Traumatische Erfahrungen musikalisch fassungslos eindrücklich! Stöppler setzt sie in der deutschen Erstaufführung von Saariahos „Innocence“ in Gelsenkirchen auch brillant um!

Wie kann aus dem Attentat eines Schülers auf Mitschüler, bei dem Mitschüler und ein Lehrer erschossen werden, ein Musiktheater entstehen? Kaja Saariaho weiß wie. Konnte das! Saariaho ist letztes Jahr in Paris verstorben. In ihrem letzten Bühnenwerk „Innocence“ untermalt, transportiert und begleitet sie mit vielschichtig, auch perkussiv aufgerauten und angetriebenen, stets fließenden Klangbändern ein fiktiv-real (nicht bezogen auf ein konkretes) Massaker an einer internationalen Schule in Helsinki (die gibt es wirklich). Beziehungsweise den Status der Verarbeitung der ausgelösten Traumata durch das Massaker 10 Jahre danach. Nein, ein Täter tritt also nicht auf, das Attentat ist nicht zu sehen. Das fordert Kaja Saariaho im Libretto vorneweg. Bei der Uraufführung 2021 auf dem Festival in Aix-en-Provence war er als stumme Rolle dennoch präsent. Regisseurin Elisabeth Stöppler hat zusammen mit Bühnenbildnerin Ines Nadler und Kostümbildner Frank Lichtenberg für das Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen eine bessere Idee. (Von Sabine Weber)

(1. Dezember 2024, MiR – Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen) Es fallen keine Schüsse und fließt kein Blut. Traumatische Erlebnisse werden durch Erzählung wachgerufen und reagieren im Bühnenbildraum von Ines Nadler. Zwei Etagen mit durch Neonröhren abgrenzte offenen Räumen. Ganz links ein angedeuteter Verhörkasten mit einem Stuhl, auf dem immer wieder einer sitzt und erzählt. Die Neonlettern im Hintergrund sind plakativ. Unschuld als proklamierter beworbener Anspruch bleibt eine unerfüllte Sehnsucht!

Die Librettistin ist eine Traumaspezialistin
die Komponistin Kaja Saariaho in ihrem Atelier ind Paris.
Kaja Saariaho. Foto: Maarit Kytöharju

Acht Jahre hat Kaja Saariaho mit der Librettistin Sofi Oksanen, einer Krimibuchautorin und Traumata-Spezialistin am Plot gearbeitet. Die Tragödie, ist nicht real, aber auf die vielen im Netz aufzurufenden nachvollziehbar. Saariaho war es ein Bedürfnis, dieses brandaktuelle Thema aufzugreifen. Schließlich gehört Finnland zu den Ländern mit den meisten Waffen im Privatgebrauch. Einen Namen hat sich Saariaho eigentlich für höchst poetische Opern-Stoffe gemacht. L’amour de Loin über die Fernbeziehung eines Troubadours zu seiner Angebeteten im Mittelalter oder in Only the sound remains, mit zwei Nō-Theaterstücken, die Ezra Pound aus dem Japanischen übersetzt hat.

In Sippenhaft und mitschuldig

In ihrem letzten Werk Innocence geht es um Traumaverarbeitung, um posttraumatische Belastungsstörungen und ob sie überwunden werden können. Viele reden davon, aber was bedeutet das? Ein durch ein lebensbedrohliches Ereignis ausgelöster Schock verursacht das Trauma, das Überlebensstrategien auslöst. Das Trauma frisst sich später in die Psyche und den Körper. Sicher kein Zufall, dass die T-Shirts der Schülerstatisten die ukrainischen Gelb-Blau-Farben haben. Eine Hochzeit ist der Rahmen und schafft Fallhöhe. Tuomas, der ältere Bruder des Attentäters, hat in Rumänien seine Braut kennen gelernt. Er, auch Mutter und Vater, hoffen darauf, 10 Jahre später endlich Normalität in ihr Leben zu bekommen. Ein Neuanfang, denn sie sind seit dem Attentat von der Gemeinschaft lang genug ausgegrenzt, in Sippenhaft für mitschuldig erklärt worden.

In Gelsenkirchen gibt es keinen Schonraum

Aber die Hochzeit wird eingeholt. Schüler mit ihren Störungen und Ticks mischen sich ins Bild, erzählen von Angst vor Türen im Rücken, vom ständigen Weglaufen wollen, ihren Schwierigkeiten am normalen Leben teilnehmen zu können. Sie schieben Schultische und Stühle für ein simulierte Schulsituation zurecht. Es geht auch um die Frage, hätte das Attentat durch Reaktion auf die Auffälligkeiten des Schülers verhindert werden können. Damit setzt sich eine Lehrerin immer wieder auseinander. Oder hätten Schüler Mitschüler retten können. Immer wieder funken die Schüler mit ihren posttraumatischen Bewegungsmustern ins Bild der Hochzeit, überlagern sie.

Heftige Attacken der Schülermutter. Sie schüttet der Brautmutter ein Glas Wein ins Gesicht.
Katherine Allen (Brautmutter) und Hanna Dóra Sturludóttir (Kellnerin). Foto: MiR

Im MiR gibt es nämlich keinen Schonraum, keine schützenden Wände für niemanden. Alles ist offen. Auch zum Publikum hin. Auf die ahnungslose Braut geht die Mutter einer erschossenen Schülerin als zufällige Kellnerin ziemlich rabiat los. Dieser Familie gönnt sie keine Hoffnung, weil sie selbst sie verloren hat. Auch die unschuldige Braut wird eingeholt durch monströse Konfrontationen. Die Vergangenheit holt alle ein.

Authentische Darstellungen

Wenn man das Libretto liest, wird einem die Vielschichtigkeit nicht sofort klar. Erst die verzweifelten in Szene gesetzten Bewältigungsstrategien der 13 beteiligten Charaktere auf der Bühne machen das. Regisseurin Stöppler hat sich damit intensiv auseinandergesetzt. Und die unerhört einfahrenden, aber nie überwältigende Musik Saariahos tut ihr übriges. Was in Gelsenkirchen derzeit zu erleben ist, darf vom psychologisch-psychiatrischen Standpunkt aus als genial dargestellt und authentisch gelten. Das bestätigt Dr. Claudia Sauter im Nachgespräch. Sie ist Chefärztin der Vestischen Kinder- und Jugendpsychiatrie in Datteln.

Unerwartete Schockmomente

Die Komplexität der verstörenden Erfahrungen von Schülern, deren Angehörige, in der Attentäterfamilie, nicht zuletzt des Täters, der extremes Mobbing erlebt hat und durch gestörte Elternbindung keine Empathie erlebt durfte, und entwickelt hat, macht betroffen. Welche Schuld trifft uns eigentlich? Zuletzt outen sich eine Mitschülerin und der Bruder als Mitschuldige, denn sie haben den Attentäter unterstützt. Finden gut, dass er seine Peiniger erledigt hat.

Ein perfekter Saariaho-Sound in Gelsenkirchen

Wie sich die Gesamtsituation im Detail immer weiter auffächert und dabei die Sicherheit pulverisiert, was wahr und was richtig sein könnte, wird durch die im Gegenzug einnehmende führende Musik geradezu genial konterkariert und wieder eingeholt. Würde sie verdoppeln wäre der Effekt verdorben. Genau das bannt die Zuschauer. Der Mann neben mir sitzt auf der Stuhlkante, wie die Frau auf der anderen Seite. Die Neue Philharmonie-Westfalen unter dem Finnen Vallterie Rauhalammi versteht sich auch perfekt auf den Saariaho-Sound, der oft aus der Tiefe sich wie ein gigantisches Tier erhebt und in den höchsten Tönen zittert und flirrt.

Regie- und Klangspannung

Stöppler wiederum passt die Bühnenaktionen dem Musiktiming bis in kleinste Gesten hinein an. Jede Person ist zudem ein glaubhafter, verstörender nachvollziehbarer Charakter, hält sich an Rucksäcken wie Kuscheltieren fest (Sebastian Schiller, Sprechrolle), läuft unentwegt, auch auf der Stelle, weil das sein internalisiertes Fluchtmuster ist (Pablo Mejia), wacht unterm Bett auf (Erika Hammarberg)… Wenn Begegnungen stattfinden sind sie hochexplosiv. Das Chorwerk Ruhr sitzt wie Studenten im Chemiesaal hinter in austeigenden Reihen. Nur die singenden Köpfe sind zu sehen. Die summen in Clustern die Namen der Beteiligten. Auch das sorgt für Klangspannung.

Mit gesunder Theaterdistanz sich einem „kranken“ Thema nähern

Der Enthüllungen in diesem Krimi werden immer mehr. Und ein spontaner Impuls stellt sich irgendwann ein. Dieser Komplexität wird man nicht Herr/ Frau? Lieber alles verschweigen, weil viel zu komplex! Aber genau das ist für die Betroffenen falsch, ist  tatsächlich aber eine häufige gesellschaftliche Reaktion, die hier auch zur Sprache kommt. Die überlebenden Opfer trüben mit ihren Erinnerungen das heile Gesellschaftsbild. In dieser scheinbar so realen Versuchsanordnung lassen sich Erfahrungswerte gewinnen. Oder mit dieser „Simuliation“ wie Stöppler sagen würde. Das gibt uns Zuschauern die Möglichkeit, mit gesunder Theaterdistanz diesem Thema zu begegnen, dem wir im realen Leben besten Falls nie begegnen. Aber die Traumatisierten sind unter uns. Das sollten wir wahrnehmen. Diese Produktion lädt ein, zu verstehen. Beziehungsweise hinzuhören.

Jugendliche Darsteller und der Sänger-Schauspieler-Cast beeindrucken

Eine Stunde und fünf Minuten dauert Innocence, das am Theater im Revier in Gelsenkirchen am 28. September 2024 seine deutsche Erstaufführung erlebt hat und in dieser fünften Vorstellung auch zum Gespräch danach einlädt. Aber die abgefragten theoretischen Erläuterungen der Psychiaterin sind zwar wertvoll aber fast ein Zuviel. Denn die innerlichen Emotionen kochen noch. Vor allem die jugendlichen Darsteller haben betroffen gemacht. Natürlich hat auch der großartige Sänger- und Schauspieler-Cast beeindruckt, zumal in 9 Sprachen gesprochen und gesungen wurde.

Stehende Ovationen und ein dankbares Publikum

Und wieder ist erstaunlich, was Musiktheater zu leisten vermag. Diese Produktion  trägt zu einem gesellschaftlichen wichtigen und virulenten Thema bei. Traumata durch Schulmobbing, durch Missbrauch, und wozu das führen kann, wenn wir wegschauen oder es verschweigen. Wo und wie fängt es an? Und was gehört noch dazu? An die kriegstraumatisierten Kinder aus Palästina oder der Ukraine will man am liebsten nicht denken.

Der Titel von Kaja Saariahos letzter Oper Innocence leuchtet in Neonlettern über der Bühne
Jeder trägt Mitschuld. Foto: MiR

Am Ende müssen alle an einen Tisch. Nur gemeinsam und miteinander gibt es Lösungen, die hier allerdings sehr individuell ausfallen…

Gelsenkirchen zeigt einmal mehr, dass Musiktheater fähig ist, gesellschaftlichen Problemen Raum zu geben. Das ist bekanntermaßen wichtig für Lösungsstrategien. Die Traumatisierten wünschen sich doch nichts sehnlicher, als wieder normal am Leben teilnehmen zu können. Und jede oder jeder wird ein verräterisches Muster in sich selbst wiedererkannt haben. Mit grandiosen Musik und einer ebensolchen Inszenierung ist nicht nur Sensibilisierung möglich, sondern – nicht zu vergessen – auch Genuss. Das Publikum applaudierte begeistert mit stehenden Ovationen, dankbar für diese Lektion. Wer kann, sollte diese Produktion erleben. Der Bahnhof ist nur drei Minuten Straßenbahn vom Musiktheater entfernt.

Weitere Termine
29. Dezember 2024, 18 Uhr, 11. Januar 2025 19 Uhr, 16. Februar 18 Uhr, 20. März 19:30 Uhr. Weitere Infos hier

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