Die Ankunft in der Bochumer Jahrhunderthalle stimmt nicht mehr so euphorisch wie früher: Kreisverkehr, Leitsystem, Parkhaus, gläserne Vorbauüberdachung: die einstige Industriebrache ist für den Kulturbetrieb zivilisiert worden. Früher wurde die Halle mal durch matschige Wegstrecken im Gelände, gefühltes Revier, erreicht. Das waren noch Zeiten. Die unschöne Abservierung des Intendantenteams Stefanie Carp/ Christoph Marthaler durch Antisemitismus-Vorwürfe seitens der Landesregierung ist auch noch nicht vergessen. Die Vorwürfe erwiesen sich damals als überzogen. Das NRW-Ministerium von Pfeiffer-Poensgen führte dann eben Corona als Grund für die Absage einer gesamten Spielzeit an, die Salzburger und Bayreuther Festspiele mit deutlich kleineren Spielstätten fanden statt. Die nachfolgende Intendanz von Barbara Frey blieb wohl nicht ohne Grund experimentierfrei und flach.
Jetzt also ein neuer Anlauf mit dem belgischen Regisseur Ivo van Hove und gleich zwei Musiktheaterpremieren am Eröffnungswochenende: Philip Venables „The Faggots and Their Friends Between Revolutions“ für 15 Multitasking-Sänger-Schauspieler-Tänzer-Improvisateure nach einer queeren Hippie-Vorlage aus den 70ern. Und Filmstar Sandra Hüller als Interpretin von PJ Harvey, einer Songwriterin, aus deren Werk Ivo van Hove einen Ablauf konstruiert und unter dem Titel „I Want Absolute Beauty“ in Szene gesetzt hat. (Von Sabine Weber)
(17. und 18. August, Jahrhunderthalle Bochum) Die Faggots und Sandra Hüller als mitteilsamer Pop-Rock-Star! Longing for Tomorrow ist doch das Motto, das Ivo van Hove ausgibt. Und verbal-lastig mit Utopien für ein besseres Morgen waren auch beide Musiktheaterwerke am Eröffnungswochenende. Musiktheater? Sandra Hüllers Show bestand eigentlich nur aus von ihr performten Songs. Umtanzt von einer neunköpfigen Kompanie aus Jugendlichen, die eigentlich gar nicht zu der reifen Frau passten (Choreographie: (LA)HORDE).
Ivo van Hove hat die Lieder aus den Konzept-Alben der britischen Songwriterin PJ Harvey zusammengestellt. Vier Musiker in der Ferne der Riesenbühne agierten phonstark hinter einem gewaltige elektronisches Equipment im Hintergrund. Geigenspiel konnte da wie Saxophon klingen. Die durchaus poetisch gefassten Sätze bekommen zumeist heftige Beats, werden von der omnipräsenten verstärkten Gitarre und reduntanten Harmoniefolgen getragen, die Sandra Hüller mal wie Patti Smith, dann wie Tina Turner, auch mal nur sprechend und hauchend als Solistin krönte.
Beeindruckend, dass sie so gar keine Diva ist, und doch eine ungeheure Bühnenpräsenz hat und Erfahrungen wie das Verstoßen-Sein, Kriegsschinderei, Lieblosigkeit in der Familie oder Ausgrenzung in der Gruppe durchaus gestisch-mimisch zum Ausdruck bringen kann. Mal wie ein Rockstar mit Mikrostange jonglierend, hüpfend wie Mick Jagger oder ausgeflippt schreiend. Allein die pure Verdopplung der beschworenen Bilder der Songs durch die Choreografie und Video-Animationen kreierte keine Handlung, wenn auch einen bewegten Ablauf. Den Begriff „Musiktheater“ zu bemühen, mit dem einst Walter Felsenstein komplexe Avantgardewerke von der herkömmlichen Oper absetzen wollte, scheint hier etwas hoch gegriffen. Allein, das Publikum im ausverkauften Saal lässt sich von Sandra Hüller packen, die die anderthalb Stunden quasi durchsingt und agiert. Der letzte Song beschwor die Flut, das Fließen, so ist es eben trotz all der gesellschaftlichen Verwerfungen.
Eine durch-deklamierte schwarz-bunt-Parabel
Philip Venables Musiktheater hat ebenfalls keine Handlung, sondern lebt von einer durch-deklamierten schwarz-bunt-Parabel, wofür 15 Sänger, Instrumentalisten, Tänzer oder Performer verantwortlich zeichnen. Die Geschichte: eine Gruppe von Individualisten (faggots, eigentlich ein Schimpfwort für Schwule, es könnte auch als eine Metapher für individualistische Paradiesvögel verstanden werden) lebt glücklich und friedlich, bis böse Männer ihre Wälder zerstören, sie vertreiben, und eine Stadt erbauen, um zu herrschen. Immer wieder besinnt sich die Gemeinschaft im Untergrund der (Nächsten-)Liebe, verbündet sich mit den ebenfalls unterdrückten Frauen, assimiliert sich mit der Herrscherwelt, lässt sich ausbeuten, trennt sich wieder.
Die Botschaften sind denkbar platt und geben doch hier und da zu denken. Man spürt eben die 70er, reist aber vor allem durch Venables Musikbilder, die mit Elementen der Renaissance, frühbarocken Lautenliedern, Violinsoli, Madrigalen bis zur militärischen Einhandflöte plus Trommel, Techno und Rave spielen: alles fließt in einander über. Cembalo, Klavier, eine Viola da gamba sehr präsent, sind dabei, eine irische Harfe, Bass- und Altflöte, Gitarre, Theorbe, zwei klassische Sängerinnen, ein Countertenor. Alle singen und spielen, sprechen aber die meiste Zeit. Vermitteln Botschaften. Mit Techno wird die alte Magie mit Pulver und Flüssigkeiten beschworen. Das löst dann eine Drogentrance-Szene im Stroposkoplicht aus. Der Magie-Euphemismus hat Witz.
Die Transgender-
Frau in engen roten, pinkfarbenen oder goldenen Schlauchkleidern versucht als Conférencier auch Witz ans Publikum zu vermitteln.
Im Programm werden übrigens nur die Namen der Mitwirkenden aufgelistet, nicht deren Zuordnung zu einem Instrument. Es wird wohl vorausgesetzt, dass man die Mitwirkenden bereits aus den vorausgegangenen Aufführungen in Aix-en-Provence oder den Bregenzer Festspielen kennt. Das Netz ist voll davon, und da werden die Mitwirkenden wohl noch zugeordnet. Die Kritiker wissen sie im Netz Instrumenten zuzuordnen. Das Publikum zeigt sich begeistert von dem Plädoyer für die Andersartigkeit. Um die Jahrhunderthalle herum laufen einige aufreizend gekleidete Männer herum und zeigen sich stolz.
Toleranz, das dürfen wir ruhig immer wieder üben, auch wenn die Botschaft leicht platt daher kommt. Auffällig allerdings, dass Ted Huffman in seiner Inszenierung alles vermeidet, was mit Erotik zu tun haben könnte. Im Gegensatz zur Sandra-Hüller-Show, die viel Fleisch zeigt und damit auch spielt.