RT19: Superlative der Mehrstimmigkeit! Chorwerk Ruhr mit Berios Coro und Striggios Missa sopra Ecco sì beato giorno in der Maschinenhalle Zweckel in Gladbeck

(Foto: Christian Palm) Was hat Luciano Berio Mitte der 1970er und Alessandro Striggio den Älteren 400 Jahre früher dazu getrieben, 40stimmige Werke zu entwerfen? Der Italiener Berio will seine Aktivitäten auf dem Experimentierfeld Musik und Sprache auf eine unerhörte wirkmächtige Stufe heben. Was jenseits des üblichen Gesangs, mithilfe von Gesten, Lachen, Flüstern, Schnalzen an neuen stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten zu gewinnen sei, testet er schon seit Jahren zusammen mit seiner Expertin für diese Stimmversuche, Cathy Berberian aus. Als Grundlage dienen volksliedhaft-ethnische Texte oder Folksongs in allen Sprachen. Für Berberian hat er auch frühbarocke oder Popsongs bearbeitet. In „Coro“ rüstet Berio die gewonnenen vokalen Expertisen durch Verse des chilenischen Poeten und Widerstandskämpfers Pablo Neruda zu einer politischen Kunst auf und experimentiert mit einer neuen Raumklanglichkeit. Alessandro Striggio ist Komponist und Diplomat der Medici in Florenz. Er komponiert 40stimmig, um einer politischen Hochzeit Glanz zu verleihen und bei seinen Missionen zu beeindrucken. Ein diplomatischer Aufenthalt in London, wo er ein 40stimmiges Werk hören lässt, möglicherweise die für die Hochzeit komponierte Motette Ecce beatam lucem, es könnte aber auch die Missa sopra Ecco sì beato giorno gewesen sein, inspiriert Thomas Tallis, sein 40stimmiges Spem in alium zu komponieren.

(31.8.2019, Maschinenhalle Zweckel, Gladbeck) Bis heute ist nicht geklärt, welches 40stimmige Werk in London 1568 die Engländer herausgefordert hat. Als der Musikwissenschaftler Davitt Moroney 2005 die 40stimmige Missa sopra Ecco sì beato giorno wiederentdeckt, rückt auch dieses Werk in den Bereich der Möglichkeiten. 2007 sorgte Striggios Missa jedenfalls für Furore bei den BBC Proms. Aktuell bei der Ruhrtriennale. Denn Chorwerk Ruhr, unter seinem künstlerischen Leiter Florian Helgarth, stellt sie dem 40stimmigen Coro von Berio entgegen. In dem schon von der gewaltigen Backstein-Fassade her eindrucksvollen Maschinenpalais der Zeche Zweckel in Gladbeck, der einstigen „elektrischen Centrale“ der Zeche, verteilen sich die Stimmen auf fünf Chöre à acht Stimmen. Zwei Chorgruppen stehen links und in der Mitte auf dem Podium. Ein Chor steht rechts davon auf einer Empore. Und hinten rechts und links – hinter einer Reihe mächtiger Kompressoren, Umformern oder Generatoren – stehen nochmals zwei Chöre. Sie sorgen für eine zauberhaften Fernklangwirkung in dem mächtigen Maschinenraum, auch wenn das sicherlich nicht die Absicht Striggios gewesen ist. Aber die Bühne ist ja schon vollgestellt mit der Anordnung, die es später für Berios Coro braucht. Acht Instrumente vor den Sänger*innen in Reihe könnte Striggio genau so vorgeschrieben haben. Flöten, Altgamben und Posaunen hat er jedenfalls für die Motette Ecce beatam lucem den Stimmen zugeordnet. Die Duisburger Philharmoniker fügen sich mit modernen Instrumenten, also Celli statt Gamben, Violinen und Bratsche, Posaunen und Trompete, wunderbar vibratolos in den Stimmklang ein. Allenfalls die Oboe links klingt etwas zu laut und wird als klanglicher Fremdkörper ausgemacht. Wunderbar, wie die modernen Posaunen ihre kleinen Verzierungen „original“ einbringen. Und der Raum füllt sich mit einer Feierlichkeit, mit präzise über die Distanzen koordinierten Stimmen, dass der Maschinenraum musikalisch elektrifiziert wird. Die Chorgruppen wechseln sich ab, der Klang wandert durch den Raum und verbindet sich in der Vielstimmigkeit zu einem in die stählerne Dachbinderkonstruktion steigenden Gesamtklang.

 

Nach der Pause sitzen die vierzig Choristen im Orchester verteilt vorne und sind – mit dem jeweils ihnen zugeordneten Instrumentalisten – die Solisten. Es beginnt mit einem indianischen Siouxlied, das eine Sopranistin anhebt und weiterreicht, bis drei Sopranstimmen aus verschiedenen Richtungen ergänzen, zunächst nur begleitet vom Klavier in der Mitte. Es folgt ein peruanisches Tanzlied, das, freilich modern verfremdet, aber dennoch deutlich rhythmisch ist, bis plötzlich ein dicker Akkordcluster dem Publikum derart entgegen schleudert, dass einem Hören und Sehen vergeht. Er kündigt den Zentralvers des Stückes „Venid a ver“ – „kommt und seht“ von Pablo Neruda an. Der setzt noch mehrmals an, bis er sich zum „Venid a ver la sangre por las calles“ – „Kommt und seht das Blut auf den Straßen“ ergänzt hat. Im Verlauf des Stücks überkommt einen die Angst vor den gewalttätigen Akkorden, die ja immer vor den Versen einschlagen und die man bald schon richtig befürchtet. Das Gewitter draußen liefert auch noch gruselige Einwürfe. Blitze erhellen plötzlich das Hallendunkel durch die vielen Fenster im oberen Mauerbereich. Die ursprünglich polynesischen, afrikanischen, indianischen oder persischen Verse sind meist ins Englische übersetzt, die persischen allerdings ins Deutsche, sie klingen wie ein Text des Sufis Rumi in der Übersetzung von Friedrich Rückert. Dazu gibt es italienische und zwei auf französisch gesungene kroatische Lieder. Diese Volkslieder oder „documenti populari“ wie Berio sie nennt, sind allerdings alles andere als harmlos. „Deine Augen sind rot vom vielen Weinen.“ – „Wach auf, Frau, steh auf, Frau Du musst tanzen kommt der Tod!“ Dennoch geht es klanglich munter und abwechslungsreich durch die Orchester-Sänger*innen. Einzelne Instrumente kommentieren spielerisch wie mitredend, Flöten zwitschern, Trommeln lassen marschieren, es gibt Anklänge an afrikanische Rhythmen mit Rasseln oder Violoncello-Soli, Pizzicati der Streicher, einen tiefen Ton, der dräuend durchzieht oder barocke Ostinatobässe. Und manchmal meint man einen Ameisenhaufen vor sich wuseln zu hören. Es gibt rhythmisches Sprechen, protestartiges Schreien, normales Singen. Oder wie die Indianer wird geheult mit Handschlägen auf die Lippen. Die beiden Sängerinnen vorne haben Stimmgabeln am Handgelenk und im Dekolleté baumeln, damit sie für ihre Einsätze den Ton finden. Einmal friert ein leiser Klang ganz bedrohlich ein. Dirigent Helgarth streckt die Hand fordernd heraus den Stab nach oben und hält inne. Dies geschieht zum Neruda-Vers: „Seht mein totes Haus!“ Und klingt wie eine klanglich flackernde Totenkerze. Großartig, wie die 40 Chorsolisten mitsamt den 40 Instrumentalisten inklusive des Pianisten zusammen diese einstündige Geschichte erzählen, jede Episode miteinander verzahnen. Und wie Berio hier den 1973 verstorbenen Neruda ehrt, der sich für Salvador Allende eingesetzt hat, aber während des Putsches von Augusto Pinochets verstorben ist und so gegen das Junta-Regime nicht mehr aufstehen konnte. Auf der Ruhrtriennale jetzt: stehende Ovationen! Jubelschreie! Getrampel! Und Helgarth zeigt auf die Partitur! Chorwerk Ruhr hat seinen Einsatz im letzten Jahr für Maurizio Kagels Chorbuch in dieser Ruhrtriennalen-Spielzeit mit Berios Coro mit Unterstützung der Duisburger Philharmoniker großartig fortgesetzt. Chorwerk Ruhr ist eine der festen künstlerischen Stützen der Region. Und man ist ja schon richtig gespannt, was sie im nächsten Jahr dann nach Kagel und Berio zur Ruhrtriennale tragen. Stockhausen?

 

 

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