Selten ist Fachliteratur so anschaulich geschrieben und so spannend zu lesen. Der Literaturwissenschaftler Stefan Matuschek wählt für seine Epochenbiografie über die Romantik auch einen unerhörten Startpunkt. Das sehnsüchtige und träumerische Klischee weist er von Anfang in seine populären Schranken. Matuschek geht es vielmehr um die in Vergessenheit geratenen Beiträge aus der Romantik zur Moderne. (Von Sabine Weber)
Und die Phänomene dieser Epoche macht er als fortschrittliche Ansätze, Bewegungen und Gegenreaktionen begreifbar. Europäisch gesprochen: als eine Reaktion auf die Französische Revolution. Als Kritik auf die darauffolgenden reaktionären frustrierenden Entwicklungen. Sie wurde beflügelt durch die Entstehung des Prosa-Romans, der zu nie dagewesenen Lesetrends führt, und nicht zuletzt die Entfesselung einer neuen Gattung als Gegenreaktion und ein Sich-befreien vom bislang dominierenden und einengenden Regelkanon über die Dichtung. In Deutschland passiert das im frühromantischen Jenaer Kreis um die Brüder Schlegel und Schleiermacher. Ludwig Tieck, Novalis und E.T.A. Hoffmann spielen mit. In England Lord Byron, obwohl er sich selbst nicht als Romantiker empfunden hat. Vergleichbar mit Goethe, dessen Wilhelm Meisters Lehrjahre als „eine der größten Tendenzen des Zeitalters“ bewundert wurden. James Macpherson, Urheber des Ossian-Kultes, und John Keats, der Vampir-Erfinder, sowie William Blake gehören auch in den Reigen. In Frankreich Chateaubriand, Victor Hugo… Foscolo und Manzoni in Italien. Kategorien sind der Weltschmerz, das Fantastische, die Subjektivierung der Religion als Kunstandacht, der Schauerroman, Volk und Volkstümlich oder die Erfindung der germanischen Mythologie. Die Germanistik entsteht als neuer wissenschaftlicher Zweig und versteht sich zunächst auch als „Germanenkunde“.
Ausnahmslos Stoffe und Figuren, deren sich Komponisten bedient haben
Trotz Fokussierung des Ansatzes sind der Aspekte also gewaltig viele. Stefan Matuschek fächert sie in seinem Buch vom Überblick hin zur Detailgenauigkeit mit Zielrichtung sukzessive auf. Ein Kapitel versorgt mit dem Wissen, das es für das nächste braucht. Differenzierung folgt mit weiteren Details. Dazu bekommen auch Diskussionen über Definitionen, über das, was Romantik bedeute, vor allem in Deutschland, Raum. Kurze Werkbeschreibungen und Einführungen in zentrale Werke (Ur-Typen der Romantik: Hamlet und Don Quichote) führen in die Ergebnisse ein. Und es sind fast ausnahmslos Stoffe und Figuren, deren sich Komponisten bedient haben. Die Ossian-Mode, jene Balladen, die von James Macpherson einem altgälischen Dichter Ossian in den Mund gelegt wurden, griffen Mendelssohn und Brahms auf. Der literarischen Vampir-Erfindung lässt Heinrich Marschner eine Vampir-Oper folgen. E.T.A. Hoffman, Mitbegründer des Schauerromans, vertont de la Motte Fouqués Undine. Sie geht in Berlin im Bild von Schinkel über die Bühne. Und die gotische Kathedralen-Optik sei nicht vergessen. Die Gotik, bzw. Mittelalterverliebtheit ist eine weitere Spielart der Romantik, die Victor Hugo in seinem Roman Notre-Dame de Paris (deutsch: Der Glöckner von Notre-Dame) so bedient hat, dass die verfallene Notre-Dame-Kathedrale tatsächlich restauriert wurde. Hoffmanns Nachtstücke nach Grafiken Jacques Callots (in Callot‘s Manier) haben Gustav Mahler inspiriert, wie auch die Liedtexte aus Des Knaben Wunderhorn, das den Volkston als Utopie pflegt, für Matuschek eine ästhetische Kategorie „gegen das Feindbild des Gekünstelten“, das sich als natur- und lebensnahe Dichtung gegen die tonangebenden Eliten richtet.
Dass Matuschek ausgerechnet mit einer Analyse von Eichendorffs Mondnacht eröffnet, macht es Musikern und Musikbegeisterten leicht, einzusteigen. Robert Schumanns nach diesen Versen vertontes Lied ist die musikalische perfekte Umsetzung der romantischen Stilphänomene, die Matuschek uns hier jenseits gängiger Klischees nahebringt!