À la carte. Das ZAMUS: early music festival in Köln ist eröffnet!

Das Cölner Barockorchester, Kai Wessel und am Bühnenrand Helene Grass. Foto: Sonja Werner

„Das erste Festival in NRW nach dem zweiten Lockdown ist eröffnet!“ Ira Givol, künstlerischer Leiter des ZAMUS: early music festivals in Köln, begrüßt das Publikum und bekommt Spontanapplaus! 60 Gäste sind in der Konzertscheune des Bürgerzentrums Altenberger Hof in Köln-Nippes zugelassen. Jeder hält eine kleine Menükarte mit persönlicher Á-la-carte-Nummer in der Hand. Aus einem Kochtopf werden Nummern gezogen, und wer diese Nummer auf seiner Karte hat, darf auf Zuruf wünschen! Aperol, Vitello Tonnato oder Ente in Pflaumenjus. Und das Cölner Barockorchester mit Countertenor Kai Wessel legt los. (Von Sabine Weber)

(22.6.2021, Konzertscheune Altenberger Hof, Köln-Nippes) Ein erheiterndes Spiel, über das Essen reden und Alte Musik hören. Tafelmusik ist ja auch ein altbekanntes Genre. In diesem Konzert ergänzen sich die beiden vergänglichen Genussformen nochmal anders. Schauspielerin Helene Grass (seit 2016 künstlerische Leiterin des Literatur- und Musikfestivals Wege durchs Land) führt als Oberin und Chef de cuisine süffisant bis leicht schnodderig – „wir sind hier nicht in der Imbissbude“ – aber immer sympathisch und zugewandt durch das Wahl-Menü. Sie zieht auch die Nummern, hat wenn es sein muss einen netten Spruch parat und serviert vor jedem Gang auch Gedichte. Rose Ausländers Einladung, Pablo Nerudas Ode an die Tomate „Welch ein Unglück, wir müssen sie töten: Es senkt sich das Messer in ihr lebendiges Fruchtfleisch…“ oder rattert Karl Valentins Komischen Salat herunter, in dem vieles, aber nicht ein Blatt steckt. Grass vermittelt zwischen Publikum und Bühnen-Köchen: „Carbonara! Muss alles frisch sein, einen Moment bitte“. Die Streicher müssen nachstimmen. Einmal verweigert sie den Orangensoufflé-Wunsch, weil es das Schlussstück sein muss, wie sich herausstellt.

Mit erstaunlich viel französischem Goût

Die Musik hinter den Speisen werden bis auf den Champagner-Aperitiv, Händels Ouvertüre aus Rinaldo, nicht bekannt gegeben. Ob die Musik zu den Gerichten nun passt oder nicht. Die Restaurant-Situation lockert auf, ohne zu stören. Die Ohren spitzen sich, weil die Hörhaltung tatsächlich anders ist, wenn nicht vorher benannt wird, was ertönt. Ein Satz aus Corellis Concerto grosso? Nein, der gewünschte Aperol ist das Allegro aus Vivaldis RV 310! Ab der Vorspeise kommt Counter Kai Wessel zum Zug. Bei Vitello tonnato tippe ich auf eine Cavalli-Arie. Es ist Stradellas „Io per me cangerei“ aus dessen Oratorio San Giovanni battista mit Koloratur-Ausbruch im Mittelteil. Später kommt dann aber das Ombra mai fu aus Cavallis Serse. Erstaunlich viel französischer Goût ist aber auch hörbar. Vom Cölner Barockorchester im perfekten Zusammenspiel von einer Bratsche, zwei zweiten Geigen, Cembalo, Continuo-Cello, Fagott und zwei Oboen, angeführt von Konzertmeisterin und erster Geigerin Justyna Skatulnik. Überpunktierungen – wie in der französischen Ouvertüre gleich zu Beginn – bis hin zu feiner Inégalité bei Muffat zeigen Expertise. Muffats Passacaglia aus der Sonate Nr. 5 seines Armonico tributo wartet mit kleinen harmonischen Überraschungen und reinen Bläser-Einschüben auf. Kein Lully, wie ich tippe. Immerhin soll Muffat bei Lully am französischen Hof gelernt und französische Orchesterkultur nach Deutschland gebracht haben. Ein Höhepunkt ist Agostino Steffanis „In quest‘alma che langue“ aus dessen Orlando generoso.

Trouvaillen wie Des Fontaines herzergreifendes Cher Souvenir erklingen

Kai Wessel. Foto: Sonja Werner

Gurgelnde Koloraturen hat Kai Wessel technisch bestens im Griff, gestaltet lange Töne und formt Bögen. Die Stimme klingt nicht immer rund. Die sprachliche Agogik macht das wett. Er fügt sich vor allem perfekt ohne Diven-Allüren in das Ensemble ein. Und das macht diese Klangküche an diesem Abend perfekt. Die Gesangsnummern hat er mit viel Geschmack ausgesucht und auch Trouvaillen wie Des Fontaines herzergreifendes Cher Souvenir eingebaut. Leider kommen die Engländer nicht zum Zug. Auch sie waren im Menü versteckt, wie das Publikum auf den verteilten Speisekarten MIT Musiktiteleien dann nach dem Konzert lesen kann. Ist eben nicht ausgewählt worden. Die Organisatoren des ZAMUS-Team überraschen am Ende noch mit einem kleinen kulinarischen Gang aus dem Restaurant nebenan. Keiner muss also hungrig nach Hause. Und draußen steht man trotz kühlen Wetters noch lange zusammen. Endlich mal wieder. Nach 1 ½ Jahren ist dies die lang ersehnte erste Ausgabe des von ZAMUS neu programmierten Alten Musik Festivals, jetzt Early music festival, das letztes Jahr ersatzlos gestrichen wurde. Die À-la-Carte-Konzeption stammt allerdings noch aus dem Jahr 2020.
An 14 weitere, auch ungewöhnliche Kölner Spielorte lädt das Festival in den kommenden 10 Tagen noch bis zum 1. Juli ein. Wer an diesem Abend nicht auf den Geschmack gekommen ist, ist selbst schuld.

Tickets hier zu erwerben. Zu weiteren Details und Konzertinfos hier

Eine Auswahl:

Georg Friedrich Händels Oratorium Esther erstmals in hebräischer Sprache mit Chorwerk Ruhr und Concerto Köln in der Kölner Philharmonie am 27. Juni, Beginn 20 Uhr

Himmel un Äd: Bach auf Kölsch mit der Capella Augustina unter Andreas Spering, Ventana Köln am 26. Juni, Beginn 19:30 Uhr

Zamus music labor Symposium The End of Early Music? 29.06.2021, Beginn 10.30 – 14.40 Uhr, 30.06.2021, Beginn 10.30 – 13.30 Uhr. Auch als Online-Veranstaltung zu buchen

Apokalypse – Hus in himile mit Ensemble Sequentia in St. Gereon am 30. Juni, Beginn 22:00 Uhr

Die ZAMUS  Musik- und Tanz- Eigenproduktion Was frag ich nach der Welt – J. S. Bach: Das Kapital
Leonhard Bartussek, Konzept & Komposition, Alexandra Waierstall, Choreografie. Live Music Hall Köln am 1. Juli, Premiere 18:00 Uhr
zweite Premiere 20:30 Uhr

 

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