„Nixon in China“ – als Superlativ-Oper in Dortmund!

(Titelbild: Morgan Moody (Henry Kissinger), Daegyun Jeong (Chou En-lai), Petr Sokolov (Richard Nixon), Irina Simmes (Pat Nixon), Opernchor Theater Dortmund. Foto: Thomas Jauk)
Das von einem Fachmagazin gekürte beste Opernhaus 2022 will offenkundig seinen Ruf verteidigen. Für John Adams‘ „Nixon in China“ schüttet Regisseur Martin G. Berger ein Füllhorn an Bildern, Videos, Animationen aus, entfesselt Tanzaktionen mit dem NRW Juniorballett und dem Senior*innenTanztheater. Der Opernchor sowie ein Projekt-Extrachor füllen die Bühne, dazu 10 Solisten, darunter eine Solo-Tänzerin, teilweise in opulenten Kostümen. Selbst wer nur die Hälfte dieses Bilder-Furors mitbekommt, dürfte sich überversorgt fühlen. Dabei zielt nichts ins Leere, sondern fügt sich bunt wie ein Musical und entwickelt gewaltige Spannungshöhepunkte. (Von Sabine Weber)

(26. Februar 2023, Oper Dortmund) Als „CCN-Opern“ wurden John Adams‘ Bühnenwerke in den USA bezeichnet. Sie nehmen immer Bezug zu konkreten politischen Ereignissen. In seinem Erstlingswerk Nixon in China von 1987 reflektiert Adams den Besuch Richard Nixons in China 1972. Ob diese Begegnung der politischen Weltlage nachhaltig Frieden gebracht hat, darf aus heutiger Sicht bezweifelt werden. Adams, angeregt von Peter Sellars und unterstützt von Librettistin Alice Goodman, schuf auch keine neue Doktrin. Er positioniert militärisch organisierten Kommunismus und Konsum-orientierten Kapitalismus, wobei er die Gemeinsamkeiten der konträren Ideologien genüsslich herausstellt. Das Machtmännergehabe, rhetorisches Überbieten mit hohlen Parolen (Nixon und Kissinger, Chou En-lai, weniger Mao Tse-tung, der eher abwesend wirkt). Dazu Missbrauch und sadistisches Quälen. Am Ende wird sogar die finale Frage aufgeworfen, ob die Welt solche Protagonisten je gebraucht hätte und ob das Lebensgefühl von Ideologien abhinge.

Regisseur Martin G. Berger erfindet eine stumme Rolle

Eine ernste Frage, die nach der enormen Bildüberflutung eigentlich fast nicht ankommt, hätte es nicht den Kunstgriff einer Frau „Ich“ gegeben. Regisseur Martin G. Berger erfindet eine stumme Rolle mit der Tänzerin Jemima Rose Dean. Sie ist Beobachterin, tanzt und spielt sich durchs Geschehen und wird hineingezogen. Während der Vorführung eines weiblichen Roten Brigadenballetts – Mao Tse-tungs Ehefrau Chiang Ch‘ing ist hier federführend und steht auch auf der Bühne – wird das „Ich“ sogar das Me-too-Opfer eines sadistisch ausrastenden Kissingers. Stellvertretend für alle Frauen malträtiert – bekommt mit ihr die Frage einen konkret menschlich glaubwürdigen Bezug auf der Bühne, die im Finale schließlich ein Altersheim ist.

Dieses Theater ist ein groteskes Spiel zwischen Schein und Wirklichkeit

Regisseur Martin G. Berger fügt die Episoden zu einer opulenten Zeitreise in einer ständig changierenden Bühne (Sarah-Katharina Karl). Die Medien spielen für die Propaganda eine wichtige Rolle. Einmal ist in alten Fernsehformaten ein Fernseh-Sprecher eingeblendet, der die Neuigkeit 1972 vom Papier in der Hand abliest. Nixon und Mao im Bild dahinter. Adams geht es allerdings nicht um historische Authentizität, sondern um die Psychologisierung und Emotionalisierung typischer Charaktere, die miteinander auf der Bühne reagieren. Das macht Berger mit sich drehenden Kasperlhandpuppen und ihren Fratzen in Bildausschnitten zu Anfang gleich klar. Dieses Theater ist ein groteskes Spiel zwischen Schein und Wirklichkeit. Nixon und Kissinger steigen durch den projizierten Bocca della verità aus dem Flugzeug. Pat Nixon schwebt zu einem späteren Auftritt als Mary Poppins ein und steht dann als gelbe Schutzmadonna einer Konsum-gequälten Welt auf dem Tisch und singt von der besseren Zukunft. Zuvor hat der Chor in Zuckerbäcker-farbenen Clown-Kostümen mit Zauberstäben auf Kristalle geschlagen (Kostüme Alexander Djurkov Hotter). Kaleidoskopartig sich verändernde Confisserie-Aufnahmen im Hintergrund bekommen zunehmend ekelerregende Farben.
Zu dem dicht gefügten Bühnengeschehen fügen sich präzis die eingeblendeten Videobilder (Vincent Stefan), die immer neue Assoziationen auslösen. Tanzeinlagen und gewaltige, auch choreografierte Choreinsätze (Choreografie: Gabriele Bruschi, Chor: Fabio Mancini) sorgen für wilde Tumulte. Es gibt sogar eine richtige Gewitterszene!

Olivia Lee-Gundermann führt die Dortmunder Philharmoniker zuverlässig durch die tönende Partitur

John Adams Minimal Music ist redundant, baut aber immer wieder riesige Spannungsbögen auf und ist ihrer rhythmischen Synkopierungen und polyphonen Stimmführungen wegen durchaus vertrackt. Mittels Zitaten aus Wagners Ring, Bernard Hermanns Filmmusik zu Vertigo oder Jazzanklängen lässt Adams die Attitüde von Revuemusik einfließen und scheut nicht vor Kitschapotheosen zurück. Olivia Lee-Gundermann führt die Dortmunder Philharmoniker zuverlässig durch die Klippen der unentwegt tönenden Partitur. Als es einmal still ist, weil das „Ich“ einen Pullover überzieht, ist das wie ein Schock! Gesungen wird übrigens verstärkt, woran sich zu Anfang gewöhnt werden muss. Erstaunlicherweise klingt es in den oberen Logen – nach der Pause wird gewechselt – erheblich besser als im Parkett! Petr Sokolov als Nixon, Irina Simmes als dessen Frau, Morgan Moody als Kissinger sowie Daegyun Jeong als Chou En-lai und Alfred Kim als Mao Tse-tung sehen am Ende dennoch alt aus.

Tosender Beifall

Nixon ist ergraut. Mao sitzt im Rollstuhl. Sie treffen im letzten und dritten Akt in Dortmund in einem Altersheim zusammen, wo zuvor auch der Papst und Marx, Arm in Arm, Gaddafi, Fidel und Raoul Castro, die Queen und Thatcher, Pickelhauben-Wilhelm mit Rollator oder Magret und Erich Honecker eingetroffen sind. Politische Machthaber, die wir nie gebraucht hätten? Wer will das bescheiden! Am allerwenigsten die Gestalten dieser komischen Machthaberparade. Auch ohne Bescheid gibt es nach der drei Stunden full-house-Theater-Premiere tosenden Beifall, wie noch selten in Dortmund so erlebt. Für das Regie-Team, die Musik, die Revue, das Theater, die Satire hinter allem!
Vier Aufführungen gibt es noch im März!

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