Die große Feier bei Prinz Orlowsky

„La Chauve-Souris“ – „Die Fledermaus“ – geht in Lille in neuer französischer Fassung über die Bühne und begeistert!

Die deutschsprachige Operette Nummer eins funktioniert auf französisch formidable, denn in dieser Produktion ist der Text von Agathe Mélinand musikalisch passgenau neu übersetzt worden, Laurent Pelly, der französische Offenbach-Spezialist, führte Regie, in einem sensationellen Bühnenbild von Chantal Thomas, sodass die Wände wackelten. Im Graben Johanna Malangré, seit 2022 Cheffe d’orchestre in Amiens, die ihr Orchestre de Picardie nach Lille mitgebracht und auf Walzer, Galopp und Csárdás eingeschworen hat. (Von Sabine Weber)

(4. Juni 2024, Opéra de Lille, Premiere) Auch wenn die junge Dirigentin Johann Malangré das Orchester voll im Griff hat. Etwas gewöhnungsbedürftig bleibt der französische Johann-Strauß-Klang schon. Obwohl alles da ist, sogar die Verzögerungen der Drei als Walzerauftakt, auch die ständigen Tempowechsel exzellent funktionieren, es bleibt überdeutlich und es fehlt ein bisschen der Wiener Schmäh. Am Anfang jedenfalls. Aber Johann-Strauß-Melodien reißen mit, und hat man sich einmal eingehört und dem Bühnengeschehen überlassen, wird man von dieser französischen Chauve-Souris-Vorstellung in Lille voll und ganz mitgerissen. Musiziert, gesungen und vor allem gespielt wird großartig. Das Publikum im ausverkauften Neobarocken Theater im École-des-Beaux-Arts-Stil, trotz der 1130 Plätzen hat es eine intime Atmosphäre, geht immer mit!

Sich belügen, reinlegen und hintergehen…

Die Bühne von Chantal Thomas besteht aus Zimmerwänden, die sich verschieben, öffnen, zur Seite fallen. Dazu schiefe Ebenen auf dem Boden oder eine knatschgelbe Zeltbox, in die sich die

Kurz vor der Verhaftung...
Julien Dran (Alfred), Camille Schnoor (Caroline), Franck Leguérinel (Tourillon). Foto: Simon Gosselin

Feiergesellschaft, im zweiten Akt der Chœr de l’Opéra Lille, zwängt und diese fast sprengt. Im dritten Gefängnis-Akt schwankt sogar die Decke, will sagen, alles ist aus den Fugen geraten. Diese Spaßgesellschaft hat jegliche Dimension verloren. Zum größten Plaisir gehört ja auch die Camouflage, sich zu belügen, reinzulegen und zu hintergehen.

Herrlich komödiantisch, burlesk bis klamaukisch…

Genau das stellt Laurent Pelly, auch verantwortlich für die Kostüme, köstlich heraus, charakterisiert dabei jede Person aufs deutlichste, ohne Tagesaktualiät zu bemühen. Er lässt einfach herrlich komödiantisch, burlesk bis klamaukisch agieren, aber nie die Grenze des haltlos Überbordenden überschreiten. Die tollkühnen Herren und Damen sind lächerlich und bleiben doch immer liebenswert. Die Frauen stecken in aufwendig geschneiderten, bonbonbunten und neckischen Kleidern, schulterfrei und mit Schlitz bis in den Schritt sowie Tournüre auf dem Popo. Die Männer im Smoking zeigen allesamt mal ihre weiße Unterwäsche.

Hervorragende Sängerleistung
Ein wildes Durcheinander
Julien Dran (Alfred), Guillaume Andrieux (Gaillardin), Camille Schnoor (Caroline). Foto: Simon Gosselin

Guillaume Andrieux als von Eisenstein, in dieser französischen Fassung heißt er Gaillardin, ist der tollkühnste und agilste unter den Männern, wird er doch zum Schluss auch vorgeführt, von der Gesellschaft zum Spielball degradiert und hin und her geworfen. Zum Schluss fliegt er tollkühn abserviert von der Bühne. Das Ende ist in Lille nicht versöhnlich und doch zum Lachen. Camille Schnoor als Caroline, Gaillardins Frau, agiert als aufgeregt hysterische Dame und bekommt ihre Rache, in der Mittellage wunderbar ausgeglichen, in der Höhe manchmal forciert. Ihr Liebhaber Alfred, mit strahlendem Tenor Julien Dran ist draufgängerisch fordernd zur Stelle.

Adele
Camille Schnoor (Gaillardins Frau) Foto: Simon Gosselin

Marie-Eve Munger als Adèle, Hausmädchen und Möchtegernkünstlerin, bekommt ihrer halsbrecherischen Koloraturen wegen, die sie spielerisch kokett auch zur Darstellung einsetzt, zu Recht Riesenapplaus und Héloïse Mas spricht exaltiert lispelnd den lebensmüden und leicht dekadenten Prinz Orlofsky, hier steckt die Hosenrolle in einer aubergine-lilafarbenen Samtlivrée. Mas‘ umwerfendes Mezzotimbre, als sie/er dann plötzlich singt, haut einen fast um.

Prinz Orlowsky
Héloïse Mas (Prinz Orlofsky). Foto: Simon Gosselin

In dieser französischen Fassung ist der Gefängniswärter Frosch mit einem Schauspieler besetzt, der angeblich im Akzent der Sch’tis spricht. Aber die Szene ist im Vergleich zu deutschen Aufführungen kleiner. Da wird meist ein tagesaktuell sich auslassenden Komiker oder Satiriker geboten. Was nicht immer gut geht.

Zurück zur französischen Vorlage

Seltenst wagt sich ein französisches Haus an deutschsprachige Operetten, gibt es doch Jacques Offenbachs Bouffes im heimischen Angebot. Dass die Operndirektorin der Opéra de Lille Caroline Sonrier in dieser letzten Produktion der Saison 23/24 auf Die Fledermaus gesetzt hat, war eine Wagnis, hat ihr aber zum Abschluss der Festsaison „100 Jahre Opéra de Lille“ einen Erfolg beschert. Zumal sie in dieser Produktion daran erinnert, dass Die Fledermaus sogar französische Wurzeln hat. Von der ersten Vorlage zur Fledermaus, dem Schauspielstück Das Gefängnis vom Leipziger Komödienautor Roderich Benedix und in Berlin 1851 uraufgeführt, stellten nämlich die Offenbach-Librettisten Henry Meillac und Ludovic Halévy eine französische Schauspielfassung her. Unter dem Titel La Réveillon 1872 veröffentlicht, wurde dann zwei Jahre später von Mit- und Vorarbeitern von Johann Strauß eine taugliche deutsche Operettenvorlage entwickelt.

Die französische Fassung – eine Zugnummer in Frankreich

Agathe Mélinand, langjährige Mitarbeiterin im Operetten-Team von Laurent Pelly (siehe Die deutsche Bühne), hat für Lille zurückgeschaltet und eine französische Übersetzung mit Sprachwitz an der Réveillon-Fassung orientiert. Daher auch die veränderten Namen. Mélinands französischer Sprachfluss schmiegt sich perfekt an den melodischen Charme von Strauß. Auch die Dialoge hat sie neu geschrieben. Diese Fassung erweist sich jetzt in Lille mehr als Repertoire-tauglich, sogar als Zugnummer, nicht zuletzt, wenn man die Reaktion der Zuschauer als Maß nimmt. In der ausverkauften Opéra de Lille wird die Begeisterung nicht zurück gehalten. Auch die die junge Dirigentin Johanna Malangré wird bejubelt, eine von derzeit drei Cheffe d’Orchestre (siehe Interview klassikfavori) an einem festen Haus in Frankreich. Im anhaltend rhythmisch klatschenden Applaus muss der schwarze Vorhang runterfahren.

Schlußapplaus
Begeisterung auf der Bühne, im Graben und beim Publikum. Foto: Jukka Höhe

Am 13. Juni wird der Live-Mitschnitt ab 20 Uhr auf 15 Riesenbildschirmen in Frankreich gratis übertragen.

Weitere Aufführungen finden statt am Donnerstag 6 Juni 20h; Sonntag 9 Juni 16 Uhr , Dienstag 11 Juni 20 Uhr , Donnerstag 13 Juni 20 Uhr, Samstag 15 Juni 18 Uh , Montag 17 Juni 20 Uhr.

Weitere Informationen hier.

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