Die Player Orgel brodelt in St. Aposteln, Voces Suave formt Gesangslinien zu berührenden Klängen mit Kraftsprüchlein von Hermann Schein

Der vierte Tag beim Romanischen Sommer in Köln bringt Höhepunkte, die nicht unterschiedlicher sein können. Eine Neukomposition für Midi-gesteuerte Orgel in St. Aposteln lässt die modernen Fresken beben. Der frühbarocke Ensemblegesang von Voces Suave trifft im Westwerk von St. Pantaleon auf eine geradezu perfekte Akustik und lädt zu einer besonderen Einkehr ein. (Von Sabine Weber)

(14. Juni 2023, Sankt Ursula, Köln) Was Marion Wörle und Maciej Śledziecki (Gamut Inc) mit der Kirchenorgel in St. Aposteln veranstalten, muss man nicht verstehen, sondern erleben. Die Klänge wühlen. Es pulsiert wie in der Tiefsee. Gigantische Riesen schweben im Raum in Zeitlupe vorbei. Gigantische Crescendi und ineinander gezogene Klanglinien. Tonrepetitionen surfen auf den Klangwellen. Töne flackern, es mäandert durch die Register. Sogar Echos widerhallen aus dem Seitenschiff. Und nicht eine Taste auf dem Spieltisch wird gedrückt. Mittels Midi-Computerschnittstelle wird diese Orgel per Computerbefehl gesteuert. Einige entlocken den Pfeifen angeblich tausende Noten und Parameter in kürzester Zeit. Wie bei einem Player Piano die Rolle.

Gamut-Inc in St. Aposteln. Bild: Reinhard Doubrawa

Das Duo Gamut Inc experimentiert seit seiner Gründung 2011 mit computergesteuerten Klängen. Und eines der ersten Projekte war sogar ein Kompositionsauftrag für Computergesteuerte Orgel. Aber auch ein Robot-Musiktheater haben die beiden schon einmal erfunden. Seit 2019 touren die beiden mit ihrer Konzertreihe AGGREGATE weltweit von Orgel zu Orgel, um deren Pfeifen computergesteuert die unvorstellbarsten Klänge zu entlocken. In St. Aposteln entkommt man bei AGGREGATE#11 – a composite glow nur knapp dem Rausch. Die hart symmetrisch gestalteten modernen Fenster in der Chorapsis und die Konturen der modernen grau-schwarzen Gruselfresken auf dem alten Gemäuer der Vierung und des Chores scheinen jedenfalls zu verschwimmen und rhythmisch zu vibrieren. Der Blick ist nach vorn gerichtet, die Klänge kommen von hinten, ohne dass die Solisten zu sehen wären. Nicht zu sehen? Und doch wird das Blickfeld stimuliert und belebt. Ein unerhörtes fast halbstündiges Erlebnis, das in dieser Romanischen Kirche erst die volle Wirkung entfaltet!

In St. Pantaleon steht am Abend das in Basel beheimatete Gesangsensemble Voces suaves im Mittelpunkt auch der Blicke. Was für eine edle Lanze die zwei Frauen und vier Sänger für Johann Hermann Schein brechen! Begleitet von Theorbe, Violone und Orgelpositiv, die sich in den individualistisch gefärbten, dennoch absolut homogenen Gesamtklang einfügen.

Zwei Sopräne, Altus, zwei Tenöre und Bass bringen nicht nur das Alte Testament zum Klingen, sie verlebendigen die Texte. Einfachstes Deutsch vertont Schein. Und wiederholt mehrmals die Zeilen mit immer neuer Intensität. Viele Male spaltet er das Ensemble in dialogisierende Blöcke auf, die sich die wiederholten Zeilen zuwerfen.

Das ist rhetorisch genauestens gedacht. Die so inszenierten Worte machen wirklich mitleidend, so wenn Josef über dem Antlitz seines toten Vater Jacob Tränen vergießt. Wenn der Vater über den unfolgsamen Sohn verzweifelt und sich doch seiner erbarmen muss. Wenn die Kreuzigungsszene von Jesaja prophetisch vorab durchlitten wird oder Chromatik die berühmte Psalmzeile „Die mit Tränen sähen“ ausdeutet. Die Stücke treffen ins Herz. Zuhörer schließen sogar die Augen, um zu meditieren.  Trost sollen sie natürlich vor allem spenden. „Kraftsprüchlein“ ist eine wirklich passende Bezeichnung. Die Veröffentlichung von Johann Hermann Scheins berühmter Sammlung „Isaakbrünnlein“, in der sie zu finden sind, war vor genau 400 Jahren. Daran erinnert Voces suaves zu recht und mit einer klanglich makellosen Aufführung, die tags darauf beim Musikfestival Potsdam zu Gast ist. Ergänzt noch von Hoheliedvertonungen von Melchior Franck.

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