraus folgt eine Menge, auch bei Bach schon. Ich fand es interessant, wie ich einen Gedanken darstelle, dass er atmet und erfreulich ist und nicht am Systemzwang erstickt.

Das war eine Aufgabe, die Du Dir persönlich gestellt hast?

An einigen Ecken habe ich immer wieder gedacht, das ist doch furztrocken hier, da muss was von außen rein kommen. Aber was? Es stehen ja in jedem Moment eine Unendlichkeit an Möglichkeiten zur Verfügung. Und ich habe ja kein Metier, ich habe nie richtig Kompositionsunterricht gehabt. Das war also ein autodidaktischer Prozess, eben wie wird das, wenn ich da selbst Noten fabriziere, wie soll das werden?

Gab es auch einmal den Moment, Du denkst ja schon eher schematisch oder strukturiert, der Überraschung – dass du etwas „konstruierst“ nach den Regeln der Kunst und dann überrascht das Klangergebnis?

Ja, und sowohl in beiden Richtungen. Viel schöner als erwartet oder auch Nein…

Ein Beispiel?

Da müsste ich jetzt die Zettel hervorkramen, die habe ich aber verbrannt. Als ich fertig war, habe ich einen Großteil weg geschmissen. Es war ein reinigendes Feuer. Es gab ein paar Sackgassen, wo ich dachte, hier komme ich jetzt nicht weiter. Es muss anders werden. Aber das kann ich nicht anspielen, weil es betrifft das ganze Stück. Das Vierte ist das längste, das chaotischste, das inhaltsreichste, da dachte ich, jetzt muss ich ein Element einführen, das dem Ganzen Stabilität gibt, sich nicht ständig verändert, sondern so ist und so bleibt für ein paar Momente. Das sind die glockenartigen Dinge, wo Akkorde feststehen und rhythmisiert erklingen, so wie jede Glocke ihr eigenes Tempo hat, aber der Tonvorrat bleibt derselbe. An manchen Stellen ist irgend etwas zu viel oder zu wenig. Und es ist einem nicht gleich klar, woran das Ganze krankt. Das fand ich interessant. So hört man eine Beethovensonate nie, weil man weiß immer schon, wie sie zuende geht.

Aber Beethoven hatte irgendwann sicherlich auch solche Fragen… Nicht, dass ich mich jetzt mit Beethoven vergleichen will…

Mal an den Punkt zu kommen, wo man existentiell spürt in einem Stück, wie das Entstehen geht und auch hakt…

Was mir beim Hören des ersten Stückes sofort aufgefallen ist, dass das Klingen und Verklingen von Tönen ein besonderes Erlebnis ist. Das Verklingen ist ja auf dem Cembalo klanglich ein besonderer Moment, der in – angeblich – Deinen Lieblingsstücken Tombeau de M. de Blancrocher von Louis Couperin Bedeutung hat. Ist das Verklingen hier auch wieder ein Thema? Mit Hintersinn?

Ohne Zweifel. Das Cembalo ist par excellence ein Instrument, wo Verklingen ganz deutlich spürbar stattfindet. Auf unterschiedliche Weise verklingt. Wenn Du einen Klang, Akkord oder einzelne Note aktiv wegnimmst, gibt es beim Cembalo diesen artikulatorischen Klick, wenn der Dämpfer auf die Saite fällt und der Kiel vorbei rutscht in die Null-Postion. Der Klick, der Töne beendet, der aktiviert das ganze Thema des Verklingens. Du kannst die Finger natürlich auch immer so auf den Tasten liegen lassen, dass Du diesen Artikulationsklick nicht hast. Das erste Stück arbeitet sehr damit, das ewig lange Durchgehalten wird, bis man sie nicht mehr hört oder das Zudeckens eines Tones durch einen neuen Ton. Das Artikulierte und das Nicht-Artikulierte ist eines der wichtigen Themen in diesem ersten Stück.

Verbindest Du mit den Stücken denn auch mal Geschichten? Vorstellungen, Bilder?

Natürlich jede Menge. Klar. Aber das, finde ich, gehört in die Privatkiste. Ich finde es schwierig, egal um welche Musik es geht, wenn man den Leuten vorkaut, was sie empfinden sollen. Darum geht es nicht, sondern darum, dass sie sich bestimmten Eindrücken aussetzen und schauen, was passiert. Es geht nicht darum, dass „Schau doch mal, wie traurig es von Takt 20 bis 25 ist“, vorgekaut wird. Ich glaube, das muss jeder mit sich selbst ausmachen.

Selber die Geschichten finden, wobei wir ja wieder bei dem wären, was Du bei der Neuen Musik für Dich beschrieben hast. Die Neugierde, etwas Neues zu erleben, weil Du nicht weißt, wie es anfängt und aufhört.

War denn dieses Verklingen auch ein Grund, warum Du das Cembalo und nicht den Hammerflügel gewählt hast?

Der Hauptgrund war das Präludium und die Fuge E-dur, das sind Cembalowerke. Ich würde natürlich niemandem verbieten, es auf einem modernen Flügel zu spielen. Aber es ist doch eher ein Cembalowerk als ein Hammerklavier- oder Clavichordwerk. Darüber ist viel geschrieben und gestritten worden. Da müssen wir jetzt nicht drauf eingehen. Es ist auch meine Präferenz, und ich bin da auch relativ zuversichtlich, dass es in erster Linie für Cembalo gedacht ist. Der ganze Stapel von Präludien und Fugen. Sicher diese mit der Palestrina-artigen Fuge, die ist nicht denkbar auf dem Klavier, für mich jedenfalls nicht. Als ich mir vornahm, ich bastle mal so ein bisschen am Bach herum, war die Instrumentenwahl sofort beantwortet.

Zur Notation: Dein Pausen-Management ist auffällig. Wir haben vom Klingen gesprochen und dem besonderen Moment des Anreißens des Springers. Du hast aber auch eine besondere Notation erfunden, mit runder Klammer, eckiger Umrahmung und ohne Klammer/Umrahmung. Da bist Du auch ein Pedant, oder?

Diese Art von Genauigkeit der Notierung gibt es seit dem vorigen Jahrhundert. Da bin ich nicht der Einzige. Ich fand es gar nicht so leicht. Es betrifft wieder das erste Stück. Du willst eine Note haben, die lange klingt. Normalerweise mit Überbindungsbogen, über ein bis fünf Takte. Die normale Notation hätte dazu geführt, dass Du immer ganz viele ganze Noten mit Überbindungen gehabt hättest, und eine unglaubliche Überzahl von Noten auf dem Papier, die vor langer Zeit angeschlagen wurden. Da siehst Du den Wald vor lauter Bäumen nicht, weil durch die übergebundenen Noten du die Noten, die neu angeschlagen werden, nicht mehr erkennst. Und da habe ich gedacht, ich muss irgend etwas tun, um klar zu machen, da ist die Note, die neu dazu kommt, oder andere Noten, und anzudeuten, die anderen werden trotzdem gehalten. Das ging dann über irgendwelche Bögen, die über mehrere Takte gehen können. Das ist keine Erfindung, die mich stolz macht. Es geht nicht anders. Die normale Alternative wäre unleserlich. Und eine Notation ist eine pragmatische Geschichte, sie soll so einfach sein wie unter obwaltenden Bedingungen möglich.

Du stellst Dir also auch vor, dass andere Deine Stücke nachspielen werden?

Es soll so notiert werden, dass jemand daraus schlau wird.

Differenzierter Klang! Wurde bei Dir ja hochgelobt für die Aufnahme des WK II mit nur einem Instrument. Dazu gehören auch die Registrierungen, die auf Deinem Cembalo ja möglich sind. Eine Spielweise habe ich nicht verstanden: Rautenförmige weiße Noten auf oberem Manual bedeuten, es wird ein Ton oben gedrückt, der unten schon gehalten wird. Was ist das für ein Effekt?

Das hängt mit dem Thema des unterschiedlichen Verklingens zusammen. Ein Cembalo hat verschiedene Register, 8-Fuß, 4-Fuß – eine Oktave höher, 16-Fuß, eine Oktave tiefer, den Lautenzug. Du kannst die Manuale koppeln. Das kleine Manual oben, Franzosen nennen das petit jeu, an das untere durch Schieben dran hängen. Wenn Du „gekoppelt“ spielst, das Kleinere ans Größere hängt, spielst Du auf dem unterem Hauptmanual und die Taste, die Du drückst, lässt auch den Ton auf dem oberen Manual erklingen. Du drückst die gekoppelte oben mit dem unteren Manual mit. Dann drückst Du die oben stumm, während Du unten loslässt, dann hast Du unten etwas, das aufhört, auf dem unteren Register, und oben klingt es weiter… (spielt) ich drücke dieselben Töne oben, wenn ich die unten wegnehme, klingen die oben weiter. Die Möglichkeit, einen Akkord zu beenden UND weiterklingen zu lassen. Das ist aber kein spektakulärer Aspekt…

Aber ein feiner Moment

Ich hatte jedenfalls damit Spaß. Du kannst etwas tun, was nicht möglich ist. Durch die Zweimanualigkeit kannst Du einen Akkord beenden und weiter spielen!

Der kriegt dann sogar einen Kick!

Ja der kriegt dann so ein starkes Echo, es kommt ein wowowo hinterher. Es ist in der tiefen Oktave dann nochmal anders als in der Höhe.

Da spricht der klangsensible Experimentator! Der solche Techniken bei Bach aber nicht anwendet – oder vielleicht doch?

Ne, das geht nicht bei Bach…

Was mir auch aufgefallen ist, so etwas wie Oktaven (4. Stück, Un poco più lento del Preludio). Oder Tonwiederholungen oder tonale Motive wie fis-gis-a oder Terzendoppel fis-a und gis-h (Campane II), die fallen sofort auf. Wie bist Du mit Tonalität umgegangen?

Auf unterschiedliche Weise. In dem vierten Stück ist es tatsächlich so, dass durch das Stück gestreut Schnipsel aus dem Präludium erklingen…

Wozu auch die Oktaven gehören, die sind ja auch in dem Präludium…

Die Oktaven spielen auch immer wieder eine Rolle… (spielt) das Pulsieren… kommt im Präludium vor…

Dieses Pulsieren zieht sich als Leitmotiv durch die Stücke. Im zweiten Stück ist es auf dem nicht vorhandenen cis, das es nicht geben dürfte…

Im zweiten Stück habe ich auch einmal den Gnomus aus Bilder einer Ausstellung gehört…

Wie gesagt, Jeder und jede darf assoziieren, dass die Schwarte kracht (lacht). Übrigens eine Klangeigenschaft, die das Cembalo im Gegensatz zum modernen Klavier hat, ist, dass die tiefste Lage anders klingt. Wenn man tief Cluster für den modernen Flügel schreibt, klingt das mulmig und ist nicht mehr durchzuhören. Auf dem Cembalo ist das viel transparenter. Aber man kann trotzdem auch mit dem Unverständlichen spielen, sodass nur noch eine Klangmasse zu hören ist, und nur ein paar Töne zu identifizieren sind. Im vierten Stück gibt es immer wieder Momente der völligen oder fast völligen oder nicht so großen Verständlichkeit von tiefen Klängen.

Wieviel Schubert, Mozart, Beethoven, Brice Pauset steckt eigentlich im Stück? Der eine tiefe Triller hat mich an die posthume B-dur Sonate von Schubert erinnert

Da habe ich noch nicht dran gedacht. Es steckt ne Menge auf den unterschiedlichsten Ebenen der Bach-E-durStücke drin. Die Handschrift von Brice Pauset kenne ich inzwischen sehr gut, aber ich kann nicht viel dazu sagen. Ich hoffe, dass ich nichts unabsichtlich abgekupfert habe.

Das letztes Stück ist eine Liebeserklärung an Bach und ein Tagebuch. Ist das zarte Motiv e-h-a die Liebeserklärung? Nach einem Wutausbruch?

Vielleicht…!

…entnehme Deinem süffisanten Lächeln, dass ich das wieder für mich entscheiden darf. Bei den Tempoüberschriften, die Du den Stücken gegeben hast, habe ich an die gedacht, die Busoni in seiner Bearbeitung des WK über die Stücke gesetzt hat. Wie bist Du auf die Tempoüberschriften gekommen? Vorher oder hinterher?

Hinterher. Ich habe dann auch lange überlegt, ob ich Metronomangaben machen soll, da solche Stücke so wenig selbstverständlich sind. Bei einem Rondo-Allegro von Mozart weiß der halbwegs versierte Spieler sofort, das ist so und so schnell. Das weißt Du bei dieser Musik nicht, Ich gebe also ein paar Metronomzahlen mit. Aber wie man damit umgeht, bleibt der Interpretierenden natürlich überlassen.

Im Konzert spielst Du das E-dur-Präludium und Fuge nach der UA. Und hast dieses Doppel auch nochmals für die CD in spe mit Deiner neuen Musik eingespielt. Nach der kompositorischen Auseinandersetzung, spielst Du das Bach-Doppel jetzt anders?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich hab so ausgedehnte Strandspaziergänge und sonstwas gemacht mit diesen Stücken und auch den Bach gemacht, dass ich nicht sagen kann, ob ich die anders spiele. Ich habe die so assimiliert, dass ich den Abstand nicht habe, um die Frage zu beantworten. Also ich bin nie mit einem Stück so auf diese Weise umgegangen. Dass ich immer in meinem Leben dran gedacht habe, an bestimmte Facetten, ich kann es nicht genauer sagen oder vergleichen. Und ob ich jetzt irgendetwas anders höre, ist unmöglich zu sagen, weil ich nie aufgehört habe, es zu hören. Wenn ich es mal zehn Jahre komplett vergessen würde, könnte ich die Frage beantworten.

Wir müssen noch einen Spiritus rector ansprechen. Dem Komponisten Brice Pauset hast Du Deine Komposition gewidmet. Euch beide habe ich 2020 in Dijon getroffen. Vor der Uraufführung seiner Kafka-Oper sind wir uns in einem Kaffee über den Weg gelaufen, und ich habe mich gefragt, wieso ist Andreas Staier in Dijon zur Welturaufführung von Brice Pauset und sitzt mit ihm im Kaffee? Da wusste ich noch nicht, dass Pauset und Du, Ihr beide Freunde seid. Seit mindestens 2004, da hat der WDR-Redakteur Harry Vogt eine CD herausgegeben, mit Euch beiden. Du als Solist, Pauset als Komponist. Hat er Euch zusammengebracht?

TELDEC, 2000, 573-80676-2

Die Uraufführung war 2000 oder 2001. Es ist lange her. Harry Vogt kontaktiert mich, und fragte, ob ich Lust hätte, ein Stück zu spielen, das Brice Pauset schreiben solle. Er hat viel mit alten Instrumenten zu tun, das war die Assoziation. Da habe ich gesagt, ich würde ihn gern treffen, bevor ich die Frage endgültig bejahe. Damals lebte er in Paris, jetzt in Freiburg, in Paris haben wir uns getroffen. Und ich fand ihn sehr sympathisch und dann habe ich gesagt, ich mache es. Mir war sofort klar, dass das eine Arbeit zum Mäusemelken würde.

Brice Pausets Kontrasonate einzuüben?

Chopin-Etüden sind technisch schwieriger. Aber bis man die Noten in der Birne hat, das ist für jemanden, der das nicht tagtäglich macht, schauderhaft…

Wir reden nicht über den Stundenlohn …

Wir reden nicht über den Stundenlohn, das tun wir besser nicht. Wie gesagt, ich fand es interessant. Ich hatte drei Perioden, wo ich Pausets Kontrasonate ein paar mal wieder gespielt habe. Kontrasonate heißt das Stück deshalb, weil es eine Schubertsonate umrahmt. Die viersätzige a-moll. Die Große a-moll DW 845, es ist die erste in a-moll, die er geschrieben hat. Es gibt zwei weitere.

Die bei Brice Pauset bestellte Kontra-Komposition und Franz Schuberts a-moll Sonate hast Du auf einem historischen Wiener Pianoforte gespielt, bzw. die Kontra-Sonate auch auf diesem historischen Instrument uraufgeführt. War das der Beginn Eurer Freundschaft?

Ja, ich hatte mal was von ihm im Radio gehört, aber ich kannte ihn nicht.

Wird Brice Pauset zur Deiner Uraufführung am 4. Januar 2023 in die Kölner Philharmonie kommen?

Gestern hat er mir leider abgesagt. Isabel Mundry macht mit mir die Conference auf der Bühne, sie kennt die Stücke gut. Sie ist eine tolle Frau, die ich sehr verehre.

Geht es nach der Uraufführung am 4. Januar in der Kölner Philharmonie auf Tournee?

Das ist leider das einzige Konzert. Durch Covid kam mehrfach alles durcheinander. Immerhin habe ich über Brice einen französischen Notenverlag gefunden, Edition Lemoine, der die Noten zur Uraufführung veröffentlichen will.

Zu dem Programm am 4. Januar spiele ich übrigens noch Ricercare und eine Fantasie von Johann Jacob Froberger. Und auch Präludium und Fuge in E-dur von Johann Caspar Fischer. Die verwenden dasselbe Thema wie Bach in seiner Fuge. Das Bach-Fugenthema ist nämlich ein uraltes gregorianisches Thema, keine Erfindung von Bach, und wurde von den unterschiedlichsten Komponisten verwendet. In Josquin-Messen kommt es vor. In der Jupiter-Sinfonie. Es ist eine dieser Tonfolgen, die sich wie ein Modul durch die abendländische Musik zieht. Das war der Aufhänger für die Auswahl. Es gibt aber auch ein paar freie Stücke, ich wollte es auf keinen Fall monoton werden lassen. Aber die polyphonen Stücke sind alle über das Fugenthema, das Bach auch verwendet. Und bei Fischer ist es ganz eindeutig, dass Bach Fischer reflektiert hat, weil Bachs Präludium klingt ganz ähnlich wie Fischers, der ja auch so etwas wie ein Miniaturwohltemperiertes Klavier geschrieben hat. Also Präludien und Fugen durch die Tonarten, immerhin die meisten. Es fehlen die entlegensten. Fis-dur hat er glaube ich ausgelassen, des-moll auch …

(Das Interview fand am 8. Dezember 2022 statt. Die Fragen stellte Sabine Weber)

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