Michael Spyres bekommt den Opera Award 2023 in der Kategorie Gesang!

Michael Spyres gewinnt den diesjährigen Opera Award in der Kategorie „Sänger“. Klassikfavori gratuliert und nimmt das zum Anlass, ein Telefoninterview vom März zu veröffentlichen. Michael Spyres war zu dem Zeitpunkt in New York, um in einer „Norma“-Inszenierung an der Met den Pollione zu geben. Anlass des Interviews war seine neue CD, die im April bei Warner Classics erschienen. Und Ihr Titel ist durchaus mit Humor zu verstehen, wie Michael Spyres in diesem Gespräch verrät. (Die Fragen stellt Sabine Weber)

Guten Morgen Michael Spyres nach New York! Was ist denn jetzt Ihre Tessitura, was sind Ihre höchsten und tiefsten Töne?

Oh Gott! … Mein tiefster Ton ist ein E, er liegt jedenfalls unter dem F des Bariton-Basses. Der höchste liegt drei Oktaven höher in der Sopranlage. Volle drei Oktaven, die lasse ich auf der neuen CD auch hören.

Ihre neue CD heißt „Contra-Tenor“. Woher kommt der Begriff? Ist das Ihre Wortschöpfung in Anlehnung an den Counter-Tenor?

Das ist witzig gemeint. Der Begriff existiert ja so nicht. Contra bedeutet im Deutschen und Englischen „gegen“. „Contra“ steht in der Kirchenmusik für eine Melodie, die der Tenor dagegen hält. In der Geschichte der Oper ist aus dem Tenor ein System von Fachkategorien geworden. Ich nenne es ein Hypersystem mit viel zu vielen Fächern.

.. zu vielen Stimmfächern meinen Sie?

Ja, wir haben alle zwei bis drei Oktaven und müssen uns doch nicht in so einem Fächerdenken einzwängen und beschränken.

Und das Fächerdenken schränkt vor allem die Tenöre ein?

Ganz genau!

Also bieten Sie mit Ihrer neuen CD den Überkategorien Kontra. Und erinnern an gefeierte Tenöre, die das Hypersystem gesprengt hätten, wären sie darin kategorisiert worden. Tenöre, so schreiben Sie im CD-Essay, wurden nicht erst zu ihren romantischen Heldenzeiten gefeiert, sondern bereits bei Händel und Vivaldi gibt es den Heldentenor.

Wer oder was hat Sie auf die Spur dieser vergessenen barocken Tenorhelden gebracht?

Über den BariTénor, Titel meiner vorigen CD, bin ich auf den in Italien so genannten „Tenore Assoluto“ gestoßen. Es gab Zeiten, in denen es in der Oper, neben den Kastrati und Sopransängerinnen, gar nicht so viele verschiedene männliche Interpreten gab. Es gab vielmehr den Sänger, der alles gesungen hat. Eine Buffo-Partie, einen komödiantischen Haute-Contre…, die Tenöre hatten sehr flexible Stimmen. Einer der größten dieser Ära war Anton Raaff, ein deutscher Tenor. Ich hörte von ihm in Bezug auf Mozarts „Idomeneo“. Er war der erste Idomeneo-Interpret und bereits 66 Jahre alt. Ich interessierte mich für ihn, weil ich es beeindruckend fand, dass er diese Rolle in einem solchen Alter singt! Dann bekam ich das Angebot, Mazzonis „Antigono“ zu machen. Auch zu hören auf meiner neuen CD. Ich bin heute die einzige Person, die neben Anton Raaff den Antigono jemals gesungen hat. Und das ist eine ziemlich virtuose Rolle. Es gab eine einzige „Antigono“-Aufführung in Lissabon 1755! Die Antigono-Partie wurde genau einmal von Raaff am dortigen Hof gesungen. Das war übrigens das Jahr des großen Erdbebens in Lissabon, in dem dann die Partitur erst einmal verschwand. Ich durfte das moderne Revival machen, weil das Manuskript wieder auftauchte, kurioserweise in Brasilien. Die Partie, die ja für Anton Raaff kreiert wurde, hat mein Gehirn angeworfen. Es muss also unglaubliche Tenöre gegeben haben. Denn das ist die virtuoseste Musik, die ich jemals zu Gesicht bekommen habe. Virtuoser als die für Kastraten, über drei Oktaven mit den verrücktesten Koloraturen. Mit den Kastraten mussten es die Tenöre ja aufnehmen. Und überflügelten diese sogar! (lacht)

Wer hat Ihnen bei der Spurensuche geholfen. Ein befreundeter Musikwissenschaftler? Ein Gesangslehrer? Oder hat Sie ein Erlebnis auf der Opernbühne auf die Spur gebracht?

Meine erste Barockoper war eben dieser „Antigono“ vor 13 Jahren in Lissabon. Die Stiftung Centro Cultural de Belém hatte das Manuskript am königlichen Hof in Brasilien auch wiederentdeckt und veranstaltete 2010 das moderne Revival. Das war meine erste Barockoper. Das seit 1755 nicht mehr aufgeführte Werk hat mich gefesselt. Allenfalls der BariTénor zu Rossini-Zeiten könnte mit den Anforderungen mithalten. Aber Rossini war war fast 100 Jahre später. Mit Anton Raaff, diesem „Tenore Assoluto“ habe ich verstanden, dass Rossini der letzte in einer langen Reihe von Komponisten war, die ziemlich virtuos komponiert haben. Also „Antigono“ hat meine Recherche ausgelöst.

Hat das etwas bei Ihrer eigenen Stimme ausgelöst?

Und das ist das Erstaunliche. Ich hatte eigentlich immer eine andere Stimme. Wenn Sie meine Sprechstimme hören, ist sie auch sehr tief. Tenöre reden doch meist hoch. Jetzt bin ich ein Tenor (lacht). Es hat mich 12 Jahre gekostet, ein Tenor zu werden!

Ein ganz schönes Stück Arbeit, aber es hat funktioniert. Warum wurden diese Tenöre „assoluti“ überhaupt vergessen? Einen Angelo Amarevoli oder Francesco Borosini kennt heute keiner mehr! Aber einen Farinelli, Caffarelli …

Moderne Sänger haben diese Stimmkategorie lieber vergessen. Es ist schon nicht so ganz einfach sie zu stemmen. Sie müssen mindestens zwei verschiedene Techniken beherrschen. Die Kombination der tiefen Stimme mit der „Voix mixte appuyée“, wie die Franzosen sagen. Dazu brauchen sie auch die Kraft eines romantischen Tenors, sagen wir wie bei Berlioz oder Wagner. Das zu kombinieren ist heute ungewohnt. Wegen des Fachsystems fängt jeder erst einmal an, die Stimme klein zu denken. Ein Heldentenor kann doch keine Koloraturen singen – das Dümmste, das man denken kann. Oder wer Rossini singt kann doch nicht lange Legatobögen hinbekommen. Doch, sie können, aber sie müssen hart an ihrer Technik arbeiten. Das wird vergessen. Ich bin der einzige und vielleicht noch einige Rossini-Baritenöre, die darüber nachdenken und reden. Vielleicht ist auch meine verrückte Karriere ein Grund. Zu moderner kommt die barocke Oper bis hin zu Rossini, Verdi und Berlioz. Die meisten haben sich nicht durch sechs verschiedene Techniken durchgearbeitet. Die großen damaligen Sänger haben non stop an ihrer Stimme gearbeitet und ihr ganzes Leben lang gesungen! Vielleicht sind wir heute viel zu abgelenkt. Heutige Sänger konzentrieren sich nicht genug auf die Technik. Das ist ein Fehler. Und deshalb hat man diese Tenöre vergessen!

Wie konzentrieren Sie sich denn auf Ihre Stimme? Haben Sie für sich eine besondere Technik entwickelt? Eine Maria Callas war gut, hat aber auf ihrem Material gesungen, was Konsequenzen hatte. Wie behält man seine Stimme so lang wie Anton Raaff? Wir wollen Sie auch noch mit 66 Jahren hören!

Das ist mein großes Ziel, eine lange Karriere! Es kommt nur auf Technik an. Ich bin als Bariton gestartet. Dann sagte einer zu mir, vielleicht sind Sie ein dramatischer Tenor, wenn sie älter sind. Aber was macht man, wenn man von 20 bis in die Mitvierziger, wenn die Stimme reif ist, wie meine jetzt. Das ist ein Problem. Ich wusste also 20 Jahre lang nicht, was mit meiner Stimme anzufangen. Also bin ich in jeden Job gesprungen, der mir angeboten wurde …

Und es ist Ihnen bekommen. Steigen wir mal in ein paar Rollen ein. Sie eröffnen Ihre neue CD mit einer Arie aus Lullys Persée. Lully und Rameau haben den sogenannten Haute-Contre in ihren Tragédies entwickelt. Was ist das Besondere an diesem französischen Tenor?

Diese Haute-Contres waren aufgrund ihres Stimmumfangs der Anfang des modernen Tenorfachs. Sie hatten einen enormen Stimmumfang, waren aber hohe leichte Stimmen. Die Tenöre waren in Deutschland bis Wagner auch keine lauten heroischen Heldenstimmen. Es gibt Ausnahmen, bei Weber vielleicht. Weil sie so flexibel in der Stimme waren, konnten sie Buffo oder der Vater sein oder der erfolglose Liebhaber. Händel hatte Tenorheroen, aber nicht in den Opern, sondern in den Oratorien. Im französischen Repertoire waren sie die führenden Stimmen, haben aber mehr auf die Aussprache des Wortes geachtet als auf die Lautstärke. Die durchschlagende Stimme wurde auf wenige Momente reduziert, wo dann auch die Orchesterpartien durchsichtig wurden und das zugelassen haben. Die Stimme konnte sich ganz anders entwickeln. Das finde ich faszinierend und wollte den Unterschied zwischen italienischer und französischer Schule auf der neuen CD hören lassen. Diese Schulen finden am Ende des Barock in der Mozart-Ära zusammen, wo Wort, Lyrik und Drama die Musik komplett ändern. Mozart hat alle Schulen aufgesogen und in eine neue Richtung geleitet. Das hat die Oper komplett geändert.

Der französische Haute-Contre Jean-Paul Fauchécourt pflegt einen extrem hellen, sehr kopfigen Klang. Kennen Sie diesen Sänger persönlich?

Nicht persönlich, aber sein Stil, seine Aufmerksamkeit für Details und Wortverständlichkeit sind eine gute Inspiration für mich gewesen.

Wie entscheiden Sie, wieviel Brust, wieviel Kopfstimme Sie in ihren Klang einmischen? Oder ist die Voix mixte tagesabhängig? Geht Höhe mal besser, mal schlechter?

Es ist immer eine Balance. Es ist nie volle Brust, nie reine Kopfstimme. Und sie haben immer das Problem, zwischen den Techniken der Bruststimme und der Kopfstimme auszugleichen. Sonst haben Sie Brüche und beginnen zu jodeln (jodelt und lacht).

Beeindruckend auf Ihrer neuen CD „Cessez de ravager la terre“ die Arie des Neptuns aus Rameaus Naïs, in der Sie zu Anfang und am Ende heftig wüten. Aber im sanft charmanten Mittelteil, da schläfert Neptun die bösen Winde ein, und Sie singen da doch nur mit Kopfstimme?

Das liegt an der Art der Orchestrierung, dass es so scheint. Rameau hat diesen Teil leicht instrumentiert, sodass die Kopfstimme allein funktionieren könnte. Aber es ist eine verbundene Kopfstimme. Es ist kein Falsetto. Meine Stimme ist immer eine Mischung, hier mehr Kopf- als Brustregister.

Wie entscheiden Sie, ob Sie ein hohes c – oder d – mit Kopfstimme einmischen oder nur im Brustregister schmettern? In der Arie des Antigono aus der bereits erwähnten Antigono-Oper hauen Sie den höchsten Ton im Brustregister raus. Und fallen dann regelrecht nacht unten.

Das ist die Magie der Technik! Ich nenne es „Nebel und Spiegel“. Auch wenn Leute meinen, nur Bruststimme zu hören, ist es gemischt. Es ist immer eine Mischung aus beidem. Das ist, was den Sänger ausmacht. Er ist ein Zauberer und lässt niemanden in die Kulissen hinter den Vorhang blicken.

Die gigantische Tonleiter am Ende dieser Arie, ist das eine Verzierung oder steht sie so in der Partitur ?

In der Partitur stehen zwei Oktaven. Und ich mache etwas im Sinne von „was du machen kannst, mache es“, und gehe so hoch und so tief wie ich kann (lacht). Das ist in dieser Zeit erlaubt, eine Quinte höher oder tiefer zu gehen in Bezug auf was notiert ist.

Also ist es Ihre Verzierung und wir hören Ihre drei Oktaven! Ist das frühe italienische – barocke – Belcanto-Fach fordernder als Bellini, Donizetti, Rossini?

Für mich ist es einfacher, nachdem ich Rossini gesungen habe. Rossini ist 100 Jahre weiter und das Mögliche ist immer weiter verschoben worden. Das Schwierigste sind und bleiben der hochvirtuose Rossini, Donizetti und Bellini. Sie prägen die anspruchsvollste Ära.

In den von ihnen ausgewählten Opera-seria-Arien hadern historische Könige. Der Titelheld in Händels „Tamerlano“, Vivaldis Artabano. Oder antike Kriegsfürsten wie in Galuppis „Alessandro nell Indie“. Alexander der Große. Wie fühlt man sich als heutiger Mensch in diese artifiziellen Belcanto-Typen ein? Was reizt den Menschen Spyres an den zum Teil auch mythologischen Gestalten? Hilft es, sich vor eine Barocktapete zu stellen, wie Sie das auf einem Bild im Booklet machen, und dann in den Spiegel zu schauen?

In den Anfängen der Oper wurden Götter porträtiert. In der Barockzeit fing es dann schon mit Halbgöttern an. Am Ende des Barock wurden es Könige und Königinnen. In Berlioz Zeiten Menschen, die nicht mehr nur Könige oder Königinnen sein mussten. Im Verismo sind es einfache Leute. Im Barock wird diese Entwicklung von Göttern, zu Halbgöttern, Helden und normalen Leuten vollzogen. Diese Ära macht die größte Entwicklung mit. Ich habe bei der Durchdringung der Charaktere viel gelernt. Mithridate oder die Halbgötter, mit dem, was sie repräsentieren. Ich schätze den Verismo. Aber für mich ist er intellektuell weniger fordernd. Da lerne ich nicht so viel. Und weil die grandiosen Welten von Göttern und Halbgöttern mir eigentlich fremd sind, muss ich meinen Geist mehr anstrengen. Und anders denken. Durch die Dramen der Barockzeit durch zu steigen, das hat mich in einer profunden Weise beeinflusst.

Hat das Sie mehr zu sich selbst gebracht? Die Götter tragen ja auch allegorische Eigenschaften von Menschen..

Es ist einfach wunderbar, in diese Zeit zurück zu gehen. Das ist eine Art und Weise, unseren Geist auszudehnen. Wir können uns erweitern, indem wir denken, wir wären Gott. Und schauen Sie sich um, Leute tun doch heute so als wären sie Gott! Und vieles von dem was wir tun, begreifen wir doch noch nicht einmal. Wir sind froh über die modernen Wissenschaften. Die Epoche der Allegorien hat uns die Wissenschaft gebracht. Außerhalb unserer eigenen Erfahrung zu denken, Vorstellungen von Gott und Menschen sind heute wichtiger denn je. Wir haben das Wundern und die Allegorie verloren.

Wie hat es Sie denn persönlich verändert. Nehmen Sie die Umwelt anders wahr mit diesem Bewusstsein?

Ja. Das ist auch der Grund, warum Oper so wichtig für mich ist. Oper ist eine Reflexion unserer Umwelt. Sollen wir uns nur daran orientieren, dass alles dem Abgrund zusteuert? Vielleicht brauchen wir wieder Wunder! (lacht)

Mir ist mal wissenschaftlich erklärt worden, warum US-Amerikaner keine Sprachen lernen könnten. Sie sprechen das Französische selbst singend mit den Nasalen perfekt aus, das Italienische sowieso. Haben Sie europäische Vorfahren, oder wo ein Wille, da ein Weg?

Bis zu meinem 23. Lebensjahr habe ich nur Englisch gesprochen. Dann bin ich nach Wien gezogen und konnte nur „Guten Tag“ sagen. Ich sang im Schönberg-Chor. Nach ein paar Monaten hatte ich schon einen österreichischen Akzent. Ich habe Sprachen mit Menschen inmitten von Menschen gelernt, da, wo ich gelebt habe. In Österreich drei Jahre, in Berlin ein Jahr, in Italien zweieinhalb und in Frankreich drei. Meine Persönlichkeit hat sich mit diesen Spracherfahrungen entwickelt. In den Neurowissenschaften wird inzwischen gemessen, wie verschiedene Areale des Gehirns durch Sprachen, durch das Deutsche oder das Russische, Französisch oder Italienisch aktiviert werden. Sie verändern durch Sprachen ihre Persönlichkeit. Wer ich bin, hat mit den Spracherfahrungen zu tun. Ich spreche zwar keine Sprache fließend, habe aber zu jeder eine bestimmte Verbindung. Und die Hälfte meines Lebens war ich in Europa.

Wie sind Sie zum Singen gekommen? Gab es da ein Erlebnis? Schon in ihrer US-amerikanischen Heimat Mansfield, Missouri? Gab es da ein Operntheater?

Ich habe mit der Familie gesungen, bevor ich laufen konnte. Meine Schwester ist heute Broadwaysängerin. Und mein Bruder und ich, wir führen eine Opernkompanie in Missouri. Ich bin der künstlerische Leiter, mein Bruder der Geschäftsführer. Wir haben vor zwei Tagen Don Giovanni aufgeführt. Ich musste aber nicht singen. Das war gut!

Ich dachte, Sie sind gerade an der MET?

Exakt, ich bin hin und her unterwegs. In Missouri arbeite ich gerade 20 bis 30 Stunden die Woche, damit die Oper dort stattfindet und die Kompanie weiter fortbesteht. Es ist eine kleine Kompanie, aber da habe ich angefangen.

Wie heißt die Opernkompanie?

Ozarks Lyric Opera. Vor acht Jahren sollte sie schließen, wie viele Opernhäuser in Amerika. Ich dachte, ich bin aus dieser kleinen Stadt, und mit der Oper hat sich mein Leben verändert. Ich helfe, sie am Leben zu halten. Ich werde da nicht bezahlt und arbeite umsonst…

Aber nicht an der MET!

Nicht an der MET, da nehme ich Geld fürs Singen.

Wer waren Ihre ersten Lehrer?

Meine Eltern. Vater und Mutter waren Sänger, und im Familienchor waren sie meine Lehrer, und im Orchester auch. Wir spielten alle Instrument, ich sechs bis sieben verschiedene. Ich bin also mit Musik aufgewachsen. Gesangsunterricht hatte ich von 18 bis 21. Seit meinem 21. Lebensjahr habe ich keinen Lehrer mehr gehabt. Mehr als die Hälfte meines Lebens bin ich mein eigener Lehrer gewesen. Vielleicht, weil ich etwas dickköpfig bin…

Drei Jahre ein Lehrer in den USA, und den Rest haben Sie sich selbst beigebracht?

Ja, Ja. Seit 23 Jahren…

Gesangslehrer können überflüssig sein. Einige der Arien, die Sie auf ihrer neuen CD vorstellen, gehören zu Rollen, die Sie auf der Bühne ausgeführt haben. Beispielsweise – jetzt sind wir schon wieder bei Mazzonis „Antigono“, diese Oper haben Sie unter Enrico Onofri auf der Bühne gesungen. Oder Mithridate von Mozart an der Royal Opera unter Christophe Rousset. Haben diese Erfahrungen Ihre Liebe zum barocken Belcanto reifen lassen?

Ja, und ich würde so gern Rameau aufführen. Ich liebe seine Opern. Italienischer Barock ist dagegen Spaß. Derzeit bewege ich mich zum größeren Repertoire Richtung Wagner. Belcanto würde ich gern machen. Aber angeboten bekomme ich Verdi und Wagner. Ich bin jetzt 44 und meine Stimme wird größer. Vielleicht wäre eine Mischung aus Barock, Verdi und Wagner meine Zukunft. Das barocke Repertoire bleibt für die Balance wichtig. In den nächsten drei Jahren habe ich keine italienischen Barockopern. Aber Händels Semele in diesem Sommer in München.

Haben Sie die Auswahl auf Ihrer neuen CD selbst getroffen und auch die Abfolge entschieden. Wie sind Sie vorgegangen?

Dieses Projekt begann, als die Pandemie ausbrach. Das „BariTenor“- und das „Counter-Tenor“-Projekt gehören zusammen.

Ich wollte die ganze Geschichte der Tenorstimme erzählen und habe mit den verrückten und bekannten Sachen angefangen. Die Hälfte Tenor-, die Hälfte Baritonarien. Aber für die komplette Geschichte brauchen wir auch Lully und Vivaldi. 250 Jahre männliche Stimme. Warner war begeistert. Ich habe beide CDs 2020 aufgenommen. Jetzt bin ich froh, dass „Contra-Tenor“ endlich erscheint. Es fühlt sich an, als sei eine Ewigkeit seitdem vergangen.

Wie sind Sie und das Orchester Il Pomo d‘oro zusammen gekommen? Das sind ja ausgewiesene Barockspezialisten und können französische Klang-Spielweise perfekt adaptieren! Haben Sie mit Pomo d‘oro auch schon einmal eine Oper aufgeführt?

Wir haben einmal Händels Theodora zusammen aufgeführt. Joyce Didonati war dabei, und wir wollten das gern aufnehmen. Ich habe Warner angesprochen, auch weil Joyce eine liebe Freundin von mir ist. Und jetzt bin ich glücklich, dass wir mit einem der besten Ensembles, das in allen barocken Genres perfekt ist, im Mai auf konzertante Tour gehen. Berlin, Montpellier, London, Antwerpen. Eine Inszenierung wäre der nächster Schritt.

Noch eine letzte Frage, weil Sie gerade in New York an der MET den Pollione in Norma neben Sonya Yoncheva singen. Pollione ist aber doch keine Contra-Tenor-Partie?

(Lacht) Nein, es ist eine Baritenor-Partie. Domenico Donzelli, der erste Interpret des Pollione, sang Barockes, aber auch die ersten großen Rossini-Arien. Bellini hörte ihn und sagte „ok! Wir brauchen diese Baritonkraft für meine Tenorpartie“. Donzelli hatte wahrscheinlich eine ähnliche Stimme wie Anton Raaff. Den Klang eines Baritons und die Technik eines Tenors. Franco Corelli oder Del Monaco, modernen Tenöre, mussten ihre Stimmen viel mehr für diese Rolle modifizieren. Diese Partie ist eine der wenigen, in die ich viel weniger Technik investieren muss als in andere Tenorpartien. In reine Tenorpartien muss ich viel Mathematik reinstecken … (lacht)

Und der Norma-Stoff, brauchen Sie da Mathematik um mit dem klar zu kommen?

Die Oper changiert großartig zwischen Religion, Naturheidentum und einem Krieg zweier Nationen. Gott ist tot. Aber wir haben ihn umgebracht, können wir die Sünden des Tötens abwischen? Auch Atheisten sprechen über Religion. Religion ist in unserer Gesellschaft. Religiöse Kriege sind überall. Norma ist herausfordernd. Menschen und Religionen kämpfen gegeneinander. Aber Liebe verbindet alles.

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