Das ist die ungewöhnlichste Buchfindung in meinem Regal. Auf dem Weg zum Supermarkt, an einer Straßenecke, steht ein Karton mit Büchern. Einfach so abgestellt. Das ist in Köln inzwischen Usus. Aussortiertes wird nicht weggeworfen, sondern zum Mitnehmen rausgestellt. Meist Plunder. Die Bücher sind aber liebevoll im Karton angeordnet, scheinen zu „warten“, und ziehen meine Hand magisch an. Eins ziehe ich dann ganz heraus. Beige-zitronengelber Einband – das Bild eines engelhaft in den Himmel blickenden Ritters, umringt von nackten Damen… (Von Sabine Weber)
Das ist der „Chevalier De Fleur“, mit dem die Kölner Oper ihre „Parsifal“-Premiere 1983 bewirbt. Das Buch erscheint drei Jahre später, 1986. Auch wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie 400 Jahre Musiktheater – laut Titel – in Köln zusammen kommen können, nehme ich das Buch mit. Zuhause schlage ich sofort das letzte Kapitel auf, das die Kölner Intendanz Michael Hampes (letzten November in Zürich verstorben) von 1975 bis 1983 belichtet. Insgesamt 20 sensationelle Jahre bis 1995 dauert sie an. Das Buch kommt 1986 heraus.
1983 ist genau das Jahr, in dem ich meine erste Oper in Köln erlebe. Ein hochbetagter Professor der Musikhochschule, Heinrich Lindlar, lädt mich, die blutjunge Schulmusikstudentin ein, ihn in die Oper zu begleiten. Was für ein Angebot! Eigentlich ist Lindlar Strawinsky-Experte, aber auch Wagner-Connaisseur. Und wir besuchen tatsächlich die Produktion, die mit dem Blumenritter auf diesem Bucheinband beworben wird. Regisseur Jean-Pierre Ponnelle, den Hampe an Köln bindet, hat damals schrecklich kitschig-naiv inszeniert, mit einem Riesengral in der Mitte der Bühne am Offenbachplatz. Das erinnere ich noch gut, habe aber damals noch keine Kritiken gelesen. Jetzt wird sie in diesem Buch nachgeliefert: mit „gemischten Gefühlen“ sei die Inszenierung aufgenommen worden, schreibt Carl H. Hiller, ein offenkundig journalistisch versierter Autor und Kenner der Kölner Opernszene. Waltraud Meier habe sich als Kundry aber „volle Anerkennung“ ersungen. Die große Waltraud Meier? Sofort suche ich nach dem Programmheft von damals, das ich wie ein Kleinod aufbewahre, es dokumentiert ja schließlich meinen ersten Opernbesuch. Und tatsächlich, der Besetzungszettel weist diese später große Wagner-Sängerin aus, die im gleichen Jahr ihr Bayreuth-Debüt gibt und gerade Mal 27 Jahre alt ist. Ihr Name hat mir damals noch nichts gesagt hat. Viele Jahre später, 2016, gibt sie bei den Berliner Festtagen unter Barenboim zum letzten Mal die Kundry und verabschiedet sich von ihrer Lebensrolle. Da bin ich dabei und voller Bewunderung für diese schöne Frau mit Schmerz und Aussage im Gesicht, mit betörender Weichheit und Wucht in der Stimme. Hiller hat mich daran erinnert, dass ich diese Ausnahmesängerin eigetnlich mein ganzes Opernleben schon kannte!
Hiller mit dem in Köln auch noch so klingenden Namen – Hiller heißt ein im Kölner Opernrepertoire vertretender Komponist und im 19. Jh. ein städtischer Kapellmeister – erinnert an manch Vergessenes und natürlich auch an seine Namenskollegen. Der kritische Hiller verschweigt auch nicht, dass der von ihm geschätzte Hampe selbst ebenfalls schrecklich kitschig inszenieren konnte. Aber auch für Sternstunden sorgt er in Köln. Der Hausherr-Regisseur verhilft dem Stadtsohn Jacques Offenbach zu dessen 100. Todestag zu einer international gefeierten „Les Contes D‘Hoffmann“- Deutung. Mit Placido Domingo in der Titelrolle und Edda Moser in allen Frauenrollen (Olympia, Antonia, Giulietta und Stella). Außerdem bringt er zum letzten Mal den Ring in der Wieland-Wagner-Inszenierung auf die Bühne. Ja! Wieland Wagner hat in Köln inszeniert! Als Bühnenausstatter hat er sich mit einer grotesken Höhlendarstellung zu einer Siegfried-Wagner-Oper 1939 in Köln sogar die ersten Sporen verdient, erfahre ich. Und seine ersten Regievisionen testet der Mitbegründer des sogenannten Regietheaters in einem Kölner Ring aus, bevor er sie nach Bayreuth trägt.
Kaleidoskop einer schillernden Operntheatergeschichte in Köln
Viele Details fügt Hiller zu dem schillernden Kaleidoskop der bürgerlichen Operntheatergeschichte in Köln. Das nimmt andere Wege als das höfische Residenztheater. Denn die Bürger reden mit! Da werden Batallions-Hauboisten fürs Opernorchester rekrutiert – und beschimpft, weil sie nicht ordentlich blasen. Ein 21jähriger Albert Lortzing, als jugendlicher Liebhaber und zweiter Tenor verpflichtet, als „junger Zierbengel mit einer Kastratenstimme“ verunglimpft, „die keiner Modulation fähig sei“. Hiller schreibt eher nüchtern reportierend und lässt die Anekdoten nonchalant fallen. Staunen-machend ist sein Name-Dropping: der Revolutionär Robert Blum ist in Köln Theaterkassier. Der Komponist Paul Dessau Korrepititor, der legendäre Walter Felsenstein hier Oberspielleiter. Carl von Schirach, Vater des späteren „Reichsjugendführers“, ist in Köln Regieassistent. Der Wagnertenor Bruno Heydrich, Vater des später berüchtigten Gestapochefs, hilft den Ruf der Wagnerstadt am Rhein zu festigen.
400 Jahre bürgerliches Musiktheater und noch mehr!
Bis zur Jahrhundertwende stammt mehr als die Hälfte der aufgeführten Opern von Zeitgenossen, deren Name heute keiner mehr kennt. Hiller listet Erst- und Uraufführungen mit Jahreszahl minutiös in einem Register auf.
Wie sich Singspiel, auch Operette und Oper formieren und mit Politik und Gesellschaft zusammenhängen, wegweisend, tragisch und auch kurios, ist unterhaltsam zu lesen und pikant garniert. Gerade weil sich der Opernkritiker durchdrückt, hochinteressant. 400 Jahre bürgerliches Musiktheater sind Hiller übrigens nicht genug. Bevor im hilligen Köln die Katholen eine frühe Begründung für das Musiktheater finden, bringen die Römer doch Mimus nach Köln und das Lustspiel mit Musik und Gesang. Im Mittelalter wird Mimus zum Possenreißer von Quacksalbern, auf Holzbühnen, die später Wanderoperntruppen nicht selten mitbringen und wieder abbauen. Das will man erst mal nicht glauben.
Was aus Hillers Buch auch noch zu lernen ist …
Hiller verfolgt mit Dokumenten und Fotos auch die Theaterbaugeschichte. Erst Bretterbuden an Kirchenwänden, eine Scheune aus Holz als erstes stehendes Theater. Dann aus Stein, nach der Reichsgründung 1871 neogotisch mondän, und zuletzt modern am Offenbachplatz. Die Bauzeit der Oper am Habsburgerring – nach dem letzten Stand der Technik – betrug sechs Jahre. Die der Oper am Offenbachplatz – mit technischen Defiziten schon damals – sogar nur drei Jahre. Deren Renovierung geht derzeit ins 13. Jahr. Dass 2025 der Betrieb wieder aufgenommen wird, ist für viele Kölner noch nicht ausgemacht… Wie gut, dass wir Kölner auf unsere Operngeschichte stolz zurückblicken können! Hiller hat sie wunderbar zusammengefasst.