Collegium vocale Gent unter der Leitung von Philippe Herreweghe setzt mit Claudio Monteverdis Marienvesper ein Ausrufungszeichen auf der Ruhrtriennale

Das ist eines der ganz seltenen Glücksmomente in einem Konzert! Eine Aufführung, die in jedem Detail gelingt. Und in einem märchenhaften Raum schwingt und verzaubert. (Von Sabine Weber)

Concerto vocale Gent in der Maschinenhalle der Zeche Zollern.  Foto: Volker Beushausen
Concerto vocale Gent in der Maschinenhalle der Zeche Zollern.
Foto: Volker Beushausen


(21. August 2017, Maschinenhalle Zeche Zollern, Lütgendortmund)
Perfekte fünf Sekunden Nachhall! Und das in einer Maschinenhalle bei Dortmund. Doch die sieht anders aus als die monströsen Maschinenhallen in Duisburg oder Zweckel. Hier sind Backsteine wie Ornamente zusammen gesetzt, mit Erkern, Türmchen und Zinnen verziert, mit Jugenstilglasverzierungen an Giebel und Eingang. Das war ein Prestigeobjekt der Gelsenkirchener Bergwerk AG gewesen und sollte industrieller Vormachtstellung im späten Kaiserreich eine Traumarchitektur liefern. Die Zeche Zollern im ehemaligen Bergwerk in Dortmund ist ein „Schloss der Arbeit“, mit eleganten Hammersymbolen in Glasrosetten und mächtigen Fördertürmen als Kulisse. Aus dem Staunen kam man ja gar nicht mehr heraus, auf dem Weg zu diesem Konzert, vorbei an einer kleinen Parkanlage.

Und dann das Wunder von Claudio Monteverdis Marienvesper. Der im Mai vor 450 Jahren geborene Komponist wollte ja auch die damalige Musikwelt staunen machen. Bisher als furioser Madrigal- und Opernkomponist in Erscheinung getreten, schießt Monteverdi wie aus dem Nichts seine Vespro della beata vergine als komplexe Kombination heterogener geistlicher Stücke heraus. Und entwickelt eine ganz besondere Ablaufdramaturgie. Die liturgisch vorgeschriebenen Psalm-Vertonungen des marianischen Vespergottesdienstes durchmischt er mit eingeschobenen Vokalkonzerten, die u.a. Verse aus dem Hohelied Salomos verwenden. Ein polyphoner Stil in den Psalmen wechselt sich ab mit Sologesängen oder zu zwei oder drei Stimmen verarbeiteten Konzerten. Jedes Stück ist anders konzipiert und kombiniert die Mitwirkenden immer wieder aufs Neue, sogar innerhalb eines Stücks oder von Textzeile zu Textzeile. Alles im Dienste einer hochexpressiven Wortausdeutung, auf die sich Monteverdi verstand wie noch keiner vor ihm. Wie, wann und ob überhaupt diese visionäre Vesper oder Teile daraus vor ihrer Veröffentlichung je aufgeführt wurden, weiß kein Mensch. Die Sammlung, die er im Dienste der Gonzaga von Mantua aus in Venedig 1610 auf eigene Kosten drucken lässt, widmet er dem Papst.
Dieser Überraschungscoup gelingt. Monteverdi bekommt zwar keinen Job an einer der päpstlichen Kirchen in Rom, wohl aber die prestigeträchtige Kirchenmusikstelle an San Marco. Und die damals wie heute noch irritierend innovativen und zugleich retrospektiven Stücke gelingen an diesem Abend eines um’s andere und ausnahmslos. Angefangen von dem gewaltigen sechsstimmigen Eingangschor zur göttlichen Lobpreisung, über den expressiven Sologesang des Tenors nur zur Arciliuto-Begleitung in der Hoheliedvertonung Nigra sum oder dem in den Anfangstakten herrlich gegen den Taktstrich gebürsteten und swingenden achtstimmigen Laudate pueri. Im Pulchra es harmonierten und rieben sich in herrlichen Dissonanzen die beiden Sopräne Dorothee Mields und Barbora Kabátkovà. Letztere eine Expertin für tschechischen Gregorianischen Gesang, die nach hinten zu den Chortenören gewandt auch die Chroalintonationen vor den Psalmen mit hoch wirbelnden Händen leitete. Höhepunkt war das Duo Seraphim. Es ist das magische Herzstück dieser Vesper. Zwei Seraphime himmeln das Göttliche an. Die Engel scheinen selbst erschüttert von der Gewaltigkeit der Herrlichkeit, und versuchen sich selbstlos zu übertreffen. Wenn sie dann feierlich die heilige Dreifaltigkeit bezeugen, also von „Tres sunt“ singen, dann haben sie plötzlich drei Stimmen! Eine dritte Tenorstimme kommt dazu. Wenn sie zum Wunder der Einigkeit dieser Trinität kommen, werden die drei sogar zu einer Stimme. Diese himmlische Magie setzten atemberaubend virtuos Reinoud Van Mechelen, Sam Boden und Benedict Hymas um. Und dass Monteverdi mit der Sonata sopra Sancta Maria wieder eine ganz besondere Idee umgesetzt hat, nämlich unter den von drei Sopranstimmen mehrmals wiederholte simplen Bittspruch „Sancta Maria, ora pro nobis“ den größtmöglichen, auch rhythmischen Tumult zu veranstalten, das schätzte schon Igor Strawinsky, ein großer Monteverdi-Fans, der diese Sonata zu einem seiner Lieblingsstücke erklärt hat.

Concerto vocale Gent in der Maschinenhalle der Zeche Zollern
Concerto vocale Gent in der Maschinenhalle der Zeche Zollern

Atmosphärisch perfekt umstrahlte auch noch die Abendsonne diese mönchische Vesper zu Ehren der Muttergottes. Sie beschien durch eine Rundbogen-Glasfront die Tribüne in der Mitte Halle und damit die Instrumentalisten und Sänger vom Collegium vocale Gent bis fast ganz zum Schluss. Dann noch die Ausleuchtung mit himmlischen Blautöne über der mächtigen Stahlkonstruktion im Holzdach. Diese Aufführung ist wirklich ein besonderes Geschenk der Ruhrtriennale an ihr Publikum gewesen. Das war ein Gesamtkunstwerk, besser als Oper und hat auch den ursprünglichen Sinn und Zweck der Ruhrtriennale noch einmal in Erinnerung gerufen, nämlich mit Kunst, hier Musik, auf das Besondere der Industriedenkmäler hinzuweisen und die Industriebrachen zu beleben. Wie gut, dass Intendant Johan Simons zu Philippe Herreweghe einen besonderen Draht hat und hatte. Denn auch in den beiden Spielzeiten zuvor ist der Spezialist für Alte Musik und Bachpionier zu Gast gewesen. Und wenn der inzwischen 70jährige belgische Dirigent, Chorleiter und Gründer vom Collegium vocale Gent nur mehr mit spärlichen Bewegungen leitet, allein ein solches Solistenoktett wie an diesem Abend zu casten und ein so homogenes, spielerisch funktionierendes Ensemble zusammen zu stellen, ist gar nicht hoch genug zu bewerten. Glücklich die, die das an diesem Abend erleben durfte!

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