(23. Mai 2015, Kölner Oper am Dom, Autorin: Lina-Marie Dück)
In der Inszenierung von Christof Loy steht die Auseinandersetzung mit den Rollenbildern von Mann und Frau im Vordergrund, zugespitzt in der Konfrontation der Protagonisten: Carmen und Don José, Carmen und Micaela, Don José und Escamillo. Loy präsentiert sämtliche Klischeebilder, beginnend mit Prahlerei und Beschützerinstinkt der Soldaten in der Kaserne. Macho-Gehabe von Männern in Uniform und natürlich dem Torrero Escamillo, der in paillettenbesetztem Anzug und mit Gefolge auf der Bühne einmarschiert. Geschwellte Brust und Prügelei – die Männlichkeit läuft zu Hochform auf. Die Frauen kokettieren, umgarnen, sind brave Schulmädchen oder hysterisch zankender Mob. Nur Carmen setzt sich ab. Die klassische Rolle des Weibchens empfindet sie als Zwang. Die romantisierte Vorstellung vom gemeinsam Leben des Liebespaares ist für sie nur „Schall und Rauch“. Sie will frei und unabhängig bleiben, das tun worauf sie Lust hat. Der Gegensatz zur biederen braven Micaela könnte nicht deutlicher sein. Und Don José ist gehemmt, verunsichert. Hin und Hergerissen zwischen Mutters Schoß und dem Wunsch nach Abenteuer.
Zum Symbol der Freiheit wird ein mehrmals im Hintergrund erscheinendes Bergpanorama. Die Schmugglerbande mit Carmen zieht sich tatsächlich in die Berge zurück, ihrem Schlachtruf „La Liberté“ folgend. Don José, hoffnungslos verliebt, wird mitgerissen.
Doch auch im Schmugglernest sind die Rollenbilder nicht abzuschütteln. Loy inszeniert seiner Konzeption treu die zweite Hälfte nicht historisierend als Bergdorf fern ab der Stadt, der Gesellschaft, sondern als Nachtclub mit roten Polstersesseln und Kronleuchter über dem Flügel. Weibliche Klischees begegnen erneut, wenn Frasquina und Mercedes in Burlesque-Kostümen von ihren Zukunftsträumen singen. Von einem Witwenleben in ererbtem Reichtum und Überfluss oder der romantischen Entführung im Sturm durch einen Don Juan!
Das Liebespaar Carmen und Don José scheitert jedenfalls, belastet durch solche Klischees, die nicht abzuschütteln sind.
Für die junge Österreicherin Katrin Wundsam ist das Debüt als Carmen eine große Herausforderung. Ihr klarer, zarter Gesang ertönt wie ein Glockenspiel. Bei den großen Arien wie der Habanera fehlt es ihr aber doch noch an Kraft und Durchsetzungsvermögen. Ihre Stimme wirkt sogar stellenweise müde. Auch schauspielerisch füllt Wundsams Interpretation die Rolle der Carmen nicht immer aus. Eindrücklich mimt sie zwar die von Carmen stets vorgespielte überhebliche Distanz zu den anderen. Ein spöttisches Lächeln prägt ihr Spiel, so wie die Widerspenstigkeit, die sich fast schon im kindlichen Trotz gipfelnd den von der Gesellschaft aufgezwängten Frauenrollen widersetzt. Aber Carmens erotische, feurige Seite schlägt zu wenig durch. Etwas mehr Leidenschaft und emotionale Wucht hätte auf der Bühne gut getan, um das rebellische Streben nach Freiheit auf der einen und die von exzessiver Liebeslust getriebene und ihre Erotik ausspielende Frau als Verführerin auf der anderen Seite mehr hervorzukehren. Spätestens für die Carmen in der finalen Szene im glitzernden Abendkleid, die Don Josés Wahnsinn und dem Tode ins Auge blickt, reicht ein spöttischer Ausdruck nicht mehr aus.
Lance Ryan verkörpert ganz passend den zugeknöpften, spießig-schüchternen Soldaten Don José. Sein Gesang zunächst etwas flach und gehemmt, steigert sich aber in der zweiten Hälfte kraftvoll zu einer gewaltigen, Tod-bringenden Raserei.
Claudia Rohrbach als Micaela füllt den weiblichen Gegenpart zu Carmen mit großer Präsenz und enormem stimmlichen Unterbau aus. Rohrbachs Micaela ist nicht nur die heimliche, sondern auch überlebenden Protagonistin. Und an diesem Abend sorgt sie vielleicht sogar für den Höhepunkt. Nicht Carmens tragischer Tod, sondern Micaelas verzweifelter – letzter – Versuch Don José zurück zu gewinnen rührt ungemein. Die Rohrbach gibt die feurige Verführerin, die weibliche Matadorin und ist mit Mimik und Gestik in diesem musikalischen Zwischenpart so überzeugend und eindrücklich, dass man ihr Scheitern auf schmerzliche Weise mitempfindet.
Das Sängerensemble wird vom Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Claude Schnitzler einfühlsam begleitet, mit behutsamer Zurückhaltung während der Arien unterstützt. In den Entre-Actes spielt es glänzend auf. Kleinere Patzer bei den Bleichbläsern, insbesondere gleich zum Auftakt der Ouvertüre, vergisst man da schnell. Herausragend vor allem die Celli, die bis auf eine leicht schiefe Carmen-Melodie im 3. Akt mit ihren gefühlvoll schmachtenden Bögen die Leidenschaft der Femme fatale auf der Bühne nie vergessen lassen…
Lina-Marie Dück