Ambroise Thomas ist ein absoluter Theaterpraktiker gewesen. Aufführungen müssen funktionieren und das Publikum überzeugen. Eine eigene unverkennbare Handschrift ist hörbar nicht sein Ziel gewesen. Aber eine erstaunliche und für Dirigenten faszinierende Stilvielfalt entfesselt Thomas im Orchestergraben. Eine Wahnsinnsszene hat schon Donizetti in der „Lucia di Lammermoor“ 30 Jahre früher vorgemacht. Aber diese neue hat herausfordernde Güte, sodass sich selbst eine Maria Callas am Ende ihrer Karriere noch einmal in Ophélies Todeskampf geworfen hat. Thomas ist allerdings der erste, der das Saxophon in der Oper einsetzt, noch vor Héctor Berlioz in „Les Troyens“. Und er konnte für die Stimmfächer schreiben, für das dramatische ebenso wie für das Koloraturfach. Sein damaliges Publikum hat er begeistert. Und doch ist es heute alles andere als unproblematisch, seinen Hamlet auf der Bühne schlüssig zu zeigen. Es gibt jede Menge dramaturgische Brüche. Und am Ende weiß man gar nicht, warum wer sterben muss oder nicht stirbt. Thomas lässt Hamlet bei der Uraufführung 1868 überleben und vom Geist seines Vaters sogar zum König krönen. (Von Sabine Weber)
(15.12. Theater Mönchengladbach, 17.12. Opéra Comique, Paris)
Es war der ausdrückliche Wunsch des französischen Dirigenten Louis Langrée, für die jährliche Produktion mit dem Orchestre des Champs Elysées an der Opéra Comique Ambroise Thomas‘ „Hamlet“ zu machen. Und die Feuerwerke in dieser Partitur zu entfachen. Alle Opernstile des 19. Jahrhunderts werden hier gekonnt und souverän serviert. Als Kompositionsprofessor wusste Thomas, was sich für die Grand Opéra gehört. Natürlich ein Ballett – Gott sei Dank in beiden Produktionen gestrichen – und nicht zu umgehende Trinklieder! Thomas hat als Direktor des Pariser Conservatoires auch die Instrumentalklassen im Blick gehabt. Er schreibt ein ausgedehntes Hornsolo gleich im ersten Akt und wohl die größten Posaunensoli der gesamten Opernliteratur. Und ein Choral mit Saxophon, Horn, zwei Posaunen plus Tuba liefert einen unglaublicher Sound.
Mihkel Kütson, Generalmusikdirektor der Theaterunion Krefeld Mönchengladbach, hat die Niederrheinischen Sinfoniker und sein Ensemble bereits 2017 in den „Hamlet“ geworfen. Der estnische Dirigent hat schon für einige Opernraritäten gesorgt, Gian Carlo Menottis „Der Konsul“ etwa oder Michael Nymans Oliver-Sacks-Oper. Dieser Hamlet ist wieder eine Entdeckung abseits des gängigen Repertoires und hat für mehr als einen Achtungserfolg in Krefeld gesorgt. Derzeit wird in Mönchengladbach gespielt. Die Regiearbeit von Helen Malkowsky ist auch ein Wurf, der gekonnt durch diesen französischen Hamlet fährt. Das ist nicht leicht bei den dramaturgische Schwächen, die das Stück bei aller Begeisterung für die musikalische Wundertüte hat.
Mit einem überzeitlich symbolischen Bilderreigen auf einem kargen Bühnenpodest gibt Helen Malkowsky dem Stück einen Bogen, der auf den Schluss angelegt ist. Ein rotgoldener Thron als Machtsymbol hängt schief, wird schwer hinter sich her gezogen, steht von der Wand abstehend in den Raum in verzerrter Perspektive und fällt. Der Chor in barocken Fantasiekostümen rast als jubelnde Hofgesellschaft oder trauert auf und um ein schachbrettartiges Bühnenpodest. Der Krefeld Mönchengladbacher Hamlet ist ein jugendlicher intellektueller Typ in blauer Hose mit Gürtel und Hemd. Bariton Raphael Bruck steckt allerdings vom ersten Augenblick an in einer Depression. Das macht sein être ou pas être… nach einer Geistererscheinung, ganz wunderbar unter einem schräg goldenen Torbogen vorgetragen, allerdings sehr glaubhaft. Ophélie dagegen steht unter der Knute ihres väterlichen Zuchtmeisters und bleibt blass als Person und anorektisches Opfer.
Ganz anders in Paris, wo eine willensstarke Ophélie im weißen Marlene-Dietrich-Anzug oder im Cocktailkleid auf die Bühne steht.
Mit Sabine Devieilhe leistet sich der Stagionebetrieb der Comique eine – wenn nicht die – französische Diva im Koloraturfach. Längst hat sie die Nachfolge von Natalie Dessay angetreten. In der Wahnsinnsszene im vierten Akt liefert sie gestochen scharfe Halbton-Koloraturen und im pianissimo. Und wirft im einfachen Volkston die Strophen einer Ballade über die Willis dazwischen, jene gefährlichen Wassernymphen, die Frauen wie sie, die vor der Hochzeit verlassen werden, in die Tiefe ziehen.
In einer Wasservideoprojektion versinkt sie später auch. Davor hat sie aber auch eine bezaubernde Liebende gegeben, die in der ersten großen Arie der Ophélie mit einem hohen betörenden dreigestrichenen fis um Zuneigung bittet.
Mit Stéphane Degout steht ein zerrissener Hamlet neben ihr. Er verzweifelt an sich ebenso wie an allen Menschen, was er mit jeder wohlgeformten und immer wieder anders temperierten Phrase deutlich macht. Überhaupt kommt hier auch das französisch Nasale zum Ausdruck und wird richtig betont. Degout artikuliert gestochen scharf wie gesprochen. Regisseur Cyril Teste setzt auf minuziöse Personenregie und geht mit der Live-Videocam ziemlich nah heran. Da schwitzt die Falte, verschmiert das Make-up unter Tränen und verzerren sich die Mundwinkel über der Bühne auf einer Riesenleinwand. Dieser Hamlet hat aktuellen Zeitbezug. Hamlets Stiefvater ist ein medialer Herrscher in Anzug und Krawatte, der sich im Blitzlichtgewitter seiner Fans sehen möchte. Letzte Pinselstriche auf der Haut von der Maskenbildnerin werden im off der Opéra comique von der Livecam gefilmt und auf die Bühnenleinwand projiziert. Dann zieht der neue König von Dänemark frisch gepudert zum Fernchor der Hörner auch schon durchs Parkett zur Bühne. Für seine Frau Gertrude, die Mutter Hamlets, wird der rote Teppich ausgerollt. Ophélie und ihr Bruder Laertes in Admiralsuniform gehören zur Entourage. Hamlet dagegen kommt mit Hemd aus der Hose heraushängend und in Jeans und Turnschuhen als Enfant terrible ins Bild. Er irrt wie ein Fremdkörper durch einen Sektempfang. Die Livecam im Gesicht. Die Emotionen der Charaktere werden in dieser Inszenierung geradezu verfolgt. Womit die Regie durchaus den Intentionen der Musik folgt. Allerdings wird dadurch auch der immer wieder durchbrochene Handlungsstrang umso mehr unterstrichen.
Denn nichts, was durchlebt wird in den drei Stunden, hat wirklich Konsequenz. Immer wieder wird unterbrochen. Mit einem Spaß und Trinklied, wobei der Choeur les éléments in der Pariser Inszenierung mit nur neun Männern besetzt die Chanson bachique fast wie einen Comedian-Harmonists-Hit serviert. Auf die dramatische Todesszene Ophélies folgt ein völlig banales Loblied auf den Wein. Hamlet scheitert mit den schönsten Baritontönen vor sich hin, geht mal den Stiefvater an, dann seine Mutter, inszeniert ein Theaterspiel, das den Mörder enttarnt, Hamlet selbst wird zum Nestbeschmutzer, der erstmal wieder zurückrudern muss, was er ziemlich absurd mit einem Trinklied tut. Ein hin und her, das einen die wuchtige Katastrophenentwicklung der Strausschen Elektra schmerzlich vermissen lässt. Und bevor es zum Showdown kommt, rauft sich Hamlet auch noch schnell mit Ophélies Bruder. Wie schafft es dieser zaudernde Held überhaupt, zum Rächer und Mörder zu werden?
Thomas lässt den Geist des ermordeten Vater auftreten, der Hamlet zur Rache antreibt. Das ist natürlich eine Steilvorlage für eine Schauerszene, die Thomas auch musikalisch nutzt. In der Pariser Geisterstunde singt es sogar plötzlich aus der Mitte des Parketts. Ein toller Effekt, allerdings kommt der Vatergeist zu spät zum Showdown. Und der Pariser Hamlet kommt auch nicht zum Töten. Der König von Dänemark fällt freiwillig tot um. Womit das Ende in Paris ziemlich hauruckartig wirkt. Das stört die Pariser nicht, die ungehemmt jubeln, was sie übrigens auch schon nach dem ersten Trinklied begeistert getan haben.
Malkowsky bekommt für Krefeld ein schlüssiges Finale hin. Ihr Kniff ist die Einführung einer neuen Figur. Ein Hofnarr als primus movens agiert unentwegt auf der Bühne, regt an, widerspiegelt Gesten oder äfft sie nach. Eine ungeheure schauspielerische Leistung übrigens von Bass-Bariton Andrew Nolens, der dann auch die Geisterrolle aus diesem Spiel heraus übernimmt. Im Finale ist der Narr zur Stelle, wenn Hamlet den Vatergeist bittet, seine mordende Hand zu führen. Die Pariser Gesangssolisten sind natürlich genau für diese Produktion und die Rollen gecastet. Und das Orchestre des Champs Elysées wartet durch seine historischen Instrumente mit einer besonders gut abgestimmten Klangbalance auf. Selbst das Saxophon ist angeblich ein historisches Instrument gewesen! Das hat in Mönchengladbach gefehlt. Aber eine so geschlossene Ensembleleistung und runde Produktion wie die vom Theater Krefeld Mönchengladbach muss ein Repertoirehaus erst einmal hinbekommen.