Edzard Burchards ist seit letztem Jahr künstlerischer Leiter der Rheinischen Kantorei, und er will nach fast 30 Jahren Hermann Max Neuräume erobern. Selbstverständlich aus der der Tradition seines Gründers heraus, zugleich Gründungsleiter des Festivals Alte Musik Knechtsteden. (Siehe Interview klassikfavori) Aus diesem Schatten muss Burchards heraustreten, wenn er sich profilieren will. Geistliche Musik des 20. Jahrhunderts rückt er in den Fokus. Mit Frank Martins selten zu hörendem Oratorium „Golgatha“ entfesselt er in der Knechtstedener Basilika einen überwältigenden Passionsklang. (Von Sabine Weber)
(28.09.2024, Basilika Kloster Knechtsteden) Anders als Olivier Messiaën, der sich gläubig bekennend von den Mysterien der katholischen Kirche in fast naiver Weise inspirieren ließ, arbeitet sich der frankophone Schweizer Frank Martin an der lutherischen Tradition ab. Martin entstammt einer strengen Calvinistischen Pfarrersfamilie aus der Nähe der Calvinstadt Genf. In dieser Passion entfaltet er ein subtiles theologisches Programm. Das lässt sogar autobiografische Deutungen zu. Alle Facetten meisseln die vier Solisten, die Rheinische Kantorei, verstärkt durch den Harvesthuder Kammerchor, einer der drei Hamburger Chöre, die Burchards ebenfalls leitet, unterstützt vom noch jungen norddeutschen ensemble reflektor unter seiner Leitung dynamisch, feinfühlig, klangprächtig bis überwältigend heraus. Wie Martin stehende Klangflächen mittels Mediantik verschiebt, mit Quint-Quarten-Betonung archaische Gewalt entfesselt, tiefe, hohe Instrumente, sowie Pauke, Orgel oder Klavier klangsymbolisch einsetzt und rührt, ohne je Gefälligkeit zuzulassen. Teilweise muss man an dystopische Zukunftsfilmmusik denken. Martin ist ein Erlebnis.
Ecce Homo
Im Mittelpunkt steht drei Mal der Ecce Homo, der Blick auf das unschuldig geopferte Lamm, Sinnbild für Jesus, der beim ersten Mal die Knechtstedener Basilika beben lässt und den ersten Teil im Schockzustand beendet. Auch Gott wird von Martin vorgeführt und muss hinschauen, hat menschlich mitzufühlen, anzuerkennen, was er seinem einzigen Sohn antut. Bei der Schilderung der Passion entsteht der Eindruck eines Vorwurfs, warum muss ein Mensch so etwas auf sich nehmen? Unerträglich muss er das selbst empfunden haben, nimmt man die erschütternd Wucht seiner Klangsprache bei der eigentlichen Passionerzählung beim Wort.
Reverenz zur Bachdynastie
Mit dem gewaltigen dreimaligen Ruf „Pere!“ bereitet er mit Wucht bereits im Eingangschor darauf vor und erinnert an die gewaltigen „Herr“-Rufe der Johannespassion. Damit hat Burchards ein Werk ausgewählt, das eine Reverenz an die Bachdynastie aufzeigt, mit deren nordrhein-westfälischen Nachfahren und der Entdeckung ihrer Musik Hermann Max seine größten Erfolge gefeiert hat. Und da hat Burchards sogar in der Rheinischen Kantorei mitgesungen. Der bittende Ton der Seele mit Sopranistin Anne Nesybas klarem Bachtimbre vermittelt ebenfalls klangliche Bachbezüge. Noch mehr Ingeborg Danz mit ihrer Alt-Arie im zweiten Teil und Bläsergestützen, von der Oboe d‘amore angeführten Tränenkaskaden, die perfekt im staccato tropfen. Bachs „Zähren“! Und ein Pendant zu der Alt-Arie im zweiten Teil der Matthäuspassion.
Ein katholisch-fulminantes Finale
Doch Martin übersteigert die Anteilnahme der gläubigen Seele trotz verhaltenen Tons zur mystischen Liebe hin mit Blicke gen Himmel. Im Finale gönnt sich Martin, der sich übrigens selbst zu diesem Werk beauftragt hat und als einen persönlichen Dialog zwischen ihm und Gott sehen wollte, ein katholisch-fulminantes Finale. Die Todesnacht wird lichthell und strahlt triumphal. Die Liebe und das Licht siegen! Nach dem Konzert strahlt die romanische Basilika aus dem 12. Jahrhundert von außen beleuchtet und begleitet die bewegten Zuhörer durch die Dunkelheit.
Einen Passions-Evangelisten gibt es nicht
Zu den insgesamt 10 Teilen hat Frank Martin übrigens das französische Libretto aus den bekannten Evangeliumsstellen, aber auch aus den Confessiones und Mediationes des mittelalterlichen Kirchenvaters Augustinus ergänzt. Einen Passions-Evangelisten gibt es nicht. Alle vier Solisten teilen sich die Erzählung und Dialoge auf, was spannende Färbungen ergibt und auf den Punkt gelingt. Tenor Richard Resch weiß nicht nur über tosenden Orchesterpassagen sich sogar verhalten klangschön durchzusetzen, sondern hat in seinem großen Tenorsolo einen unbegleiteten fast liturgisch anmutenden Einsatz und teilt sich auch geschmeidig im Duett mit Ingeborg Danz eine Erzählung.
Anklage gegen alle Kriegstreiber
Richard Logiewa Stojanovic, Bariton, gebühren Worte Jesu allerdings allein. Vorbildlich ist seine französische Aussprache. Dazu sein schmeichelndes klangsinnliches Timbre, das die Ruhe eines Vergeistigten verströmt. Er braust aber auch auf, wird geradezu wütend, wenn er die Oberen anklagt, die ein solches Schicksal einem unschuldigen Menschen aufbürden und damit die Menschlichkeit verraten. Die schweren Bündel, die die Befehlshaber schnüren und anderen aufbürden, sind eine deutliche Anklage gegen alle Kriegstreiber.
Burchards hinterlässt eine großartige Visitenkarte
Hier schlägt sich der im Fertigstellungsjahr 1945 beendete Weltkrieg nieder, der in den Turbachören mit heftigen Soldatenstiefeln in der Pauke durchmarschiert. Die Chorpartien sind unfassbar schwer, und werden überwältigend von der Rheinischen Kantorei und dem Harvesthuder Kammerchor im Verbund geliefert. Er psalmodiert, Frauen-, Männerchöre wechseln sich ab, es gibt polyphone Einsätze und es bleibt bis zum letzten Moment sowieso erstaunlich, wie Martin nie abflacht und immer neu seine Vokabeln mischt und variiert. Edzard Burchards lässt Instrumente aufscheinen und leuchten, verpasst keinen Einsatz und hält alles unaufgeregt sachlich zusammen. Er hinterlässt eine großartige Visitenkarte. Der Organist Thomas Dahl ist aus Hamburg angereist, und Organist der dortigen Hauptkirche Sankt Nicolai, wo das Werk just, wo diese Zeilen geschrieben werden, seine zweite Aufführung erlebt.