Solistisches Violin-Repertoire ist hyperintensiv. Schon die Suggestion von Mehrstimmigkeit bei nacheinander gespielten Tönen, die sich im Ohr zu Melodien fügen, hat etwas Magisches. Akkordisches Spiel auf mehreren Saiten hebt die Limits der vier Saiten dieses Melodieinstruments auf. Ein „Trompe l‘oreille“, bei der die Hörer, so sie sich drauf einlassen, unwillkürlich mitwirken. Für die Solistin ist das Herausforderung pur. Die Anfang Dreißigjährige Liv Migdal aus Herne hat darauf eine souveräne Antwort. Direkt zur Rezension
Französische Barockopern sind Ausstattungsoper und auch heute Herausforderung für Regie- und Kostümfach nebst dem Bühnenbau. Das ist mit der letzten Rameau-Produktion „Les indes galantes“ der Pariser Oper im hauseigenen live-streaming-Angebot derzeit noch zu erleben. Die Zeitumstände schaffen neue Angebote. Für die nach heutigem Verständnis oft magere Handlung gibt es Orchestermusik vom Feinsten. Und mit Grandezza. Es rumpelt schauerlich im Tumult und pfeift in den höchsten lieblichen Tönen. Ein Gewitter muss immer sein. Ebenso sind elegante, pfiffige und kollektive Tanzeinlagen ein „muss“! Ein Riesenchor ist gefragt bei Angst und Schrecken. Eifersucht und Wut sind zelebrierte Gefühlszustände. Herzergreifende Liebesbezeugungen in den Airs tendres aber das i-Tüpfelchen! Das ist alles auf der neuen Einspielung von Chantal Santon Jeffery, begleitet vom Purcell Choir und dem Orfeo Orchestra unter György Vashegyi auch zu hören. Direkt zur Rezension
Ein Abend in New York? Vielleicht jetzt besser nicht! Diese Stadt steht unter Schockstarre. Sie gilt aktuell als das Epizentrum der Corona-Pandemie in den USA, derzeit sogar weltweit, wie ich gerade lesen musste. Da kommt die CD An evening in New York mit ihrem leicht melancholischen Sound gerade recht. Eine Stadt, einsam wie in „I am Blue“, der sanft swingt. Mitsamt gezupftem Banjo-Solo! (Von Sabine Weber)
Direkt zur Rezension
Refuge, Liv Migdal Violine
Zu allererst Ruhe! Heißt, eine völlig logische, ausgeglichene Bogenführung. Künstlich aufgeregte Töne braucht sie nicht. Liv Migdal lässt es fließen. Gleich im ersten Satz der C-dur Sonate von Johann Sebastian Bach für Violine solo. Bei glasklarer Diktion und sicher gesetzten Betonungen wird Unwichtiges, aber nicht Unverzichtbares, dem Vielklang subsumiert. Ob vor oder nach der Zeit untergebracht, wie auch immer arpeggiert oder tatsächlich zusammen gestrichen, was auf der Geige nur mit zwei Saiten eigentlich möglich ist. Im zweiten Satz klingen bei Bach Bordun-Saiten. Aber dann wird eine komplexe Fuge ausgelöst. Eine dreistimmige Fuge auf vier Saiten, wie geht das? Migdal lässt einfach das Bewegungsgefühl und -bedürfnis nie abbrechen. Sie singt das folgende Largo in aller Ruhe, nur mit ein paar mehrstimmigen Klängen ausgeschmückt. Erlaubt sich auch mal ein zartes Vibrato auf einem Ton. Der letzte Satz ist dann die ‚einstimmige‘ Befreiung. Es jagt mit Vivaldischer Leichtigkeit und bleibt doch zuverlässig kontrolliert und – natürlich – unverkennbar Bach.
Allein mit der Interpretation dieser Sonate BWV 1005 adelt Liv Migdal diese Einspielung beim Label GENUIN. Zur Zusammenstellung des hier in Kooperation mit dem Deutschlandfunk aufgenommenem Programms hat sich die ehemalige Menuhin-Stipendiatin durch ihr Vorbild Yehudi Menuhin auch inspirieren lassen. Menuhin hat die Bachsche Solosonate BWV 1005 und die Sonate Nr. 1 für Violine und Klavier von Béla Bartók in einem Konzert vorgetragen. Warum jetzt nicht deren Solosonaten verbinden? Menuhin hat die Solosonate, heute mit dem Szőllősy-Verzeichnis 117 gelistet, auch bei Bartók persönlich bestellt. Es ist ein zerklüftetes Werk und das rätselhafteste, vielleicht auch sperrigste dieser Aufnahme. Auch wenn Bartók sich an Bach orientiert hat. Aber jetzt kommen Flageoletttöne, Pizzicato-Technik, noch extremere Sprünge hinzu. Die Spielanforderungen sind enorm. Menuhin soll wohl gestutzt haben, als er diese Partitur das erste Mal sah. Diese Intensität ist eine neue. Gleich in der Ciaconna des ersten Satzes. Das Thema spielt sich mit großer Geste auf, spreizt sich bis es zersplittert in viele fragende Gesten, abgerissene, fordernde, und schreiende Motive. Immer wieder auch fragendes Nichts! Migdal lässt Raum für diese Fragezeichen. Und Melodiefetzen fängt sie mit einer traumhaften Sicherheit ein und führt sie wie eine Seelengefährtin weiter. Der zweite Satz, wie bei Bach auch eine Fuge, hat aber nichts von deren Ruhe. Wie mit einem Stecher gestanzt setzt Migdal die Töne. Bei ihr ist alles gestochen scharf, aber jetzt noch ein bisschen mehr! Und es gelingen ihr dennoch die kleinen in diese Unerbittlichkeit hineinkomponierten fast schüchternen Ausbrüche. Im pianissimo unterschwellig, wenn sich die Melodie unter den Stichen zu verflüchtigen sucht. Es schlittert abwärts und setzt wieder ein, alles mit super ruhigem Bogen und einer in jedem Moment überlegten Agogik, die auch kaum hörbare Zustände kennt. Melodia.Adagio hat Bartók den ruhigen dritten Satz überschrieben, der in ein Presto mündet, das mit einem Volkston-mäßigen Motiv aufstampft, aber die heile Welt an ein geisterhaft wuselndes Thema im pianissimo sofort preisgibt.
Liv Migdal geht mit einer Souveränität durch die Extreme dieser Klanglichkeit, dass es fast erschreckt im Programmheft ihren Text nachzulesen, in dem sie von einem „Sich Ausliefern an diese Musik“ spricht. Wenn dem so ist, hat diese Auslieferung zu einem neuen Zustand der Souveränität geführt. Sie gibt dieser Musik, die Menuhin als „aggressivstes und brutalstes Musikstück dieses Repertoires“ bezeichnet hat, eine menschliche Seite. Eine Entdeckung ist die Solosonate Paul Ben-Haims, alias Paul Frankenberger, der aus Deutschland nach Palästina emigriert ist. Er hat sich durch das Hörerlebnis von Bartóks Soloviolinwerk inspirieren lasse. Das Stück passt also in die Dramaturgie, ist weniger rau, eher verspielt. Einige Fragemotive Bartoks aufgreifend, liegt Ben-Haim mit seiner Sonate für Violine solo zwischen Bach und Bartók und vermittelt zwischen den Welten. In Zeiten verordneter Einsamkeit lässt diese Aufnahme von Liv Migdal spüren, wie intensiv dieser Zustand ist!
Brillez, Astres Nouveaux, Chantal Santon Jeffery
Rameau ist nicht der einzige Stern am französischen Opernhimmel geblieben, wie diese CD beim APARTÉ Label hören lässt. Da haben einige von ihm gelernt. Ein Bury, Royer, Cardonne oder ein Gervais. Kennen Sie die Namen? Vornamen haben sie nämlich nicht. Jedenfalls weder in der Titelliste noch im Begleittext zur CD. Hält das Centre de Musique Baroque de Versailles als Herausgeber dieser CD wohl nicht für nötig. Auch nicht eine deutsche Übersetzung. Schade, weil hier unbekannte Namen neugierig machen, zumal sie mit erstaunlicher Musik aufwarten. Bury, ich tippe mal auf Bernard, eröffnet mit einer dramatischen Ouvertüre aus seinen Les Caractères de la Folie, gefolgt von einer Air von Jean-Joseph Casanéa de Mondonville. Götter der Liebenden werden zu Hilfe gerufen. Worauf eine ländliche Musette tendre einen ersten Höhepunkt vorbereitet, in der kollektives Glücklichsein ohne Rang, Grad und Geschlecht von Rameau zelebriert wird, das einem die Sinne zergehen! Der Purcell Choir ist hörbar in Trance. Besser fühlten sich die Hippies nie. Rameau hat Le temple de la Gloire 1745 für eine Hochzeit komponiert. Und dann reißt mit Joseph-Nicolas-Pancrace Rover die Erde auf. Die Hölle kocht! Jean-Baptiste Cardonne lässt Omphale, alias Chantal Santon Jeffery wieder um Fassung ringen. Der Unterweltsgott Pluto muss erweicht werden. Das Orfeo Orchestra begleitet unter der Leitung des ungarischen Dirigenten engagiert, agiert feinfühlig hingebungsvoll mit der Solistin und folgt ihr in die jeweilige Stimmungslage. Die Kontrabässe grundieren satt im 16Fuss. Der Fagottist sorgt dann auch mal für eine gestrenge Basslinie, Traversflöten stehen für innige oder gefährdete Liebe, Vogelgezwitscher oder flatterhafte Vögel. Pauken und Trompeten für majestätischen Glanz. Chantal Santon Jeffery fordert alle heraus. Dabei bleibt ihre Stimme rund, ausgeglichen, formschön. Ohne Registerbrüche oder Mätzchen für die Höhe. Alles kommt mit der gebotenen Élégance, die diese Musik verlangt. Vielleicht hätte ich mir eine noch bessere Textverständlichkeit gewünscht. Es gibt ja derzeit einige Diven in diesem Repertoire. Sabine Devieilhe, die auch mit einer superben Koloraturtechnik aufwartet, oder Julie Fuchs. Und natürlich Véronique Gens, eine der ersten großen französischen Barockstars dieses Repertoires. Chantal Santon Jeffery fügt dieser Riege ihre eigene, edle Klangfarbe hinzu. Die CD, die mit der titelgebenden Arie „Brillez, Astres Nouveaux!“ aus Rameaus Castor et Pollux endet, fügt aufregende französische Opernmomente des 18. Jahrhunderts zusammen und macht sie zu einem großen Erlebnis.
An evening in New York
Diese CD ist bei JARO-Medien erscheinen. Einem deutschen unabhängigen Tonträgerunternehmen, das sich seit 1981 unermüdlich um Jazz- und Weltmusikereignisse kümmert. Darunter bekannte Bands wie Hazmadin Modine oder Huun-Huur-Tu aber auch die Warsaw Village Band, der Jazzpianist Jasper van‘t Hof aber auch Rachelle Garniez und Erik Della Penna, die mit der aktuellen JARO-CD uns musikalisch New York auf ihre Art und Weise einfach liebenswert machen. Dabei sind sie dem Buch „New York Past & Present“ gefolgt, einem Fotobuch von Ulrich Balß. Balß ist übrigens Gründer des Labels und hat das Buch unter JARO auch veröffentlicht. Das Buch erzählt die Geschichte eines Leipziger Buchbinders, der die Fotos aus den 1920er Jahren in dem Buch geschossen hat, abgemischt mit aktuellen Fotos von Balß. Dazu gibt es auf der CD jetzt die klangliche Kulisse aus dieser Zeit, mit Songs von Irving Berlin aber auch von Rachelle Garniez, die zu den besten Singer/ Songwriterinnen aus New York zählt. Und von Erik Della Penna, er war lange Jahre Begleiter von Joan Baez und J. Osborne. Beide singen, beide ergänzen sich mit Akkordeon, Banjo, Gitarre und Klavier. Mit melancholischem, stimmungsvoll leicht angetrübten Countrysong-Sound erzählen sie Geschichten über irische Einwanderer auf dem Jahrmarkt, über den Hochhaus-Boom oder den Zeppelin-Luftschiffbau – ist die Hindenburg nicht über New York abgestürzt? Das ist eine CD, die vergangene Zeiten vergegenwärtigt und auch ohne Schnickschnack und technische Manipulation aufgenommen ist. Sie ist eine wunderbare Solidaritätserklärung für New York, das hoffentlich wieder besseren Zeiten entgegen sieht. Ob die Live-Premiere dieses Programms in der für den 14. Mai 2020 in den USA angekündigten Tourneestart stattfinden kann, muss leider bezweifelt werden. Den Blues der CD haben wir Gott sei Dank!