RT24: Chorwerk Ruhr durchsetzt die Essener Mischanlage mit Naturzuständen

Wer noch nie in der gigantischen Mischanlage der Kokerei des Unesco-Weltkulturerbes Zeche Zollverein in Essen gestanden hat, kann sich keinen Begriff davon machen. Inmitten einer gewaltigen rostigen Eisenorgel – daran erinnert das Bild der Gesamtarchitektur, wenn man sich vom Parkplatz aus nähert – befindet sich diese Mischanlage. Eine Anlage mit drei begehbaren Ebenen, die täglich aus 23.000 Tonnen Revier-Rohkohle, über ein gefühlt kilomenterlanges Förderband transportiert, die Substanz von 7500 Tonnen Koks für Hochöfen gemischt hat.
Die Trichterebene mit 9 oder 12 quadratisch nach unten zulaufenden Beton-Filtern, jeder knapp 10 Meter hoch, bilden das Zentrum. Darüber, auf neu errichteten, begehbaren Stahlstegen, und darunter, um ein installiertes Wasserbecken herum, inszenierte das Chorwerk Ruhr sein Ruhrtriennalenprojekt „Abendzauber“. Mit Caspar-David-Friedrich-Bildern, einer Eis-Installation, deren schmelzendes Wasser durch einen Trichter ein Becken ganz unten füllt und Chormusik von Bruckner sowie in Chorbearbeitung der isländischen Sängerin und Komponistin Björk begleitet war die Anlage wie noch zu erleben! (Von Sabine Weber)

(23. August 2024, Mischanlage Zollverein) „Machen Sie bitte ein Caspar-David-Friedrich-Selfi“ von uns, also vor Panorama mit Rücken im Bild. Drei Frauen stehen ganz oben auf der Aussichtsplattform der Mischanlage, die als erstes treppauf erklommen wird. Am Eingang waren Friedrich-Bilder auf Bildschirmen zu sehen gewesen. Männerrücken, Meeres-, Gebirgs- oder Waldimpressionen zugewandt. Ein Gedicht, über Lautsprecher am Treppengelände übertragen, erzählt von Seegestade und süßen Träumen im Mondschein. „Da träumte ich zu schweben, empor zum Himmel“. In rund 30-40 Metern Höhe ist man im Revier oben angekommen, das aber nicht nächtlich dunkel, sondern erstaunlich grün ist. Es ist auch noch hell. Die ersten vier Gruppen starten zeitversetzt um 15 Uhr. Die nächsten drei um 19.30 Uhr.

Chorwerk-Ruhr-Männerchor in schwarzer Knappschafts Uniform der Essener Bergleute

Die runden Bergkuppen in der Ferne erinnern an Kohlehalden. Und schon fordert der Lautsprecher auf, in die erste Ebene einzutreten. Drinnen ist es dunkel, man tastet sich vorsichtig vorwärts. Plötzlich Licht. (Licht-Design Aleksandr Prowaliński)

Foto: Christian Palm, Ruhrtriennale 2024

Der Chorwerk-Ruhr-Männerchor in schwarzer Knappschafts Uniform stellt sich um eine Eisskulptur, in der Zweige und Vögel zu kunstvollen Stillleben eingefroren sind. Er intoniert den gehörten Abendzauber, wiederholt also die im Treppenhaus gesprochenen Verse, die Anton Bruckner einst für den Wiener Männergesang-Verein unter dem Titel Abendzauber vertont hat. Die Dichtung stammt von Heinrich von Mattig.

Die Zuschauer bewegen sich zwanglos

Es ist Bruckner-Jahr, vor 200 Jahren wurde Bruckner geboren. Für seine Sinfonie-Schlangen und seine geistlichen Chorwerke ist er berühmt. Aber wer kennt die weltlichen Chorkompositionen von Bruckner? Eine gute Idee, die poetisch-naturverhafteten Männerchöre, die in der Romantik Mode wurden, in dieser Kulisse mal hören zu lassen. Ich höre diese Bruckner-Lieder zum ersten Mal. Bis zu sechsstimmig sind Der Abendhimmel, Sternschnuppen oder Um Mitternacht. Die Chorherren spielen ein bisschen holzschnittartig Ritual, schütteln kollektiv weiße Taschentücher und stecken sie ein, nehmen die schwarzen Kappen mit Boa-Feder ab und setzen sie wieder auf. Ziehen zur neuen Formation nach rechts und wieder zurück. Die Zuschauer bewegen sich zwanglos. Ein Begleitkollektiv achtet dezent darauf, dass keiner die Musiker stört.

Die eingeschlossenen Pflanzen im Eisblock hat der Regisseur Krystian Lada persönlich aus der Umgebung der Mischanlage gesammelt. Die ausgestopften Tiere sind aus einem Nachlass und eine Weiterverwertung im Sinne der Nachhaltigkeit. Foto: Christian Palm, Ruhrtriennale 2024

Das schmelzende Eis tropft wie ein Bächlein in Wannen, es rumpelt und rauscht immer wieder von fern, von unten, von oben durch die Hallen, als würde das fallende Kohlengemisch in die Trichter tosen. Das interagiert mit der romantischen Poesie, entlarvt die Traumbilder als nicht real. Von unten sind auch Frauenstimmen zu hören. Ein Kind singt aus der Ferne Der Mond ist aufgegangen. Regisseur Krystian Lada, zugleich künstlerischer Programmdirektor der Ivo-van-Hove-Triennale, hat sich das ausgedacht. Und auch eine Sandkünstlerin eingebunden und zwei Gestalten, die mit Haaren vorm Gesicht zwischen den Besuchern herumgeistern.

Der Männerchor singt von oben
Foto: Christian Palm, Ruhrtriennale 2024

Sie beleben nebst einem Waldschrat in der Ecke die Mittelebene. Und da blickt man in die gigantischen Riesentrichter hinein, steht an deren schroffen Betonwänden. Nebel wabert hinauf. Eine Gestalt wie ein Sumo-Ringer blickt von unten nach oben durch ein vergittertes Fenster und öffnet immer wieder den Mund wie ein stummer Fisch. Man hört den Männerchor oben singen. Es wird applaudiert. Er kommt von der nachfolgenden Gruppe. In der untersten der drei Ebenen befindet sich ein Nebel-durchflutetes Wasserbecken mit dem geschmolzenen Eiswasser. Der Sumo-Ringer entpuppt sich als nackte Frau, begleitet von einem nackten Mann. Jetzt ist der Frauenchor von Chorwerk-Ruhr dran, der in fleischfarben und enganliegenden Kostümen für Chorarrangements von Björk ins Becken zur Urmutter steigt. Oder Adam und Eva? Von der Urnatur handeln wohl die Björk-Songs, die von Carline Shaw und Marc Schmolling für diese Ruhrtriennale arrangiert wurden, deren Text man aber kaum versteht. Es genügt vollauf, dass die Klänge  die männliche Industriearchitektur verweiblichen.

Über die gewaltige Architektur wird an diesem Abend gestaunt

Inwiefern Natur als vergewaltigt erlebt wird, bleibt die Frage. Aber sind die beschworenen Naturbilder der Lieder nicht schon seit der Romantik Sehnsuchtsbilder, und sind es wohl bis zu David Longstrength Beautiful Mother, Björks Sorrowful Soil, Wanderlust und Desired Constellation geblieben? Der gigantischen Stahl-Industrie verdanken wir den Fortschritt und unseren heutigen Wohlstand. Die gewaltige Architektur wird an diesem Abend großartig bespielt. Und dass die Natur ächzt, davon künden auch die Lieder nicht. Ach ja, das Kind hat einmal wütend geschrien. Eine kleine Anklage war dann doch in diesem Abendzauber…

Heute und morgen ist der Abendzauber noch zu erleben. Es lohnt sich!

 

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