Verdis „Don Carlo“ in Essen: Robert Carsen inszeniert eine klaustrophobische Vision der Ausweglosigkeit

Der Vorhang des Essener Aalto-Theaters hebt sich und das Publikum ist sofort gefangen genommen. Nicht im Sinne von Erfreuung oder Faszination. Beklemmung mit Blick auf den klaustrophobischen Raum! Ein kahler, von rohen Betonwänden begrenzter Raum. Die Perspektive ist „steil“, die Verkürzung nach hinten erzeugt „Sog“, das Publikum wird hineingezogen. Kein Entkommen möglich. (Von Jukka Höhe)

(Premiere am 12. März. Besuchte Vorstellung am 30. März 2022, Aalto-Musiktheater Essen) Die Geschichte ist dunkel. Wohl die dunkelste unter allen Verdi-Opern. Verdi hat für die dieser Inszenierung zugrunde liegenden Mailänder Fassung (1884) gegenüber der Pariser Version von 1867 den ersten Akt gestrichen, der die Liebesbegegnung zwischen Don Carlo (Gaston Rivero) und Elisabetta im Fontainebleau schildert. Elisabetta hat hier also schon zu Beginn der Liebe zu Don Carlo entsagt. Um der Staatsraison zu genügen hat sie Carlos Vater Filippo (Ante Jerkunica), den regierenden König Spaniens, geheiratet, ohne ihn zu lieben. Carlo und Elisabetta verzehren sich weiter nach einander, im Bewusstsein, das sich ihre Liebe nicht erfüllen darf.
Carlo ist einsam, am Hof isoliert, seinem Vater entfremdet und von ihm kaltgestellt. Die Rückkehr seines Freundes Rodrigo, des Marquis von Posa (Jordan Shanahan), aus Flandern erweckt in ihm Hoffnung. Posa möchte ihn dazu bewegen, sich für die Rechte der verfolgten Protestanten in Flandern einzusetzen. Doch schon bald zeigt sich die Doppeldeutigkeit von Posas Charakter: er wird zum Vertrauten von Filippo. Welches Ziel er verfolgt bleibt rätselhaft. Die Zwiespältigkeit dieser Rolle zeichnet Robert Carsen in seiner Regie in zurückhaltender, aber dafür umso überzeugenderer Weise – bis hin zu einem überraschenden Schlussbild.

Die Unmöglichkeit des Zusammenkommens

Überhaupt sind es die Zweier-Beziehungen zwischen den fünf Hauptprotagonisten, die das Alleinsein des Einzelnen und die Hoffnungslosigkeit ihrer Situation herausheben.

Die unerfüllte Liebe

Carlo und Elisabetta lieben einander, dürfen es jedoch nicht. Er muss sie als Frau seines Vaters sogar „Mutter“ nennen.

Gabrielle Mouhlen (Elisabetta), Gaston Rivero (Don Carlo). Foto: Hans Jörg Michel

Prinzessin Eboli (Nora Sourouzian) liebt Carlo und glaubt, weil er sie mit Elisabetta verwechselt, ihre Liebe könnte sich erfüllen. Umso tiefer ihre Verletzung nach der Abweisung, die sie zur Rache anstachelt. Eine Rache die sie später bereut und in die Verzweiflung und die Einsamkeit des Klosters treibt.

Die zweifelhafte Freundschaft

Trotz seiner Vertrauensstellung bei Filippo beteuert Posa immer wieder seine Treue zu Carlo. Aber warum? Sind solche Beteuerungen nötig, wenn Freunde sich wirklich vertrauen?
Das Vater-Sohn-Verhältnis:
Nach Elisabetta hat Filippo auch Posa an sich gebunden. Carlo also die Geliebte und den Freund entzogen. Und berät mit dem Großinquisitor (Karl-Heinz Lehner) darüber, ob er seinen Sohn der Inquisition opfern dürfe.

Ante Jerkunica (Filippo II.). Foto: Hans Jörg Michel

Diese Zweier-Konstellationen, die die Einsamkeit der Figuren umso mehr betont, arbeitet Carsen präzise heraus, indem er in den Duetten, Trios und Quartetten die Figuren gemeinsam singen, aber nicht zueinander kommen lässt: sie stehen oft isoliert nebeneinander, frontal dem Publikum zugewandt. Was sonst als „Rampensingen“ verpönt ist, wird hier zum Spiegel des nicht Zusammenkommen-Könnens.
Das „isolierte“ Ensemble-Singen lässt die Arien umso wirkungsvoller zur Geltung kommen – besonders berührend am Beginn des dritten Akts Filippos berühmter Klage über seine unglückliche Ehe und seine Verlassenheit; das Gleiche gilt für Prinzessin Ebolis Reue angesichts ihrer Schuld.

Die Essener Inszenierung, eine Koproduktion mit La Fenice in Venedig, ist von außergewöhnlicher Qualität. Wesentlich dafür ist aber nicht nur die Leistung des Ensembles und der Essener Philharmoniker unter der Leitung von Andrea Sanguineti, sondern auch die kongeniale Zusammenarbeit von Regisseur Robert Carsen mit Bühnenbildner Radu Boruzescu und Petra Reinhardt, die die Kostüme entworfen hat. Die Schwarztöne der Kostüme und das betongrau-klaustrophobische des Bühnenraums ermöglichen es Carsen erst, seine dunkel-existentialistische Deutung Verdis umzusetzen.
Entstanden ist eine erschütternde „Opéra Noir“, deren Klänge lange nachhallen und deren Bilder lange im Gedächtnis bleiben.

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