Was haben Peter Maxwell Davies und Henry Purcell eigentlich gemein? Richtig, sie waren Briten. Und „The Lighthouse“ (1980) und „Dido and Aeneas“ (1689) dauern um eine Stunde. So unterschiedlich die Musik, Avantgarde das eine und Barock das andere, sie lassen sich kombinieren, wie die Oper am Rhein in Duisburg gezeigt hat. Das rätselhafte Verschwinden dreier Leuchtturmwärter und die unglückliche Liebe zwischen der karthagischen Königin und dem Troja-Krieger fügten sich sogar zu einem spannenden Mystery-and-Fantasy-Doppel-Erlebnis. (Von Sabine Weber)
(7. Februar 2025, Theater am Rhein, Duisburg) Regisseur Haitham Assem Tantawy beschwor die mysteriöse Bestie mittels tanzender Tarot-Karten. Er gibt als ehemaliger Spielleiter und Regieassistent an der Oper am Rhein in Duisburg im ersten Teil des Abends sogar sein Regiedebüt. Bisher ebenfalls Regieassistentin und Abendspielleiterin, übernimmt Julia Langeder die zweite Hälfte in Eigenregie. Als Regisseurin transformierte sie den antiken Mythos in ein Computerspiel. Beides funktionierte auf unterschiedliche Art und Weise.
Arcana-Karten
Erstmal lässt Tantawy seiner Fantasie über das mysteriöse Verschwinden dreier Leuchtturmwärter auf einer einsamen Orkney-Insel freien Lauf. Motive von Tarotkarten werden im Libretto erwähnt. Und so werden der Teufel, der Narr und der König der Schwerter und weitere wie der Gehängte nicht nur als Karten an Seilen auf der Bühne heruntergelassen. Der vom Blitz getroffene, zerberstende Turm, die 16. der sogenannten großen Arcana-Karten, liefert im zweiten Teil der Kammeroper die Idee zu einer fantastisch-dystopischen Ruine aus zerborstenen Leuchtturmteilen. (Bühne und Kostüme: Matthias Kronfuß). Der Nebel ist typisch britisch. Und das Leuchtmittel im Leuchtturm, ein goldschimmernder Vielflächen-Rhombus, rückt mehrfach filmisch ins Bildzentrum.
Auswüchse des Wahnsinns
Tantawy versucht, dem Ungeheuerlichen assoziative Bilder zu geben und alles in Bewegung zu bringen. Drei Tänzer, wie javanische Tempeltänzer in Glitzerröckchen und bauchfreiem Oberteil, schwirren also beweglich und mit dem Yoga abgeschauten Bewegungsabläufen um die drei Seemänner herum. Oder sollten ihre Kostüme ägyptisch angehaucht sein? Schließlich sind die Wahrsagerkarten in Ägypten entstanden! Sie räkeln sich auch lustvoll obszön herum (Choreografie: Yoav Bosidan). Wie Fantasie-Geister aus einer anderen Welt umschwirren sie die eingeschlossenen Seemänner. Mit Kronmaske, schwarzen Widderhörnern und mit goldenem Lorbeerkranz sind sie den Schicksals-Karten entsprungen und werden schlussendlich mit Vogelschnabel-Maske und Flügeln auf Stelzen zu Auswüchsen des Wahnsinns. Das hat natürlich nichts mit dem rauen Klima einer britischen Felsenküste im Sturm gemein. Aber die unterschiedlichen Bildwelten subsumieren sich erstaunlicherweise.

Foto: Anna Orthen
Faszinierend ist nämlich, wie Maxwell Davies nicht nur rekonstruiert, was in diesem Leuchtturm möglicherweise passiert sein könnte. Er steuert ziemlich genau auf die Katastrophe des Wahnsinns zu. Das ist sein Thema.
Gut gemacht ist an der Oper am Rhein in Duisburg, dass die Fakten in schwarz-weiß-Bildern von der Insel und dem Leuchtturm mit Textpassagen erklärt werden. Dieses Ereignis hat sich tatsächlich um 1900 ereignet und ist bis auf den heutigen Tag ein ungelöster Fall. Mit einem gehissten Segel geht es in den Opern-Prolog. Bullaugenlichter leuchten grell ins Publikum. Das Segel schwebt wie eine Welle über drei Schiffsoffiziere eines Kontrollschiffs – von dem man nur die Kommandobrücke auf der Bühne sieht. Dass sich die Drehbühne bewegt, und die in diesem Teil reportierenden Seemänner in den blauen Marinemänteln gegen die Bewegung anmarschieren, hat ja auch damit zu tun, dass sie in diesem rätselhaften Fall auf der Stelle treten.
Britische Seemänner
Sami Luttinen, Roman Hoza und Andrian Dwyer, sind die drei Offiziere und später die Leuchtturmwärter. Arthur, mit wild abstehenden grauen Haaren und Rauschebart, Blaze sowie Sandy erinnern an abgeranzte Hafenarbeiter. Sie kreisen im zweiten, viel spannenderen Teil, erst mal gelangweilt durch ihren Alltag zwischen Aufenthaltsraum und Leuchtkammer, bis sich wegen des Sturmes die Vorstellung einer Bestie festsetzt. Die Aufregung steigt, denn die Aufmerksamkeit richtet sich nach außen zu dem unbekannten drohenden Biest.
Selbst ausgedachtes Libretto
Dreh- und Angelpunkt sind drei volkstümliche schottische Songs oder Seemannslieder mit verstimmtem Barpiano oder mit einer das Banjo imitierenden Begleitung, die Davies übrigens ohne Bruch eingearbeitet hat, obwohl die plötzliche und so harmlose Tonalität nach den bis auf den heutigen Tag avantgardistischen gefährlichen Klängen erstaunlich bleibt. In ihren Balladen gestehen sich Blaze und Sandy dann auch noch Mord und Vergewaltigungen ein. Arthur, der schon zuvor mit alttestamentarischen Drohgebärden eines rachsüchtigen Gottes aufgefahren ist, beschwört jetzt in einem Blechbegleiteten Choral die glühenden Augen des Goldenen Kalbes. Das von Anfang an zwischen Realität und Wahn changierende Libretto hat sich Maxwell Davies übrigen selbst ausgedacht. Zum Schluss bläst Arthur in Duisburg noch in eine Shofa. Das Widderhorn ist weniger ein Symbol für das Nebelhorn, von dem die Rede ist, als für die aufziehende Apokalypse.
Instrumentale Gesten und dichter Sprechgesang
Zu keinem Zeitpunkt unterwirft Maxwell Davies die ungemein filigrane Partitur dem Plakativen. Auch wenn zum Schluss die große Trommel das erbarmungslos herannahenden Unglück physisch spürbar macht. Mal mischen sich Crotales, antike Tempelglocken, unter, dann ein Xylophon oder ein witziges Flexaton, das Comic-Geräusche macht. Die Streicher sind einzeln besetzt, und es bleiben vor allem Gesten, die den insgesamt dichten Sprechgesang umwehen.
Ganz zu Recht kommen die Solisten der Duisburger Philharmoniker, aufgefordert von ihrem irischen Dirigenten Killian Farrel, nach dem abrupten Ende ohne Auflösung auf die Bühne. Und sie werden bejubelt. Der Gastdirigent ist übrigens gerade mal 30 Jahre alt!
Von der Avantgarde in den Barock
Nach der Pause switcht Farrel in den Barock. Im Graben hat er jetzt zu dem Streichorchester ein Continuo-Ensemble mit Cembalo, Laute und Theorbe vor sich. Die ersten Töne der Ouvertüre sind etwas irritierend. Aber mit beschwingten Tempi geht es kundig zur Sache. Auch wenn es von Maxwell Davies zu Henry Purcell ein gewaltiger Sprung ist. Aber schnell ist man im Barock-Sound und längst im Bild eines Mädchenzimmers in weißem Schleiflack, wo eine rothaarige Göre sich wegen Liebeskummers schmollend aufs Sofa wirft. Ein Jungenzimmer mit typischem Jungenschreibtischstuhl kommt später von rechts dazu. (Bühne und Video: Natalie Krautkrämer) Da sitzt der langhaarige Nerd mit Käppi und Dickrand-Brille und wirft auch den Computer an. Beide spielen nämlich „Karthago“. Wenn es losgeht, fahren die zwei Zimmer auseinander und öffnen in der Mitte das virtuelle Spiel.

Effekte
Geschickt verbindet Julia Langeder die beiden Ebenen. Spielt mit Details wie banalem Pizza-holen, die vor dem Bildschirm mampft wird. Und wie die Sängerinnen und Sänger mal ins Zimmer, mal ins virtuelle Spiel wechseln ist perfekt gemacht. Anna Harvey singt die Dido mit klarer Stimme, also mal in Schlabberhose mit Turnschuhen, mal mit goldenem Helm plus goldener Gesichtsmaske und Brustpanzer. Im ersten Level des Spiels wird sie von hinten angestrahlt – als schwarze Silhouette pathetisch eindrucksvoll. Ein guter Effekt. Jake Muffet singt mit sehr beweglichem Bariton den schwarz gewandeten Aeneas und kämpft auch einmal völlig durchgeknallt zu einer Purcellschen Tanzmusik mit Schirm auf dem Bett. Morenike Fadayomi, noch gut in Erinnerung als Hulda, sieht aus wie ein Haute-Couture-Modell mit japanisch anmutendem gebogenem Halbmond auf dem Kopf. Sie ist die Unheil-verbreitende Hexe. Auch hier sind die Kostüme wieder sehr anregend und fantasievoll.
Formidabel
Purcells glückliche Jagdszene münzt Langeder zu einem Arena-Kampf um, in dem sich Dido und Aeneas mit gemeinsamem Töten von zweibeinigen Tieren mit Plüschmaske unterhalten. Das ist wohl gewollt makaber. Auch bei Purcell gibt es ein Seemannslied – wie zuvor in Maxwell Davies‘ Leuchtturm. Noch eine Gemeinsamkeit! Und weil die barocke Geste wirklich formidabel gelingt – am Anfang schleppt Anna Harvey etwas, was sich im Laufe verliert, ist die Kombination der beiden Opern wirklich gelungen. Formidabel ist übrigens auch der Chor, von Gerhard Michalski wie immer perfekt einstudiert.
Wie im Sci-Fi Interstellar
Am Ende überschreitet die Zimmer-Dido wie im Sci-Fi Interstellar die dritte Ebene, tastet sich an einer imaginären Scheibe ab und gerät ins Computerspiel. Die Spiel-Dido hat ihre Sterbens-Chaconne „When I am laid“ nämlich hinter sich und ist vom Chor abtransportiert worden. Die Zimmer-Dido rettet sie und hält ihr Schwert in die Höhe.
Wunschtraum und ein tout petit peu banal. Realistischer gewesen wäre, das Spiel von vorn beginnen zu lassen, wie das ja im Computer geht. Aber Logik und Folgerichtigkeit ist an diesem außergewöhnlichen Abend kein Gesetz. Das Unerwartete inspiriert zur Auseinandersetzung. Dazu gibt diese gewagte Programmierung wirklich Gelegenheit. Also ein großartiger Abend!