Fantasy-Mittelalter, Fantasy-Barock! „Siroe“ neu und „Ottone“ wiederaufgenommen bei den Händelfestspielen Karlsruhe

 

Georg Friedrich Händel und seine Librettisten bedienten sich, wie zu ihrer Zeit üblich, historischer Folien. Die Regisseure der 46. Internationalen Händelfestspiele in Karlsruhe legten für ihre beiden Produktionen weitere Folien auf. Interimsintendant Ulrich Peters für die Neuproduktion „Siroe“ Bilder aus dem Fantasy-Mittelalter der HBO-Serie „Game of Thrones“. Carlos Wagner in der bereits im letzten Jahr entstandenen Regie absurdes Barocktheater à la Fellini! Das funktioniert unterschiedlich! (Von Sabine Weber)

( 21. und 22. Januar 2024, Staatstheater Karlsruhe) Das persische Sassanidenreich im 7. Jahrhundert in Siroe, Re di Persia, sowie die Zeit der sächsischen Ottonen im 11. Jahrhundert in Ottone, Re di Germania spielen faktisch keine Rolle. Thronstreitigkeiten, also männliche Rivalitäten, garniert mit Liebesirrungen, Verwirrungen und Intrigenspiel sind ein überzeitliches Drama.

Wie unterschiedlich …

Händel setzt beide Male ein sechsköpfiges Ensemble ein: zwei Kastraten, heute Countertenöre für die Thronrivalen, zwei Sopranstimmen, eine Altstimme und einen Bass in Ottone, beziehungsweise zwei Bässe in Siroe. Erstaunlich aber, wie unterschiedlich die Musik einmal am Anfang und am Ende in Händels erster Opernunternehmung in London ausfällt. Im Frühwerk Ottone von 1721 sind die Arien weniger anspruchsvoll, fallen dafür lyrischer aus, sind durchbrochen gearbeitet, mit Pausen, harmonisch unerwarteten, manchmal bizarren Wendungen und Molleintrübungen, dazu Orchesterzwischenspielen.

Rafał Tomkiewicz (Siroe), Sophie Junker (Emira) Ks. Armin Kolarczyk (Cosroe). Statisterie. Foto: Felix Grünschloss
Erstmals ein Libretto von Metastasio

Mit Siroe vertont Händel 1728 erstmals ein Libretto von Metastasio. Zwei Brüder rivalisieren vor dem Vater um den Thron, wobei der rechtmäßige Thronerbe Siroe, der einzige mit noch ein bisschen Moral, allen Unbill auf sich zieht. Seine Geliebte Elmira ist nämlich die Tochter eines feindlichen indischen Königs, dem sein Vater, der persische König Cosroe höchst persönlich, die Adern aufgeschlitzt hat. Sie sinnt auf Rache. Laodice, eigentlich die Geliebte des Vaters, bekennt ihre Liebe zu Siroe, wird von ihm aber zurückgewiesen, worauf sie ihn beim königlichen Vater anschwärzt. Dazu kommt, dass Bruder Medarse ihn des Verrats beschuldigt, weil Siroe den Vater zwar vor dem Mordanschlag warnt, den Elmira verkleidet als Mann Idaspe plant, aber Elmira nicht verraten will. Er landet im Kerker und verliert fast seinen Kopf.

Bildzitate aus der HBO-Serie Game of Thrones

Das Nebelumwitterte, dunkeldüster-mittelalterliche Fantasy-Ambiente passt da perfekt. Und auch, ja, die Game-of-Thrones-Anspielungen. Der Thron mit den spitzen Eisenstrahlen wie Folterinstrumente als Dekoration inmitten des Bühnenbildes ist unverkennbar ein Bildzitat aus der HBO-Serie.

Ks. Armin Kolarczyk (Cosore). Foto: Felix Grünschloß
Das Bühnenbild wechselt rasant die Ansichten

Aber das ist eigentlich nicht so wichtig. Denn vor allem führt das düster-graue Bühnenbild mit Regie, oftmals mit Feuer und Fackeln „mittelalterlich“ beleuchtet. Eine Wand fährt vor und fährt eine Kammer mit Tisch und zwei Ritterstühlen oder den Kerkerausschnitt hinein. Die Drehbühne dreht rasant besagten Thron und die zertrümmerte Skulptur dahinter – der Kopf mit persischer Bartmode auf dem Boden, in dem ein Speer steckt, ist einziges „persisches“ Detail. Die Skulptur wird zum Turm mit Treppe. Es kann von oben runter gesungen werden. Dann senkt sich die Decke hinten schräg nach unten. Durch einen kreisrunden Bildausschnitt leuchtet ein Sternenhimmel. Ein Hoffnungssymbol in der immer dunklen Nacht. Wenn es in einer Arie aber heißt, die Sterne seien verdunkelt, schiebt sich ein projizierter grell leuchtender Drachen in den Ausschnitt. Klar, der Drache aus der Serie. Das Bühnenbild wechselt rasant die Ansichten.

So stellen wir uns das Fantasy-Mittelalter aber gern vor

Ob mit oder ohne Game of Thrones, das Bühnenbild treibt die Handlung mit an und begleitet die musikalische Verve dieser Oper, die ein großes Aktionspotential hat. Bühnenbildner Christian Floeren zeichnet übrigens auch für die fantasievoll und opulent sich einfügenden Kostüme verantwortlich. Feder- und Pelzkrägen besetzte Mäntel, Kampfuniformen mit asiatischem Einschlag, Pluderhosen und mittelalterlichen Helmen. Jede Menge Schwerter und Spieße. Die Schwerter klirren auch mal im kollektiven Nahkampf. (Kampfchoreografie: Annette Bauer) So stellen wir uns das Fantasy-Mittelalter gern vor.

Rafał Tomkiewicz (Siroe), Sophie Junker (Emira/ Idaspe). foto: Felix Grünschloss

Bis auf Gewitterblitze in der zentralen Kampfszene braucht Regisseur Ulrich Peter keine Projektionen. Seine „klassische“ Personenregie erklärt perfekt. Die Liebesbekundungen, die Nöte, die Verzweiflung, die Wut. Bei den immer neu ausgebreiteten Gefühlslagen in nicht zu kurzen Da-Capo-Arien, früher an der Rampe gesungen, ist das nicht leicht. Peters bewegt die Sänger und Sängerinnen, lässt ihnen aber auch Raum, ihre Koloraturen mit allem drum und dran „sängerkonform“ zu schmettern. Ihm gelingt ein funktionierendes Gleichgewicht zwischen Bewegung und nötigem Innehalten, das keinen Moment langweilig wird und vorhersehbar.

Händel hat genial vertont

Dieses Liebe-Hass-Verrat-Rache-Glückseligkeits-Drama von Metastasio ist aber auch ein genialischer Intrigenkomplott und große Charakterstudie zugleich. Die menschlichen Verwerfungen verstehen wir auch heute noch ziemlich gut. Nicht von ungefähr ist es eines seiner berühmtesten und meist vertonten Libretti, mit dem der eine Generation jüngere Metastasio in seine Karriere als Poet gestartet ist. Und der ältere Händel hat genial vertont. Pragmatisch, über weite Strecken ist die Orchesterpartitur nur zweistimmig. Aber so gut angelegt, dass in Bass- und Oberstimme der Streicher alle Effekte da sind! Selbst wenn die Violinen bei einer Bass-Arie verdoppeln! Ab und zu färben noch zwei Oboen und Fagotte – Holzbläser – den Streicherklang ein.

Attilio Cremonesi ist aber auch wirklich ein Händel-Könner. Die Deutschen Händel-Solisten laufen unter ihm zur Hochform auf. Gestalten einfühlsame Ritardandi, zelebrieren Schlusswendungen in den Arien, nehmen Tempo auf und spielen immer vom Punkt weg. Cremonesi bedient auch eines der beiden Continuo-Cembali und fällt mit kleinen Tiraden und Einfällen auf. Alle Tempi sitzen. Und Cremonesi lässt die nicht wenigen Rezitative so anschaulich begleiten! Chitarrone, Arciliuto, die beiden Cembali, ein Cellist, der auch mal akkordisch solistisch spielt, und ein Kontrabassist machen sie so lebendig, dass man sich die Dialoge fast wie in einem Shakespeare-Drama gesprochen vorstellen kann. Die absoluten Höhepunkte sind drei Moll-Arien – alles andere ist in Dur. Das Lamento der Laodice zu Anfang, Cosroes Gelido, in ogni vena und Siroes Deggio morire o stelle in der Kerkerszene. Beethovens Fidelio ist längst nicht der erste, der von einer Frau aus dem Kerker geholt werden muss.

Der Star des Abends ist Bassist und Ks. Armin Kolarczyk

Der Star des Abends ist Bassist und Ks. Armin Kolarczyk aus dem Ensemble des Badischen Staatstheaters. König Cosroe steht mit seiner Erscheinung im Zentrum. Kolarczyk stattet ihn stimmgewaltig aus, schleudert auch mal Koloraturen gestochen scharf in den Raum, bevor er im entscheidenden Moment herzzerreißend zusammenbricht. Das ist der Wendepunkt hin zum Lieto fine, dem glücklichen Ende.

Countertenor Rafaƚ Tomkiewicz ist als empathischer Siroe und Gutmensch einfühlsamer im Timbre als Medarse, Filippo Mineccia, der als dessen Bruder raubeiniger, volumiger und mit sicherer Höhe präsent ist. Sophie Junker als burschikose Mann-Frau Elmira/ Idaspe mit enormer Höhenkraft und Shira Patchornik als Laodice, die sich darauf versteht, das Da capo schön zu verzieren, machen die damaligen Diven Händels wieder lebendig, die Bordoni und Cuzzoni, für die Händel diese Rollen angelegt hat.

Nathanaël Tavernier (Emireno), Yuriy Mynenko (Ottone), Raffaele Pe (Adelberto), Sonja Prina (Matilda), Lena Belkina (Gismonda). Foto: Felix Grünschloß
In Ottone, Re di Germania gibt es eine Barockfassade im Shabby-Look

In Ottone, Re di Germania gibt es im Bühnenbild eine weiße Barockfassade im Shabby-Look mit Treppenaufgängen und Etagen rechts und links, unten eine Mauer wie bei einem Zwinger, wo sich eine Tapetentür öffnet und Solisten verschwinden können.

Warum führt Ottone bei seinem ersten Auftritt, Yriy Mynenko mit kraftvoll rundem Counter-Timbre, seltsame Qigong-Bewegungen aus, die nichts mit barocken Tanzgesten zu tun haben? Dann muss er auch noch zwei besiegte Gegner in widerlich arroganter Siegespose drangsalieren – im Arientext wird zwar das Wort „Folter“ in den Übertiteln übersetzt, aber es geht in der Gleichnis-Arie um die Stärke der Eiche, der der Wind nichts anhaben kann! Der Besiegte wahrt sein Gesicht. Will der Regisseur also den deutschen Sachsenkaiser desavouieren? Später gibt Ottone auch noch einen torkelnden Betrunkenen mit Flasche in der Hand, von zwei ebenfalls trinkenden Wächtern mit amateurhaftem Tanzgezappel begleitet. Das ist ein wirklich deplatziertes Bild und macht die Titelpartie wieder nur lächerlich. Dessen ungeachtet singt Mynenko sie wunderbar.

Raffaele Pe (Adelberto), Yuriy Mynenko (Ottone). Foto: Felix Grünschloss

Regisseur Carlos Wagner liebt seine Figuren offensichtlich nicht. Und wie die gigantischen Wellenprojektionen über dem Mittelpodest in der Bühne, die dann wie eine Schiffsreling anmutet, geistern die Charaktere wie in einer Fellini-Filmgroteske oder einem venezianischen Carnevale treppauf und -ab. Mit durchaus effektvoller Robe, die allerdings eher das zeigt, was sich jemand unter Barock vorstellt, wenn er keine Ahnung hat und übertreibt. (Bühne und Kostüme: Christophe Ouvrard)

Bei Altistin Sonia Prina  weiß man nicht, was man sagen soll. Den irritierenden Gesang macht sie allerdings durch Bühnenpräsenz wett. Der zweite Countertenor Raffaele Pe, der als Langobardenkönig verhindern will, dass Ottone seine Teofane, den Thron bekommt und in Italien Fuß fasst, scheint über weite Strecken nur zu markieren. Lediglich Spitzentöne schleudert er dann überlaut raus. Überzeugend ist das nicht. Auch er übt sich in übertriebenem Qigong-Gewedel und bleibt mit seinem Mantel auch noch unfreiwillig in einer völlig unsinnigen Lagerfeueratrappe hängen, die er dann mitschleift. Am überzeugendsten singen hier Bassist Nathanaël Tavernier und Lucia Martín-Carón als Teofane. Die Deutschen Händel-Solisten retten natürlich alles, auch wenn die musikalische Leitung von Carlo Idape nicht mit der von Cremonesi mithalten kann. Aber das Publikum in Karlsruhe ist großartig. Es liebt seine Händelfestspiele und feiert seine Händel-Opern, Sänger und Musiker. Und ist auch an diesem Abend begeistert!

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