(Musik und Gesellschaft, Bd. 1 Von den Kreuzzügen bis zur Romantik; Bd. 2 Vom Vormärz bis zur Gegenwart. Königshausen und Neumann Verlag, Würzburg 2020
ISBN 9783826067310, Gebunden, 1424 Seiten, 58,00 EUR)
Was für ein gewaltiges Oeuvre ist hier geschaffen worden! „Um Musik mal anders zu denken – oder zu verstehen“, so Frieder Reininghaus, einer der drei Herausgeber im Vorwort. Frieder Reininghaus ist mit seinem gnadenlos schwäbischen Dialekt in den Öffentlich-Rechtlichen vielen bekannt, wenn es um profunde Premierenkritiken von Opern geht. Hier jetzt ist er Essayist – er hat auch die meisten Artikel verfasst. Seine Mitherausgeberinnen sind Judith Kemp und Alexandra Ziana, musikwissenschaftlich ebenfalls ausgebildet und aktiv für Musikredaktionen von Verlagen, Theater- oder Konzerthäuser. (Von Sabine Weber)
Sie also zeichnen verantwortlich für die gewaltige Kompilation von 421 Essays unter dem Großtitel „Musik und Gesellschaft“. Das klingt groß, dennoch irgendwie nüchtern, kann viel und nichts bedeuten. Die Ouvertüre besteht aus Versuchen, das Phänomen Musik als Zeitkunst zu umreißen. Nahrungstechniken wie das Räuchern, Destillieren und Einsalzen werden herangezogen. Wie konnte Musik überhaupt beginnen, wie wurde sie Kulturtechnik. Plötzlich ein Essay über Musik als Foltermittel, allerdings nicht umfassend betrachtet, sondern auf ihren perversen Missbrauch im Dritten Reich fokussiert. Die nachfolgenden Essays sind ebenso divers. Sie reißen eine Fülle von Themen an. Madrigalkunst, Schlager- und Trinklieder, Operette, DJ, Gesang der Synagogen, Symphonik oder Volksmusik, von Heimatkunst bis Heavy Metal… Und viele Einzelwerkbetrachtungen, darunter Opern. Alles nach Jahreszahlen und zusammengefassten Jahrhunderten geordnet. Um 1000 nach Christus beginnt es, also im Mittelalter. Es endet – im zweiten Band – 2020 mit dem Überkapitel „Musikleben im Ausnahmezustand“. Die zusammengefassten Jahrhunderte tragen Überschriften wie „Glaubens- und andere Früchte“, „Helden und Völker, Dampfer und Trinker“. Politische, historische Ereignisse und Errungenschaften werden reich bebildert vorangestellt. So gerüstet wird durch die Musikgeschichte geschritten.
Mit Informationen wird nicht gespart
Es geht also darum, wer oder was die Zeit geprägt hat, wenn Musik entstanden ist oder ein Musikereignis stattgefunden hat. Da liest man dann, dass 1891 Otto Lilienthal als erster Mensch einen Gleitflug absolviert hat. Oder die Brüder Lumière in Paris ihre erste Vorführung von bewegten Bildern präsentiert haben. Alles Zusatzinformationen, auf die nicht mehr rekurriert wird. Die Essays wiederum sind dann konkreten Jahreszahlen zugeordnet. Dazu gibt es noch einmal aufgelistet politische Ereignisse zum Jahr. Auf die sich allerdings in den Essays auch nicht bezogen wird. Mit Informationen wird nicht gespart. Die Artikel dann selbst sind fast durchgängig gut zu lesen. Und nie zu lang. Warum aber welches Thema wie aufgegriffen wird, warum es hier gelandet ist und warum es von jenem Autor oder jener Autorin bearbeitet wird, darüber gerät man schon ins Grübeln.
Querverbindungen zwischen den Essays hätten herausgearbeitet werden können
Möglicherweise scheinen hier Vorlieben einzelner Autor*innen einen Ausschlag gegeben zu haben. Anders ausgedrückt, mit welchem Thema hatte ich schon einmal zu tun und will es noch einmal journalistisch aufarbeiten. Bei der sogenannten Alten Musik scheinen allerdings Fachkenntnisse zu fehlen. Sicherlich, Karl der Große und sein Musikchef Alkuin haben versucht, die Liturgien im Reich aus politischen Gründen zu standardisieren. Das Projekt gilt als gescheitert und hat dennoch die westliche Notation getriggert. Wie denn, das hätte mal erklärt werden können. Und was dazu geführt hat, dass die Musiker kreativ mit zur Kontrolle erfundenen Neumen umgegangen sind. Wenn es um mittelalterliche Musikanschauung geht, dann war sie mit Berufung auf Pythagoras spekulativ! Das verwendete Wort „rational“ suggeriert einen empirischen Umgang mit Musik. Es wird missverständlich formuliert. Johannes Kepler gilt trotz seiner Keplerschen Gesetze als großer Musik-Astrologe! Die Rolle einer „messbasierten“ Musikanschauung wäre zu hinterfragen gewesen. In „Musik und Gesellschaft“ soll es doch darum gehen, Musik neu zu denken und zu verstehen. Warum wird dann bei Hildegard von Bingen sehr salopp auf die abgegriffene Wellness-Tube gedrückt, aber nicht wirklich hinterfragt. Was ließ ihre Musik denn in den 1990ern in die Popcharts aufsteigen? Was hat es mit ihren Visionen und ihrem Weltbild überhaupt auf sich? Ein Wort dazu wäre hilfreicher gewesen als altbekannte Klischees einfach zu wiederholen. Um ihre schriftstellerischen Leistungen einzuordnen, sollte jeder wissen, dass Hildegard gar nicht schreiben konnte. Wenn „Musik und Gesellschaft“ das Anliegen dieser Kompilation ist, hätte auch mal die Frage aufgeworfen werden können, warum sich die Äbtissin und Visionärin geweigert hat, „Esel neben Pferde in einen Stall zu stellen“. Mit Eseln waren arme Töchter ohne Mitgift gemeint. Sie fanden in ihrem Kloster keine Aufnahme. Ohne Hildegard von Bingen als eine der ersten namentlich bekannten, dann auch noch weiblichen Komponistinnen dementieren zu wollen, sie hat nicht nur gegen Ketzer und Häretiker öffentlich gepredigt. Sie hat zusammen mit Bernhard von Clairvaux zu Kreuzzügen aufgerufen! Die „Jerusalem-Kampagnen“ sind doch Thema in einem weiteren Essay! Da wären doch mal Querverbindungen interessant gewesen. Auch dass die Zeit der Trouvères ein Revival der okzitanischen Troubadours-Hochkultur war, die man in den Kartharerkreuzzügen brutal eliminiert hat, um Zentralfrankreich gründen zu können. Die Trouvères haben noch andere Bedeutungsebenen als den Tristan-und-Isolde-Bezug zu Opern. Ludwig der IX ist übrigens als Heiliger in die Geschichte eingegangen. Das hat natürlich auch mit Kreuzzügen zu tun. Und mit Notre-Dame und der Sainte-Chapelle in Paris. Da wäre eine Randnotiz angesichts der Baustelle gefällig gewesen.
Die Herangehensweisen und das Schlaglicht darf und soll persönlich sein
Manche Themen sind nicht wirklich umfassend durchdacht, einige Essays salopp daher geschrieben. Einer namhaften Musikwissenschaftlerin wie Silke Leopold passiert natürlich kein Lapsus. Strömungen zu fassen und komplexe Phänomene darzustellen, ist kein leichtes Unterfangen. Daran scheitern hier einige Versuche. Die Essays, die sich auf ein Werk konzentrieren, funktionieren überhaupt viel besser. Da ist wiederum bezeichnend, dass ein im Mittelalter, nämlich 1301 verortetes Essay-Thema über Wilhelm Tell aus der späteren Warte Schillers und Rossinis Guillaume-Tell-Oper hergeleitet ist. Nicht der schweizerische Freiheitskämpfer, sondern die Erfindung der politisch-relevanten Grand Opéra interessiert den Autoren. Wer sich darauf einlässt, wird dann durchaus überrascht. Die Herangehensweisen und das Schlaglicht darf und soll ja auch persönlich sein. Und gerade das macht es sogar spannend. Ungewohnte Sichtweisen oder Entdeckungen bietet diese Kompilation – trotz aller kritischen Notiz – in großem Maße an. Beispielsweise einen Essay über eine venezianische Salonnière, die in dem berühmten Simon Mayr zugeschriebenen La biondina in gondoletta verewigt sein soll. Wer in den fast 1500 Seiten blättert, wird ein Thema für sich finden. Es gibt am Ende des zweiten Bandes auch einen umfänglichen Stichwortapparat. Sogar ein erklärendes Wörterbuch zu möglicherweise unbekannten Begrifflichkeiten. Die beiden Bücher sind auch fein und edel aufgemacht, wunderbar bebildert und sprechen sicherlich den Nicht-Fachmann aber Musikinteressierten an. Allerdings braucht es Platz im Bücherregal!